Historie

Historische Duelle mit Deutschen: Reals Schmach von Hamburg

Für das 25-jährige Jubiläum des Europapokals gab es keinen besseren Final-Ort: Im Estadio Santiago Bernabéu sollte Europas Champion 1979/80 gekrönt werden – und der Klub, der diesen Wettbewerb bis dato geprägt hatte, wie kein anderer, war ganz nah dran. Zum dritten Mal seit Gründung des Wettbewerbs fand das Endspiel in Real Madrids Wohnzimmer statt und die Königlichen wollten zum zweiten Mal nach 1956/57 das Finale im eigenen Stadion bestreiten. Doch der Traum sollte überraschend platzen: Nachdem Levski Sofia, der FC Porto und Celtic Glasgow ausgeschaltet wurden, bekam es der spanische Rekordmeister im Halbfinale mit dem Hamburger SV zu tun. Das „Finale dahoam“ war nur noch einen Schritt entfernt.

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Horst Hrubesch half mit zwei Toren entscheidend bei der überraschenden Hamburger Aufholjagd – Foto: imago images / WEREK

Der HSV? Vom aktuellen Ruf nach blamablen Jahren war 1980 natürlich nichts zu erahnen. Im Gegenteil: Der Hamburger Sportverein galt zu der Zeit neben dem FC Bayern als beste und erfolgreichste deutsche Mannschaft. Die Rothosen holten drei Jahre zuvor den Europapokal der Pokalsieger und wollten nach dem Bundesligatitel 1979 den nächsten Schritt machen und Europas Thron besteigen. Die Mannschaft von Trainer-Legende Branko Zebec war vollgespickt mit Nationalspielern und Stars wie Manfred Kaltz, Felix Magath oder Horst Hrubesch. Den alles überstrahlenden Namen in der Hamburger Mannschaft besaß jedoch ein anderer: Europas amtierender Fußballer des Jahres, Kevin Keegan. Drei Jahre zuvor vom FC Liverpool an die Elbe gewechselt, war der Superstar nicht nur die überragende Figur auf dem Platz – “Mighty Mouse” sang auch und stürmte zu der Zeit die Charts in England und Deutschland.

Königliche Dominanz im Hinspiel

Zu singen oder gar zu feiern gab es für die Deutschen am 9. April 1980 aber nichts. Für die 121.106 Zuschauer dagegen schon, denn die erlebten ein packendes Hinspiel im Estadio Santiago Bernabéu. Die Blancos unter dem jugoslawischen Trainer Vujadin Boškov bestand aus spanischen Nationalspielern wie Vicente del Bosque, José Antonio Camacho, Carlos Santillana oder Juanito, aber auch internationalen Größen wie dem deutschen Nationalspieler Uli Stielike und dem Engländer Laurie Cunningham. Angeführt wurde das Team von Kapitän José “Pirri” Martínez Sánchez, der noch 1966 den bis dato letzten europäischen Titel für Real mitgewann und inzwischen mit 35 Jahren seine letzte Saison als Profi absolvierte. Das Ziel war klar formuliert: Das Finale im eigenen Stadion und die Rückkehr an die europäische Spitze nach 14-jähriger Abstinenz.

Im Hinspiel sah es noch danach aus, als würden Del Bosque (l.) und Stielike (r.) das Finale daheim locker erreichen – Foto: imago images / Sven Simon

Real war von Beginn an die dominante Mannschaft und erspielte sich im ersten Durchgang eine ganze Reihe erstklassiger Tormöglichkeiten. Zwei Tore wurden den Madrilenen wegen vermeintlicher Abseits- respektive Foul-Situationen von Schiedsrichter Vojtěch Christov sogar aberkannt, so stand es zur Pause nur 0:0. Das Bild blieb auch in der zweiten Hälfte unverändert: Die Königlichen drückten mit aller Macht auf den Kasten der Norddeutschen, aber Cunningham, Santillana und Stielike vergaben weiterhin reihenweise Chancen. In der 67. Minute war es dann endlich so weit: Nach einer Flanke von Del Bosque kam Santillana im Fünf-Meter-Raum an den Ball und überwand Rudi Kargus. Der Bann war gebrochen.

Madrid blieb auch nach der Führung am Drücker und so war es in der 80. Minute nach einer tollen Einzelaktion und Vorarbeit durch Stielike wieder Santillana, der aus elf Metern freistehend zum 2:0 einnetzte. Dies war auch das Endergebnis, mit dem die Hamburger noch sehr gut bedient waren. “Wir haben uns von der Kulisse im Bernabéu beeindrucken lassen und spielten fast ängstlich. Am Ende waren wir froh, dass Real nur zwei Tore erzielt hatte.”, berichtet HSV-Legende Dietmar Jakobs auf Nachfrage von REAL TOTAL. Peter Hidiens Urteil: “Wir waren zu ängstlich und haben zu sehr gezittert!”

Die Sternstunde des HSV im Volkspark

Neben dem schlechten Ergebnis in Madrid plagten den HSV auch noch andere Sorgen. Denn am Wochenende vor dem Rückspiel saß der knallharte, aber inzwischen alkoholkranke Trainer Branko Zebec beim Bundesliga-Spiel in Dortmund völlig betrunken auf der Bank und bekam für alle sichtbar nichts vom Spiel mit. “Die Mannschaft bekam das natürlich mit”, so Dietmar Jakobs, “aber den Respekt vor ihm hatten wir trotzdem nicht verloren.”

