Interview

Vor „Derby auf Augenhöhe“: Atlético-Experte im Interview

Die Fußballwelt blickt mal wieder auf die Fußballhauptstadt Madrid – das erste Derby der Saison steht auf dem Programm! REAL TOTAL sprach mit André Kahle, dem Häuptling des größten Atlético-Fanklubs außerhalb Spaniens, dessen Spannung sich angesichts 16 Derbys in den letzten drei Saisons jedoch in Grenzen hält. Weitere Themen: das vergangene Champions-League-Finale, Coach Diego Simeone, Kader und Ziele Atléticos sowie die Transfersperre.

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Samstag treffen die zwei Vereinslegenden ein drittes Mal aufeinander – Foto: Denis Doyle/Getty Images

Stolz auf Augenhöhe: „Real gewann CL auch mit Glück“

Das letzte Mal, als ich André Kahle sah, war vor genau 173 Tagen. In Mailand. Am Tag nach dem Champions-League-Finale. „Der Fußballgott ist im San Siro gestorben, sogar der Himmel weint“, knurrte er damals unter italienischem Gewitter, dennoch empfingen er und seine Fanklub-Freunde mich herzlich, gratulierten sogar irgendwie. Nun hat Real Madrid innerhalb von drei Jahren zwei Mal dem Stadtrivalen den größten Erfolg seiner Vereinsgeschichte verwehrt – wie soll da die Vorfreude auf ein neues, das erste Derby der Saison ausfallen? „Auf das Mailand-Spiel kann ich natürlich verzichten, aber in der Liga trifft man nunmal zwei Mal auf jeden Gegner, auch Real“, verriet Kahle im Telefonat. Angst ist das nicht, eher eine Form von Übersättigung – 16 Derbys in den letzten drei Saisons. Noch Fragen? Spannung sieht der Hannoveraner eher, weil es offiziell das letzte Derby im Estadio Vicente Calderón sein soll. Dass 2017/18 schon in Atléticos neuem Stadion, das sich im Umbau befindende und einst als Olympiastadion gedachte „Peineta“, gespielt wird, glaubt Kahle zwar „wie das in Spanien so ist“ noch nicht so recht, doch verkaufe der Klub bereits 25.000 Dauerkarten für die Arena im Osten der Hauptstadt.

Von den letzten sechs Liga-Duellen konnten die Blancos nicht eines für sich entscheiden – „Atléti“ gewann sogar vier! Anders die Bilanz in der Königsklasse (drei der letzten vier Duelle gingen an die Merengues). Sind die Königlichen da schwieriger zu schlagen als im Liga-Alltag? „In der Champions League geht’s nunmal um alles und ich bin überzeugt, dass Ramos Atléticos Schicksal dieser Dekade ist“, schmunzelt er. „Aber Real Madrid gewann beide Endspiele auch mit einer großen Portion Glück, dementsprechend waren es Spiele auf Augenhöhe. Klar hätten wir gerne gewonnen, aber mit Real auf Augenhöhe zu sein, und zwar seit vier, fünf Jahren ohne dass Real zu Atlético fährt und die Frage ist, wie hoch der Sieg ausfällt, sondern dass man auch mit einem Remis zufrieden sein muss – was Klub und Simeone da geschafft haben, ringt mir höchsten Respekt ab und mehr kann man nicht erwarten gegen Real oder Barcelona. Atlético macht seine Sache da aktuell sehr gut, aber wir können nicht jedes Jahr Meister oder Pokalsieger werden oder ins CL-Finale einziehen, dafür sind andere Mannschaften in Spanien zuständig.“

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„Atlético gehört zu Top-Fünf Europas, wie Real und Barça auch“

Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Wie lautet denn inzwischen der Fokus beim „Arbeiterklub“ aus Madrids Süden? Nach immer Höherem streben, wie dem Triple? Kahles klare Ansage: „Wenn Atlético-Präsident Cerezo vor der Saison sagt, es sei der stärkste Kader in der Geschichte, dann baut er damit Druck auf und schürt eine Erwartung. Damit hat er nicht Unrecht – es ist ja auch womöglich der spielerisch beste Atlético-Kader aller Zeiten. Wir haben Weltstars, was es lange nicht gab, aber der Fokus hat sich am Ende nie geändert: Platz drei oder vier muss für die Champions League her, denn die garantiert Stars und Gelder, und darum geht’s! Wenn dann noch alles passt und du Erfolg hast und du so eine weltklasse Serie spielst, kann man auch mal Titel abräumen oder im Finale darum spielen. Aber mehr ist für Atlético nicht drin.“ Klingt tief stapelnd, war es aber nicht gemeint: „Machen wir uns nichts vor: Atlético gehört zu den fünf besten Mannschaften Europas, und darunter sind noch zwei andere aus Spanien. Man stelle sich mal vor, Atlético würde in einem anderen Land spielen, dann würde das nochmal anders aussehen.“

