Reportage

Problemzone Mittelsturm: Der Ronaldo-Komplex

Was sich gegen Valencia bereits andeutete, fand gegen Levante seine Fortsetzung: Ohne Cristiano Ronaldo mangelt es dem Angriffsspiel Reals an Durchschlagskraft und Torgefahr. Dass dem so ist, hat sowohl taktische als auch personelle Gründe. Eine Analyse der Madrider Mittelsturmproblematik.

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Cristiano Ronaldo Real Madrid
Cristiano Ronaldo wird bei Real aktuell schmerzlich vermisst – Foto: Dimitar Dilkoff/AFP/Getty Images

Ohne Ronaldo fehlt die Durchschlagskraft

MADRID. 2:2 gegen Valencia, 1:1 gegen Levante – die vergangenen zwei Spieltage verliefen für Real Madrid alles andere als nach Plan. Nachdem man mit den Superpokal-Triumphen über Manchester United (2:1) und über Barcelona (3:1 und 2:0) sowie dem souveränen 3:0-Auftaktsieg bei Deportivo La Coruña so erfolgreich in die neue Spielzeit gestartet war, rennt man nach drei „Jornadas“ bereits einem vier Punkte Rückstand auf Tabellenführer Barcelona hinterher. Konnte man das Remis gegen Valencia dabei aufgrund der exorbitant hohen Anzahl an vergebenen Hochkarätern, insbesondere in Person von Karim Benzema, noch unter dem Motto „unglücklich gelaufen“ einordnen, verlief das Unentschieden gegen Levante auch aus spielerischer Sicht höchst enttäuschend.

Vor allem aber trat ein Problem in aller Deutlichkeit zu Tage, was sich in den Begegnungen zuvor – den guten Ergebnissen und auch überwiegend starken Auftritten zum Trotz – zeitweise bereits angedeutet hatte: Real Madrid gelingt es in Abwesenheit von Cristiano Ronaldo nur bedingt, die letzte Angriffszone beziehungsweise die Sturmzentrale adäquat zu besetzen. Ohne den Portugiesen mangelt es den Königlichen am letzten „Punch“ der Angriffe und vor allem an der nötigen Präsenz im Strafraum respektive einem echten Zielspieler bei Durchbrüchen der Flügelspieler. Oder plakativ ausgedrückt: Steht Ronaldo nicht auf dem Feld, büßen die Königlichen ein Vielfaches an Torgefahr ein. Dass dem so ist, hat sowohl taktische als auch personelle Gründe.

Wechselspiel mit Benzema: Das perfekte Biotop für Ronaldo

Zunächst gilt es an dieser Stelle die Rolle zu betrachten, die der Weltfußballer im System der Blancos ausfüllt. Die Nummer 7 agiert zwar nominell auf dem linken Flügel, realtaktisch ist Madrids bester Torjäger der Geschichte aber größtenteils im Zentrum oder im Strafraum zu finden. Karim Benzema hingegen – auf dem Papier eigentlich der Mittelstürmer – lässt sich immer wieder ins Mittelfeld oder auf die Außen fallen, um seinem Sturmpartner Räume zu öffnen oder die frei gewordenen Zonen zu besetzen. Dieses Wechselspiel haben beide Akteure über die Jahre perfektioniert, eingebettet in die hervorragend aufeinander abgestimmten Abläufe des gesamten Teams hat man Ronaldo auf diese Weise ein Biotop geschaffen, in dem der 32-Jährige perfekt funktioniert – mit Benzema in der Rolle als Hybridspieler als entscheidendes Puzzleteil.

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Selbst wenn der Portugiese einmal eine „Durststrecke“ (was in Anbetracht seiner fantastischen Zahlen in den vergangenen Jahren eigentlich das falsche Wort ist) vor dem gegnerischen Gehäuse durchlebt, ist er trotzdem stets eine zentrale Figur im Angriffsspiel der Madrilenen. Zum einen, weil alleine durch seine Präsenz und Geradlinigkeit die gegnerischen Abwehrreihen beschäftigt, zum anderen, weil er durch sein herausragendes Spiel ohne Ball – was bei all seinen fußballerischen und athletischen Fähigkeiten mit Sicherheit zu seinen größten Stärken zählt – unheimlich viele Räume für seine (nachrückenden) Mitspieler eröffnet.

 

Fällt Ronaldo allerdings aus, macht sich dies in der Statik des königlichen Spiels sofort bemerkbar. Weder Benzema noch Gareth Bale oder Marco Asensio sind Spielertypen, die konsequent diese Räume besetzen, wie es der vierfache Weltfußballer in unnachahmlicher Manier tut. Während Benzema – ganz in seiner prädistinierten Rolle als Ronaldo-Komparse – sich immer wieder ins Spiel einbindet und situative Überzahlsituationen in Mittelfeld und auf dem Flügel herstellt, kommen sowohl Bale als auch Asensio lieber mit Tempo aus der Tiefe. Einen Zielspieler, der konsequent „in der Box“ zu finden ist, und die Räume in der Endzone besetzt, stellen sie jedoch nicht dar. Dies machte sich vor allem gegen Levante bemerkbar, als für die zahlreichen Flanken von Carvajal und Co. schlichtweg kein Abnehmer vorhanden war. Ein durchaus ernsthaftes Problem, schließlich ist die Spielweise unter Zidane durch ein forciertes Flügelspiel gekennzeichnet.