Große Dominanz im Hinspiel, ein auf mehreren Ebenen angeschlagener Gegner und das große Finale im eigenen Wohnzimmer vor Augen – was sollte da für Real Madrid im Rückspiel noch schiefgehen? Nun, es ging alles schief, was schiefgehen konnte. Aber der Reihe nach.

Am 23. April 1980 war die sonst so kalte und zugige Schüssel im Hamburger Volkspark mit 61.980 Zuschauern bis auf den letzten Platz gefüllt. Natürlich war es der große Name, der Mythos Real Madrid, welcher die Massen ins Stadion bewegte, aber auch der Glaube und die Hoffnung, dass die eigene Mannschaft den Giganten aus der spanischen Hauptstadt doch noch irgendwie ärgern konnte. Es roch nach “Bier und Sieg und nach Sensation”, wie es ein Jahr zuvor im großen Fan-Schlager “Wer ist deutscher Meister? HSV!” von Stefan Hallberg besungen wurde. 

Tatsächlich machten die Rothosen von Beginn an mächtig Druck und jubelten bereits nach zehn Minuten zum ersten Mal. Kaltz verwandelte einen an Keegan verursachten Elfmeter souverän und ließ Real-Keeper García Remón, der später verletzunsgbedingt durch Miguel Ángel ausgewechselt werden musste, keine Chance. Nur sieben Minuten später egalisierte der HSV das Hinspiel-Ergebnis durch Hrubesch – natürlich per Kopf. Als Cunningham nach einem Patzer von HSV-Torwart Kargus in der 30. Minute der 1:2-Anschlusstreffer der Merengues gelang, schien der Höhenflug der Hamburger gestoppt und der Rest angesichts der Auswärtstorregel nur noch Formsache. Doch die Überraschung ging weiter: Im Anschluss überrannte der HSV die Königlichen regelrecht. Kaltz per Distanzschuss (40.) und wieder Hrubesch (45.) per Kopfball brachten das Volksparkstadion zum Kochen und Real Madrid ins Wanken. 4:1 für den HSV – und das schon zur Halbzeit!

Die zweite Hälfte war von großer Spannung geprägt, denn trotz des deutlichen Rückstands brauchten die Königlichen nur ein einziges Tor, um ins Finale einzuziehen. Die Spanier drückten, versuchten alles, ohne jedoch wirklich zwingend zu werden, und der HSV verlegte sich auf Konter. Es dauerte dennoch bis zur allerletzten Spielminute, bis das Spiel endgültig entschieden wurde. Einen der Konter verwandelte Caspar Memering nach Vorarbeit durch Matchwinner Hrubesch zum 5:1 für den Bundesligisten. “Wenn ich daran denke, kriege ich immer noch eine Gänsehaut”, wird der 2012 in der Hamburger Morgenpost zitiert.

Der Traum vom Finale im eigenen Stadion war geplatzt, die bis dato höchste Niederlage des spanischen Vorzeigeklubs im Europapokal der Landesmeister war perfekt.

„Das beste HSV-Spiel aller Zeiten“

Nach dem Abpfiff kannte die Euphorie in Hamburg keine Grenzen. Dietmar Jakobs schwärmt noch heute im Gespräch mit REAL TOTAL: “Die Zuschauer wollten nicht nach Hause, sie blieben noch über eine Stunde im Stadion. So etwas habe ich in Hamburg niemals zuvor und auch nie mehr danach erlebt. Für mich war es das beste HSV-Spiel aller Zeiten.” 

Auch der sonst eher nicht für euphorische Töne bekannte HSV-Manager und ehemalige Real-Star Günter Netzer geriet nach dem Spiel in einem NDR-Interview ins Schwärmen: “Das war das Tollste und Beste, was ich je vom HSV gesehen habe. Ich habe überhaupt noch nie eine Mannschaft gesehen, die so gut war wie der HSV an diesem Abend. Da stimmte aber auch wirklich alles.” Wenige Minuten nach Spielende traf auch ein stolzes Glückwunschtelegramm ein: “Ihr treuer Anhänger, Helmut Schmidt, Bundeskanzler.” 

Hamburg erlebte ein Fußball-, Madrid hingegen sein blaues Wunder. Die Enttäuschung in und um den Klub schien riesig, die Reaktionen der spanischen Medien heftig. EL PAÍS schrieb von einem “großen Debakel für die Generation Camacho/Del Bosque”, während die damalige DIARIO 16 Real mit einem “Papierhaus in einem Orkan” verglich.

Nichtsdestotrotz endete die Saison 1979/80 für Real Madrid versöhnlicher als für den HSV. Die Königlichen wurden zum 20. Mal spanischer Meister – zum dritten Mal in Serie -, während die Hamburger sowohl den sicher geglaubten Bundesligatitel noch an den FC Bayern als auch das Europapokalfinale in Madrid gegen Nottingham Forest mit 0:1 verloren.

Erst drei Jahre später holten die Norddeutschen ihren bisher einzigen Titel in der europäischen Klasse gegen Juventus Turin. Real Madrid hingegen musste noch lange 18 Jahre bis zum siebten Triumph im Jahr 1998 warten. Der „Finale dahoam“-Traum sollte sich hingegen zu einem Fluch entwickeln, so hat Real nicht nur das Finale 1980 und zuvor 1969, sondern auch 2010 im Bernabéu verpasst.

 

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