Dementsprechend konnte sich Kahle dann doch noch Vorfreude auf das Derby abringen „weil wir eben auf Augenhöhe sind, und nicht mehr der kleine, dusselige Bruder, der eh auf den Sack kriegt.“ Doch wie lange hält sich diese „goldene Generation“? Angefangen bei Coach Diego Simeone, bei dem sich Kahle sicher ist: „Hätte Atlético das CL-Finale gewonnen, wäre Simeone weg gewesen, und mit ihm viele, viele Spieler.“ Böse hätte man dem Argentinier da nicht sein können, immerhin musste sich auch ein Jürgen Klopp am Ende seiner BVB-Ära Fragen gefallen lassen, die sein Denkmal etwas beschmutzten. Dennoch findet der Atlético-Experte auch: „Nichts ist für die Ewigkeit, Reisende soll man nie aufhalten. Warum auch immer er meint, zu wechseln, was völlig legitim wäre, dann geht er halt. Sauer? Nein, er hat fast eine Dekade bei Atlético geprägt, man ist so erfolgreich wie nie zuvor und hat die besten Aussichten, das auch in Zukunft zu sein. Sein Name war vorher schon in der Klub-Geschichte in Stein gemeißelt. Er ist noch jung, vielleicht will er ja auch noch was Anderes erreichen, vielleicht sogar mit Argentinien?“ Interessante These, nach der es romantisch wurde: „Ich bin Fan von Atlético Madrid. Nicht eines Spielers oder Trainers. Für mich ist egal, wer die Tore schießt oder verteidigt, wenn ich mich mit diesen identifizieren kann und die sich Atléticos Werten unterordnen können – darum geht’s für mich!“

Kahle verteidigt Real: „Geht eben nicht so wie bei Atlético“

Zum Spielermaterial: Während Real fast nur noch Verträge über 2020 hinaus hat, gibt’s beim Stadtrivalen nicht nur viele kurze Verträge, sondern auch einige Haudegen über 30. Kahle erneut zur Zukunft: „Klar: Umbruch muss kommen! Atlético hat die große Chance, diesen Umbruch nicht aufgrund finanzieller Zwänge zu machen. Das war die letzten Jahre anders, als man jedes Jahr Spieler verkaufen musste, um Schulden zu begleichen und den Verein am Leben zu halten. Das ist nun nicht mehr der Fall: Man kann hohe Transfersummen stemmen, um gute Spieler zu holen, nicht auf dem Niveau von Barcelona und Real, aber einen Gameiro muss man zum Beispiel auch erstmal kriegen. Ja, viele sind an einem Punkt, wo sie vom Alter her spielerisch nicht mehr die größten Optionen haben, aber da kommen viele junge Spieler nach, wie Saúl, Koke oder Griezmann. Das Gerüst steht und macht Mut.“

Zudem freut ihn auch, und das kennt man vom spanischen Rekordmeister nicht wirklich, „dass viele Spieler den Weg zurück gefunden haben. Die Identifikation spürt man in dieser Mannschaft: Gabi kam zurück, er wollte schon in der Kindheit für Atlético spielen, und auch ein Torres ist zurück.“ Von solchen Herzstreicheleien ist man bei Real weit weg, ob Raúl, Casillas, Arbeloa oder sogar Hierro, Butragueño oder Di Stéfano – Karriereenden oder gar Rückkehren als Spieler? Quasi undenkbar. „Das kann Real Madrid auch nicht. Real kann keinen Jugendspieler ausbilden und ewig an den Verein binden. Man muss fertige Spieler auf dem Niveau kaufen, statt eine Mannschaft aufzubauen und dabei zwei, drei titellose Jahre in Gefahr zu nehmen“, verteidigte Kahle irgendwie auch den großen Nachbarn in Hinblick darauf, wie die Geschäfte heutzutage laufen: „Das ist Fußballromantik, wenn sowas mal funktioniert wie bei Barcelona, schön, aber in den meisten Fällen funktioniert’s eben nicht und ein Ronaldo verkauft seine Trikots auch ohne in der Jugend für Madrid gekickt zu haben.“

