
Kein Diktator, ein Überzeuger: „Kann nicht autoritär sein“
MADRID. Ein kräftiger Blick in Vergangenheit und Gegenwart – in einer fast schon liebevollen Interview-Prosa mit der FINANCIAL TIMES (für alle der englischen Sprache Mächtigen vor allem im Original lesenswert) wird mit Carlo Ancelotti über die „wichtigste der nicht ganz so wichtigen Sachen der Welt“ gesprochen: Den Fußball und Ancelottis nicht minder beeindruckenderen Anteil an und in diesem Weltsport. In der Vita der 1959 als Bauernsohn geborenen Trainer-Legende lassen sich so einige große Persönlichkeiten wiederfinden: bei Wirtschafts- und Politik-Häuptlingen wie Roman Abramowitsch oder Silvio Berlusconi angefangen. Schon unter dem damaligen Milan-Boss schien es zarte Diktate bei der Aufstellung gegeben zu haben. Es ging nur ums Gewinnen. „Das war der einzige Grund, um zusammen mit Pirlo, Seedorf, Rui Costa, Kaká und Shevchenko zu spielen“ – eine ähnliche Ausgangslage, wie man sie dieser Tage vom pérez’schen Real Madrid kennt? Nicht ganz, immerhin ist „das Ziel, Fußball etwas anders zu spielen, denn die Kultur des Klubs ist es, zu spielen“. Noch nicht ganz: „Spektakulär zu spielen“, weiß der 54-Jährige und fuhr fort: „Die Fans hier sind sehr anspruchsvoll. Sie wollen kein Konterspiel sehen. Sie wollen eine Mannschaft sehen, die die Kontrolle über das Spiel besitzt. Mit Ballbesitz. Wir versuchen, die Geschichte, die Tradition des Klubs zu beachten.“
Ancelotti. Der Anti-Mourinho. Aber nur von Wesen und Philosophie her, man mag sich. Inzwischen. „Wir trafen uns im Kabinentrakt vom San Siro und wir beschlossen einen Pakt: Kein Gezanke mehr, keine Diskussionen mehr. Sechs Wörter, ein Händedruck und binnen zehn Sekunden verstanden wir uns.“ In der Folge bezwang Mourinhos Inter Ancelottis Chelsea (2:1, 24. Februar 2010) und als der Italiener schließlich die Premier League gewann, textete der Portugiese ihm „Champagner!“ Als dieser es ihm mit der Meisterschaft in Italien gleich tat, folgte „Carlettos“ Antwort: „Champagner, aber nicht zu viel!“ Drei Jahre nach dieser SMS-Flatrate-Party löste das eine das andere Silberhaupt beim spanischen Rekordmeister ab. Die „One-Man-Show“ ersetzt durch einen, der genießend witzelt „Ich habe eine Menge Macht. Ich kann um 6 Uhr morgens oder um 23 Uhr nachts trainieren lassen“, rudert aber gleich wieder zurück und behauptet selbst sein Stil sei „es nicht, sich aufzudrängen. Ich möchte die Spieler davon überzeugen, was sie tun. Das braucht Zeit“. Klingt vernünftig, wie auch die Lehren, die Ancelotti aus seiner nicht minder erfolgreichen Spieler-Karriere mitnahm: „Ich hatte Trainer, die sagten: ‚Du musst das machen, weil ich es dir sage!‘ Ich habe das nie verstanden. Ich kann nicht autoritär sein.“ Der Anti-Mourinho.
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„Bale ist bescheiden, Ronaldo sehr professionell“
Allzu lasch lässt es der Mann, der seine Schützlinge vor Partien gerne mal testet und fragt, ob sie die Strategie verstanden haben und bei Bejahung scherzhaft zur Taktik-Wiederholung fordert, jedoch nicht angehen. Es geht ums Führen der Menschen. Top-Spieler führen. Xabi Alonso zum Beispiel, den er zusammen mit Andrea Pirlo, Thiago Motta und Didier Deschamps auf eine Linie der klügsten Fußballer stuft. „Wenn man Top-Spieler leitet, verstehen sie schnell“, sagt er. Auf diesem Weg befindet sich auch Gareth Bale: „Bale hatte nicht viele Probleme, denn er ist ein bescheidener Mann, der nicht viel verlangt. Er will nicht zu viel.“ Trotzdem scheint man noch etwas Geduld mit dem 24-Jährigen haben zu müssen, beispielsweise mit der Sprache: „Er spricht schon etwas Spanisch. Mein Job ist es, dass er sich wohl fühlt auf dem Platz und mit den Kollegen. Wir haben viele Spieler, die Englisch sprechen.“ Wie das Londoner Finanzblatt jedoch zu unterstellen versucht, ist dieser andere Superstar gar nicht so ein bescheidener und handlicher Typ – wie behandelt ein Carlo Ancelotti einen Cristiano Ronaldo? „Ronaldo zu führen ist für mich das gleiche wie Carvajal oder Morata zu führen.“ Besser noch: Laut dem 54-Jährigen bereiten die ganz Großen sogar weniger Sorgen: „Für gewöhnlich sind sie professioneller als die anderen. Und Ronaldo ist sehr professionell.“
„Ich bin nicht der Vater, ich bin nicht der Bruder, ich mag es nicht, das Privatleben der Spieler zu kontrollieren“, vertraut der Fußballlehrer aus Reggiolo den Profis von heute mehr an, wie denen aus den 80ern. Ob Ancelotti jemals einen Spieler hatte, mit dem er nicht arbeiten konnte – oder umgedreht: der mit Ancelotti nicht arbeiten konnte? Ein doppeltes „Nein“ vom Italiener.
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„Fühle keinen großen Druck, weil ich meinen Job liebe“
„Der Trainer hat den besten Job auf der Welt, mit Ausnahme von den Spielen“, witzelt der italienische Heilsbringer, der endlich „la Décima“ an die Concha Espina holen soll, nachdem man nun elf Jahre daran scheiterte. Warum klappte es eigentlich noch nicht? „Ich weiß nicht. Das ist eine Frage, die sich der Klub auch selbst stellt. In den zehn Jahren haben sie es nicht mal ins Finale geschafft. Das ist etwas komisch. Aber sie spielten zuletzt drei Halbfinals in Folge. Das ist nicht schlecht!“ Muss man natürlich auch erst mal hinkriegen – nichts für Grünschnäbel, die dem Druck im Madridismo nicht standhalten. Wie soll Trainer-Haudegen Carlo das gelingen? „Weil ich weltweite Erfahrung habe. Ich bin nicht so entmutigt, wenn das Ergebnis nicht so gut ist. Und ich bin nicht so froh, wenn das Ergebnis gut ist. Ich fühle keinen großen Druck auf meinen Schultern, weil ich meinen Job liebe. Druck auf einen Trainer ist nichts Ungewöhnliches.“ Aber was ist in Madrid schon gewöhnlich.
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