Reportage

Benzema – und dann? Reals Engpass im Sturmzentrum

Der Kader Reals ist in der Breite wohl so gut besetzt wie selten – bis auf das Sturmzentrum. Eine positionsgetreue Alternative für Karim Benzema existiert nicht, Rafael Benítez bevorzugt die internen Lösungen mit Jesé Rodríguez oder Cristiano Ronaldo. Doch bei genauerer Betrachtung sind beide Spieler auf dem Flügel eigentlich besser aufgehoben, ein wirklicher Plan B neben „Benz“ scheint nicht zu existieren. Dabei wäre er ein Eins-zu-Eins-Ersatz für den Franzosen nicht mal unbedingt nötig, vielmehr verpasst man es, sich noch variantenreicher aufzustellen.

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Karim Benzema ist der einzige nominelle Mittelstürmer im Kader

Alternative Jesé: Das Anforderungsprofil passt nicht

MADRID. Der diesjährige Transfersommer bei Real Madrid war eigentlich atypisch für den spanischen Rekordmeister, aber genau genommen wohl auch einer der besten der letzten Jahre. Die Wechselposse um Keylor Navas und David de Gea mal ausgenommen, wirkte das Agieren der Königlichen auf dem sehr überhitzten Markt extrem intelligent. Durch die Rückholaktion von Carlos Casemiro sowie die überraschende Verpflichtung Mateo Kovačićs gelang es, das letztes Jahr doch reichlich dünn besetzte defensive Mittelfeld sowohl durch eine defensiv- als auch spielstarke Lösung zu ergänzen und so den gesetzten Luka Modric und Toni Kroos mehr Pausen in Aussicht stellen zu können. Bereits im April nahm man zudem Rechtsverteidiger Danilo für die neue Saison unter Vertrag und heizte so den Konkurrenzkampf auf der rechten Abwehrseite nochmals ordentlich an. Mit Kiko Casilla und Lucas Vázquez sowie dem nach Leihende zurückkehrenden Denis Cheryshev sorgte man überdies für die letzte Spielzeit vermisste Breite im Kader. Der kurzfristige Abgang von Linksverteidiger Fábio Coentrão sorgte zwar für einen kleinen Wermutstropfen, mit Álvaro Arbeloa oder Denis Cheryshev und im Notfall auch Danilo oder Carvajal stehen jedoch (ausreichend) mögliche Alternativen für Marcelo bereit.

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Eine Position bereitet allerdings ein wenig Sorgen: Und zwar die des zweiten Stürmers hinter dem gesetzten Karim Benzema. Trainer Rafael Benítez verzichtete bewusst auf einen neuen Ersatzmann, da er insbesondere Jesé Rodríguez oder im Notfall auch Cristiano Ronaldo diese Rolle zutraut. Erstgenannter wusste sich in der Vorbereitung auf der neuen Position durch engagierte Auftritte einige Sporen zu verdienen, beim Auftaktmatch gegen Sporting Gijón (0:0) ging der Canterano jedoch völlig unter und ließ einige Zweifel an der Eignung für diese Position aufkommen. Dass der 22-Jährige aufgrund seiner Fähigkeiten mehr für die Außenbahnen denn für das Sturmzentrum geeignet ist, bewies der Gran Canarier in seinem Einsatz gegen Málaga (0:0), als er in der Position des Flügelstürmers bis zu seiner verletzungsbedingten Auswechslung zu den Besten im Team gehörte. Jesé lebt von seiner Dynamik und raumgreifenden Dribblings. In der Position der zentralen Anspielstation in vorderster Front findet er sich zu oft in Situation mit dem Rücken zum Tor oder unter höchstem Gegnerdruck wieder, wodurch er seiner Stärken beraubt wird und in puncto Ballkontrolle, -verarbeitung und First Touch auch mit Mitspielern der Kategorie Benzema, Isco oder James nicht mithalten kann.

Alternative Ronaldo: Auf den Außen wertvoller

Bei der Personalie Ronaldo ist es eher so, dass der Portugiese auf dem linken Flügel schlichtweg einen größeren Mehrwert für das Team darstellt. Nicht unbedingt aufgrund des Umstandes, dass er dann nach innen ziehen kann, um mit seinem starken rechten Fuß abzuschließen oder weil das Kombinationsspiel auf engstem Raum auch nicht gerade seine Paradedisziplin repräsentiert, sondern schlichtweg, da Ronaldos Spiel ohne Ball, das wohl kein Spieler auf der Welt auf derart hohem Niveau beherrscht, auf den Außen am besten zur Geltung kommt. In den vergangenen Jahren hat der amtierende Weltfußballer sein Verhalten auf dem Feld umgestellt und optimiert, was wohl als Hauptgrund für seine unmenschlichen Statistiken angeführt werden kann. Der Chefscout des DFB, Urs Siegenthaler, machte einst deutlich, dass Ronaldo potentielle Möglichkeiten schon weitaus früher erkenne, als der Rest der Spieler auf dem Feld. Um dies zu verdeutlichen, zog der Schweizer einen anschaulichen Vergleich zum Handball: „Der Handballspieler bei Deutschland gegen Spanien: Der Ball ist bei Spaniens Abschlussversuch noch keinen Meter in der Luft, da läuft der deutsche Flügelspieler schon nach vorn, weil er die Situation erkannt hat. Was macht der Fußballer? Er schaut zuerst: Hält ihn der Torhüter? Geht der Schuss vorbei? Bis er das gesehen hat, kann der Konter aber nicht mehr schnell genug eingeleitet werden.“