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Transfersperre? „Atlético ist Nutznießer in Reals Schatten“

Doch trotz der unterschiedlichen Kadersituationen bleibt der Chef der „Peña Atlética Centuria Germana“, so heißt der seit 2001 bestehende Fanklub, zuversichtlich mit Blick auf die kommenden Jahre. Daran kann auch die Transfersperre nichts ändern. Zwar hat das internationale Sportgerichtshof noch kein finales Urteil gefällt, und zu den Gerüchten, Atlético habe wenigstens einer Transfersperre im Winter zugestimmt, meint Kahle auch nur lächelnd: „Wen soll man denn im Winter holen? Und auf welcher Position? Wir hätten wahrscheinlich so oder so keinen gekauft.“

Zwar wolle er die Strafe „hinnehmen, wie sie kommt“, doch macht ihm auch Mut, dass die Königlichen mit im Boot sitzen: „Fußball ist, was das angeht, verlogen und dreckig. Würde es nur Atlético treffen, würde vermutlich die schwerstmögliche Strafe ausgesprochen. Aber da ich nicht glaube, dass Real mit einer schweren Strafe belegt wird, glaube ich, dass Atlético im Schatten von Real Madrid da sauber raus kommt.“


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„Galácticos? Gentlemen! Vor vier Jahren hätt’ ich mich geschämt“

Samstag kommt es also, mehr oder weniger, endlich zum großen Spiel: der Vierte empfängt den Ersten (TABELLE). Real Madrid ist aktuell Spitzenreiter, weil „sie Punkte holten und den unterm Strich ökonomischsten und erfolgreichsten Fußball spielen.“ Nicht immer schön, aber meist effektiv, so lässt sich wohl tatsächlich die bisherige Saison der Zidane-Truppe zusammenfassen.

Wer seit 2001 die „Indios“ aus einer 120-köpfigen Peña heraus verfolgt, hat schon einiges miterlebt. Von der Rückkehr in die erste Liga über viele Klatschen durch den großen Stadtnachbarn, aber auch bis zu einigen Titelerfolgen. Das Derby, an welches sich der Fanklub-Häuptling am liebsten erinnert? „Das Pokalfinale 2013! Nach so vielen Jahren mal wieder gegen Real zu gewinnen, im Bernabéu, mit einem Titelerfolg, das toppt natürlich alles! Vom Derby-Gefühl her wäre das nicht mal durch einen Erfolg im CL-Finale zu toppen gewesen. Denn was gab’s von 2001 bis 2013 schon groß für Highlights?“ An positiven Derby-Erinnerungen sieht er es eher noch an, Augenzeuge einer großen Generation gewesen sein: „Ich habe die Galaktischen spielen sehen: Zidane, Beckham, Ronaldo, Raúl und und und. Das waren sowohl Legenden von Real als auch des Fußballs, selbst ein Casillas, der gegen Atlético unmögliche Bälle hielt, aber dem konnte man nicht böse sein. Das waren auch Identifikationsfiguren für den Verein, Gentlemen, außer vielleicht Roberto Carlos oder Guti, aber auch solche brauchte man. Aber die Mannschaft vor drei, vier Jahren… Pepe, der alte Ramos… da hätte ich mich geschämt“, kritisiert er speziell die Zeit unter Mourinho. „Geerdet, ohne Skandäle“, kommt ihm die heutige Truppe dagegen her: „Blass im positiven Sinne, sehr sachlich.“ Da habe der Stadtrivale auch die „böse Rolle“ getauscht mit Barcelona, wo in den letzten Monaten auch andere Schlagzeilen geschrieben wurden.

Weil André Kahle dann noch unbedingt, wie so üblich wenn ihn jemand um ein Interview bittet, einen Spieltipp abgeben wollte („5:0 für Atlético“, „höhö’te“ er), ging das Telefonat auch mit einem großen Schmunzeln zu Ende. Nicht, dass es vorher respektlos ablief, ganz im Gegenteil, aber auch das zeigt, dass die Pommesfrage in Spaniens Hauptstadt (Rot-Weiß oder nur Weiß?) inzwischen auf Augenhöhe gestellt werden kann. Das 179. „Derbi Madrileño“? Alles kann passieren! Samstag wird man sehen!

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von
Nils Kern

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