Kommentar

Real Madrid unter Pérez: Der Weltklub ohne sportlichen Plan

Real Madrid verliert nach der spanischen Meisterschaft auch seine Ehre. Die 0:1-Pleite im Stadtderby gegen Atlético hat unterstrichen: Bei den Königlichen liegen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie lange nicht mehr. Ein Kommentar von REAL TOTAL-Redakteur Kerry Hau.

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Real Madrid
Fernando Torres und Atlético Madrid haben ihr drittes Liga-Spiel in Folge im Bernabéu gewonnen

Erst das 0:4 gegen Barça, jetzt das 0:1 gegen Atlético.

Spätestens nach der Schmach im Derby muss ich leider konstatieren: Die im letzten Mai von mir angekündigte Selbstzerstörung hat sich endgültig bewahrheitet. Real Madrid ist auf nationaler Ebene zu einer Lachnummer verkommen und braucht neben einer enormen Leistungssteigerung auch eine Menge Glück, um so etwas wie einen Hauch von einer Chance auf den Champions-League-Titel zu haben.

Verein hat Ancelotti-Abgang nicht verdaut

Man musste kein Wahrsager sein, um zu prognostizieren, dass der spanische Rekordmeister nach dem unfreiwilligen Abschied des beliebten Carlo Ancelotti im vergangenen Sommer Probleme bekommen würde. Die Spieler befürchteten es, die Fans befürchteten es – eigentlich alle außer der vom Größenwahn benebelte Präsident Florentino Pérez, dem vier Titel binnen zwölf Monaten nicht genug waren.

Kein Wunder, dass die Rufe nach einem Rücktritt des eigenmächtigen Bauunternehmers am Samstag so laut durch das Estadio Santiago Bernabéu hallten wie nie zuvor. Die dritte Liga-Heimpleite gegen Atlético in Folge war die Offenbarung des Scheiterns von Pérez.

Pérez und Sánchez: Die geballte sportliche Inkompetenz

Der Madridismo will sich nicht länger mit dem ersten Platz der Forbes-Rangliste rühmen, sondern zur Abwechslung auch mal wieder die Spitze der Primera División erklimmen. Dass Real nach der Saison nur eine Meisterschaft in acht Jahren zu Buche stehen wird, ist eine Farce und zeugt von sportlicher Inkompetenz – vor allem wenn man die jährlichen Ausgaben von Spielerverpflichtungen und Gehältern berücksichtigt.

Pérez und sein verlängerter Arm namens José Ángel Sánchez haben aus sportlicher Sicht zuletzt alles falsch gemacht, was man falsch machen kann.

Zu viele Selbstdarsteller, zu wenig Leader

Neben Ancelotti wurden Legenden wie Iker Casillas, Leistungsträger wie Ángel Di María oder Talente wie Álvaro Morata in den letzten Jahren vergrault und ein Team zusammengestellt, das vielmehr aus Selbstdarstellern als aus Spielern besteht, die sich des Wappens auf ihrer Brust bewusst sind. Spieler, die sich mehr mit dem Schießen von Selfies für ihre Instagram-Accounts oder mit dem Aufnehmen von Werbespots beschäftigen als mit der Situation ihres Arbeitgebers.

Casillas mag zwar nicht mehr der Weltklasse-Torhüter wie vor fünf Jahren gewesen sein, hätte in einer Situation wie dieser aber mal auf den Putz gehauen. Man sollte vielleicht ernsthaft darüber nachdenken, Guti als eine Art Matthias Sammer zu installieren. Wie kann es sein, dass ein ehemaliger Profi dem gehässigen Gerard Piqué antworten muss und die aktuellen nur leere Standard-Parolen von sich geben anstatt „Cojones“ zu zeigen?

Marketing steht an erster Stelle

Pérez ließ bei seiner Kader-Zusammenstellung einmal mehr außer Acht, dass große Namen allein keinen Erfolg garantieren. Javier „Chicharito“ Hernández weinte vor Freude, als er Real mit seinem Tor im letzten Champions-League-Viertelfinale gegen Atlético in die nächste Runde beförderte, stellte aus Marketingsicht aber keine Verstärkung für das Starensemble der Königlichen dar. Deshalb stürmt er jetzt für Bayer Leverkusen – und Real hat keinen adäquaten Ersatz für Karim Benzema, der in dieser Saison schon mehrfach mit Verletzungen zu kämpfen hatte.

Pérez
Seit Pérez’ Rückkehr im Sommer 2009 gewann Real sieben Trophäen – Barça 21

So etwas kostet im Titelkampf natürlich auch Punkte – genauso wie die waghalsige Idee, mit einem etatmäßigen Linksverteidiger ein Spieljahr zu bestreiten. Das gibt’s nur in der Kreisliga – oder eben im Abenteuerland von Pérez, in dem offensichtlich nicht einmal ein professionelles Ärzteteam Platz findet. Wie viele Muskelverletzungen hatte Real seit der Ernennung von Dr. Jesús Olmo zum Oberarzt im Jahr 2014? Ich habe aufgehört zu zählen. Barças Muskelverletzungen in diesem Zeitraum kann man dagegen fast an einer Hand abzählen.

Zidane kann die Wende schaffen – mit Zeit und Vertrauen

Da sind auch keine magischen Kniffe von Zinédine Zidane zu erwarten. Jedenfalls nicht von jetzt auf gleich. Wer auf dem Platz Harry Potter war, ist es nicht automatisch auch an der Seitenlinie. Als Trainer ist man bei Real ohnehin am Ärmsten dran. Vielmehr passt das Wort Marionette besser als Trainer. Der Übungsleiter muss sich in erster Linie den Transferplänen der Direktive beugen.

Ich hoffe inständig, dass Pérez nach Saisonende nichts Verrücktes macht und an Zidane festhält. Der Franzose verdient eine ehrliche Chance, zumal er im Gegensatz zu Rafael Benítez einen Großteil des Teams an seiner Seite weiß und sich im Verein auskennt. Er möge den Kader in der Sommerpause bitte nach seinen Belieben verändern und ihm eine neue Mentalität einhauchen. Bis dahin kann er, zumindest in der Liga, herumtüfteln und den einen oder anderen Nachwuchskicker wie Borja Mayoral ans Team heranführen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Real braucht auf und neben dem Platz endlich wieder eine sportliche Identität, einen sportlichen Plan. Mit Zidane wäre dieser Neuanfang möglich. Eine Ruine wieder in ein prachtvolles Schloss zu verwandeln, benötigt allerdings Zeit. Die Fans werden viel Geduld aufbringen müssen – vor allem aber der Präsident…

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