
Erst futtern statt anfeuern …
Warum werden die Besucher des Bernabéu eigentlich als Opern-Publikum bezeichnet? Weil sie sich nur bei ganz besonderen Leistungen zu besonders tosendem Applaus hinreißen lassen? Möglich. Aber würden die Besucher einer Oper wirklich ihre besten Tenöre verschmähen? Einen Luciano Pavarotti – würde er noch leben – mit faulem Obst bewerfen oder stilecht die Taschentücher zum Abschied präsentieren? Nein! Bei Real Madrid ist das anders. Denn da wird nicht nur das kaum noch genießbare Essen in Form der beliebten „Pipas“ verzehrt, dort ist auch keiner vor Pfiffen gefeit. Ich bin kein „Pipero“ (Pfeiffer), seit ich fünf Jahre alt bin presst sich die Luft aus meinem Mund durch die Fingerspitzen eher zu analen Geräuschen, und ich bin der Meinung, dass sich Profisportler nicht nur kritisieren lassen, sondern regelmäßig selbst hinterfragen sollten. Statt den Selfie-Knopf zu tätigen, kann ein Blick in die Handy-Frontkamera auch der Selbstreflexion dienen.
… dann pfeifen und meckern …
Nun würde ich mich auch ansonsten als eher kühlen Typen beschreiben, den wenig aus der Ruhe bringt und der sich weder provozieren noch sonst reizen lässt. Aber nach dem Dienstagabend platzt mir dann doch mal wie einem sein Werk verübenden Tenor der Kragen. Das besagte Publikum – welches inzwischen aus vielen Alten der 97.000 Socios (Mitglieder) und jahrelangen Dauerkarteninhaber besteht – widmet sich bei normalen Spielen lieber säckeweise ihren getrockneten Sonnenblumenkernen (ja, unter leidenschaftlicheren Anhängern sind die „Pipas“ längst ein Dinosaurier-Fans repräsentierendes Hasssymbol) – wodurch das Säuberungspersonal nach dem Abpfiff mehr Sorgen hat als der Platzwart – als ihr Team anzufeuern. Hände in die Tüte statt Hände in die Hände … so nicht, Señores! Doch wehe, auch der fünfte Versuch eines Cristiano Ronaldo oder Gareth Bale landet nicht im Tor, schon scheint die sonnige Kernkraft (sage ausgerechnet ich) 50 Jahre jünger zu machen und tausende Fünf-Jährige pfeifen ihr Team aus, wie bei einer Klopperei auf dem Schulhof. ¿Por qué?
[advert]
… und dann den Gegner feiern
Dieses Bild, dieses Geräusch ist man als Madridista inzwischen gewohnt. Ob vom TV aus oder selbst als stimmgeübter Stadionbesucher. Auch das ist Real Madrid. Doch die Schneiderrechnung für meinen reparierten Hemdkragen geht an diejenige, die erst mampfen, dann pfeifen und dann doch applaudieren. Dem Gegner! Legenden soll man Ehren, keine Frage (außer sie flirten mit der Presse oder schaden dem Verein anderweitig nachhaltig), aber nur wenn man seine eigenen Helden auch zu huldigen weiß. Applaus für Francesco Totti ist so romantisch wie er es für Andrea Pirlo war, da hätte ich womöglich auch mit leerem Magen noch „Kernkraft“ für. Aber wer zu faul ist, das eigene Team in nicht gerade sonnigen Zeiten zu unterstützen, dann statt still vor sich hin zu mampfen lieber pfeift und meckert, aber als dritte Stufe der „Fremd-, äh, Fan-Schämung“ für Andrés Iniesta oder Ronaldinho aufsteht, der soll in meinen Augen liegen bleiben. Daheim auf der faulen Haut. Nein, das Bernabéu ist keine Oper. Auf einige „Fans“ betrachtet, ist es der größte Kreisklasse-Dorfacker der Welt. Basta!
So geht’s nicht! Doch es wird genau so weiter gehen …
Doch es gibt noch andere Fans. Die anfeuern und tun. Gut, die einen sind eine junge, ambitionierte und durch den Verein initiierte Fangruppierung, die durch nett gemeinte Choreos, wie das am Dienstagabend präsentierte Asterix-Banner (oder andere, Beispiele eins, zwei, drei und vier) in Fan-Kreisen auf Wolfsburg-Niveau zu überzeugen weiß, doch statt ihnen die Note fünf zu verpassen, bleibt im Zeugnis immerhin ein „sehr bemüht“. Denn auch wenn viele, lautstarke Fans im riesigen Bernabéu verteilt sind, trifft ein „sehr bemüht“ auf den Großteil des vermeintlichen Opern-Publikums längst nicht mehr zu. Ändern wird sich an dieser Situation leider nichts. Nicht, sofern Madrid sein Dauerkartensystem nicht überdenkt. Denn der Effekt der neu geschaffenen und junge Fanclubs-vereinenden (jedoch die Fan-Szene teilenden und die Ultras Sur verbannenden) „Grada de Animación“ (anfangs „Grada joven“) ging bisher eher nach hinten los.
DAS Real-Buch: »111 GRÜNDE, REAL MADRID ZU LIEBEN« – JETZT BESTELLEN!
Community-Beiträge