Die Abgänge von Morata und Mariano tun weh

Da mutet es fast schon bizarr an, dass man mit Álvaro Morata (zu Chelsea) und Mariano Díaz (zu Olympique Lyon) in diesem Transfersommer just gleich zwei Spieler ziehen ließ, die diesem Profil eigentlich entsprechen. Beides sind bullige, kopfballstarke und schnelle Stürmer, die sich durch ihre Geradlinigkeit und ihren Zug zum Tor auszeichnen. Eigenschaften, die den Madrilenen aktuell in Abwesenheit ihres Torjägers vom Dienst merklich abgehen – und vergangene Saison möglicherweise die entscheidenden Prozentpunkte auf dem Weg zum ersten Meisterschaftstitel seit fünf Jahren ausmachten. Im sogenannten „B-Team“ glänzte Morata als Sturmführer und füllte die Rolle, welche Ronaldo im „A-Team“ als der zentrale Ziel- und Abschlussspieler inne hatte, hervorragend aus. Als Optionen von der Bank waren sowohl Morata als auch Mariano große Waffen, um Spielen in den letzten Minuten noch die entscheidende Wende zu geben. Nur im Verbund mit der Nummer 7 wollte das Eigengewächs nie so richtig funktionieren, was vermutlich vor allem daran liegt, dass sich beide in ihrem Verhalten im letzten Drittel zu ähnlich sind.

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Unter anderem aus diesem Grund ließ man Morata letztendlich ziehen, hat sich durch die gleichzeitige Abgabe Marianos allerdings im sonst so perfekt zusammengestellten Kader selbst eine Baustelle eröffnet: Weil ein Spielertypus, der ein ähnliches Positions- und Raumprofil wie Ronaldo erfüllt, dem Kader vollständig abgeht. Begründete man den Verzicht, einen teuren Ersatz zu verpflichten und mit Borja Mayoral einen Nachwuchsspieler mit der Rolle als zweiten Stürmer zu betrauen, zunächst noch damit, dass der Portugiese notfalls auch im Zentrum auflaufen könnte, scheint sich nun abzuzeichnen, dass dieses Denken wohl doch ein wenig zu blauäugig war und das Spiel der Blancos ohne seinen Superstar erheblich an Torgefahr einbüßt.

Setzt Zidane auf Mayoral?

In Anbetracht der Qualität des Kaders jetzt jedoch von einer existentiellen Krise auszugehen, wäre freilich zu weit gegriffen, zumal Ronaldo bald auch wieder ins Liga-Geschehen eingreift. Da Europas Fußballer aber mit Sicherheit nicht alle Spiele in dieser Saison bestreiten wird und auch – wie aktuell der Fall – ein Ausfall von Benzema, der als gelernter Stürmer noch am ehesten diese Rolle ausfüllen könnte, immer wieder eintreten kann, muss man sich im Lager der Königlichen um entsprechend taktische Anpassungen bemühen. So könnte man in Spielen ohne Ronaldo beispielsweise das Spiel durch das Zentrum forcieren und den torgefährlichen Asensio näher am Tor platzieren. Hier sind nun vor allem Zidane und sein Trainerteam gefragt.

Möglicherweise präsentiert „Zizou“ dem Madrider Publikum aber auch eine Überraschung und baut Nachwuchsmann Mayoral sukzessive auf. Ob der 1.83 Meter große Stürmer aus Parla dieser Aufgabe gewachsen ist, scheint nach seinem verkorksten Jahr in Wolfsburg mehr als fraglich. Doch Zidane hält große Stücke auf den spanischen U21-Nationalspieler, verhinderte unter anderem sogar einen späten Wechsel des Canteranos. Legt man die Torquote des 20-Jährigen in der Juvenil A sowie der Castilla zugrunde, scheint dieses Vertrauen und die damit begründeten Hoffnungen auch nicht unbegründet. Mayoral genoss in den Jugendmannschaften schon immer einen Ruf als „Killer“ vor dem Tor. Ob das letztlich genügt, um den Ansprüchen bei den Königlichen gerecht zu werden und der Jungstar vielleicht sogar tatsächlich die Antwort auf Reals Problem im Mittelsturm darstellt? Die nächsten Wochen werden Aufschluss geben.

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von
Yannick Frei

Hauptberuflich im Nachwuchsfußball zuhause. Von den Großmeistern Figo und Zidane verzaubert, bin ich bis heute ein glühender Anhänger des größten Klubs der Welt.

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