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Übertragen auf den Fußball heißt dies: Der 30-Jährige wartet nicht ab, bis des Gegners Angriff komplett zu Ende gespielt ist, sondern antizipiert bereits im Voraus sich anbahnende (Konter-)Möglichkeiten. Siegenthaler dazu: „Jetzt taucht er überall auf, ist sehr oft auch in der Defensive, geht an den eigenen Strafraum zurück – und das macht ihn gefährlich. Alle anderen schauen dem Spiel zu, doch er schleicht sich schon weg, wenn der Flankenball kommt. Sein Gegenspieler denkt in diesem Moment: ‚Er ist ja noch hier.‘ Tatsächlich aber ist Ronaldo hier gewesen. Er zieht jetzt bereits bedingungslos den Sprint nach vorne an. Ich habe unserem Trainerstab gesagt: ‚Wisst ihr, was ihn zum Weltklassestürmer macht? Er erhält nicht jedes Mal den Ball, aber er geht jedes Mal.‘“ 

Als Mittelstürmer könnte der Portugiese aufgrund seiner Abschluss- sowie enormen Kopfballstärke sicherlich bereichernde Elemente für das Angriffsspiel beisteuern. Dadurch, dass er sich jedoch deutlich näher am gegnerischen Tor befinden würde, gehen automatisch Räume verloren, in welche er durch sein überragendes Gefühl für den Raum hineinstarten könnte. Und was besonders bei Spielbeobachtungen im Stadion auffällt: Dadurch, dass der zweifache Champions-League-Sieger in der Regel mindestens gedoppelt wird, verleiht er dem Spiel gegen tiefstehende Gegner entweder Breite oder reist durch diagonales Einlaufen enorme Lücken in den gegnerischen Abwehrverbund, in die insbesondere Marcelo oder auch Benzema vorstoßen und dann in Richtung Tor ziehen.

„Chicharitos“ Abgang hat eine Lücke hinterlassen

Woran es also eher mangelt, ist eine „echte“ Alternative für „Benz“, falls dieser einmal ausfällt oder wie gegen Málaga schlichtweg einen schlechten Tag erwischt. Es geht primär auch nicht darum, einen Konkurrenten im Team zu haben, der – wie von vielen Fans gefordert – Reals Nummer 9 „Feuer unter dem Hintern macht“, sondern eher darum, das Team noch variantenreicher aufzustellen. Dass der Franzose mit zu den besten Fußballern im Team gehört, ist wohl unbestritten. Auch, dass der ehemalige Lyon-Akteur für Ronaldo oder auch Gareth Bale aufgrund seiner spielerischen Fähigkeiten sowie seiner hohen Spielintelligenz den optimalen Partner darstellt, dürften mittlerweile nur noch wenige abstreiten. Was aber passiert, wenn der Stürmer wie eben gegen die Andalusier abgemeldet ist oder gegen tiefstehende und extrem kompakte Mannschaften wie zum Beispiel Atlético nur bedingt zur Geltung kommt und sich die Bälle fast auf Höhe der Mittellinie abholen muss? Genau hier liegt wohl die einzige nennenswerte Schwachstelle im Kader der Blancos.

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Javier Hernández stellte für diese Position wohl die Optimalbesetzung dar, da er einen ziemlich konträren Spielertyp zu Benzema repräsentiert. „Chicharito“ ist geradlinig und vor allem sehr beweglich und quirlig, was gegen tiefstehende Gegner helfen kann, Räume zu öffnen. Gerade deshalb scheint es ein wenig verwunderlich, dass der Mexikaner unter Carlo Ancelotti zu Beginn so wenig Einsatzzeiten erhielt, da er dem Spiel der Königlichen durch sein Beweglichkeit und seinem Zug zum Tor eine neue Komponente hinzufügte. Genau diese Faktoren waren wohl unter anderem auch ausschlaggebend, dass im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League vergangene Saison gegen Atlético (1:0) der einzige Sieg über den Stadtrivalen in der ganzen Kampagne gelang und in dieser einzelnen Partie gefühlt so viele Torchancen heraussprangen wie in allen vorangegangenen Duellen zusammen. „Chicharito“ stellte speziell Diego Godín durch seine Geschicktheit und teils unkonventionellen Laufwege vor große Probleme und erarbeitete sich vor seinem Siegtreffer eine Vielzahl hochkarätiger Gelegenheiten.

Im Duell mit Málaga hätte man sich auf Seite der Merengues solch eine Alternative von der Bank gewünscht. Nicht, weil Benzema nicht die Klasse besäße, um gegen solche Gegner entscheidend zu sein, sondern weil es manches Mal einfach gewisser Impulse von Außen benötigt, um derart festgefahrene Partien doch noch für sich zu entscheiden. Aufgrund der Nicht-EU-Ausländerregelung der spanischen Liga war eine feste Verpflichtung des Mexikaners nicht möglich, eine wirkliche Suche nach Alternativen fand aber wohl nicht statt. Zuletzt sickerte zwar durch, dass Ancelotti, sofern er geblieben wäre, eine Verpflichtung Carlos Baccas in Erwägung gezogen hätte, Benítez bevorzugte allerdings die interne Lösung mit Jesé. In den nächsten Wochen liegt es nun auch am spanischen Chefcoach, zu beweisen, dass diese Entscheidung die richtige gewesen ist.

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von
Yannick Frei

Hauptberuflich im Nachwuchsfußball zuhause. Von den Großmeistern Figo und Zidane verzaubert, bin ich bis heute ein glühender Anhänger des größten Klubs der Welt.

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