Interview

„The Good Life“: Roberto Carlos’ emotionale Gedanken

Die Corona-Pause lässt Roberto Carlos „die Wände hochgehen“. Bevor der Kopf der 47-jährigen Real-Legende explodiert, schreibt er alle seine Gedankengänge runter – bei The Players‘ Tribune berichtet er von Erinnerungen an seine größten Momente in Madrid, aber auch wie das Virus die Stadt und Welt verändert hat.

757
Von 1996 bis 2007 spielte Roberto Carlos für Real Madrid – Foto: imago images / ITAR-TASS

Es gibt so ein Bild in meinem Haus von einem besonderen Tag, den ich niemals vergessen werden.

Es stammt aus dem Sommer 1996, als Real Madrid mich gerade von Inter Mailand verpflichtet hat. Vor diesem Tag war ich noch nie in Madrid. Ich war 23 Jahre alt. Als ich am Flughafen ankam, habe ich mich nicht direkt auf Wohnungssuche begeben. Ich ging auch nicht zum Santiago Bernabéu, einem der majestätischsten Stadien Europas.

Nein. Ich ging mit ein paar spanischen Reportern zur Plaza de Cibeles.

Ich hatte nur Bilder der Cibeles gesehen, aber ich wusste, dass es ein besonderer Platz war. Auf der Mitte des Platzes ist ein Brunnen mit einer Marmorstatue der Göttin Kybele. Rundherum sind kolossale Gebäude wie die Bank von Spanien und der Cibeles-Palast. Der Kreisel kann ich in das Herz der Stadt führen, in den Retiro-Park, zum Prado-Museum oder hoch die Castellana, wo man das Bernabéu finden wird. Für jeden in Madrid, Cibeles ist einer der ikonischsten Plätze der Stadt.

Aber für einen Fußballfan hat er noch eine Bedeutung. Cibeles ist wo Real Madrid – und die spanische Nationalmannschaft – seine Titel feiert.

Also war der Weg vom Flughafen zur Cibeles ein bisschen wie wenn man zum ersten Mal in Rio de Janeiro landet und direkt zur Christis-Statue geht. Ich war so aufgeregt. Und in dem Moment hat der Fotograf einen Schnappschuss von mir aufgenommen.

Wenn ich mir das Foto ansehe, erinnert es mich daran, wie verrückt meine Zeit bei Real Madrid begann. Ich habe das Foto noch daheim. Und mein Zuhause ist noch immer in Madrid, wo ich nun für Real Madrid als Leiter für institutionelle Beziehungen arbeite. Aktuell kann ich, wie die meisten Leute, nicht nur Arbeit gehen. Im letzten Monat habe ich mein Haus nur zwei Mal verlassen – beide Male war es, um in den Supermarkt zu gehen. Daheim zu bleiben, lässt mich die Wände hochgehen. Aber aktuell ist es das richtige.

Die zwei Mal, die ich raus ging, habe ich mich umgesehen. Und ich habe meine Stadt kaum wiedererkannt. Jeden normalen Tag in Madrid sieht man Senioren in der Sonne spazieren, Kinder herum rennen, Familien und Freunde an Tischen außerhalb Bars und Restaurants sitzen. Alles was man im Leben wollen kann, kann man in Madrid finden: Sonne, Sport, Kultur, Nachtleben, Essen … vor allem Essen! Es ist eine andere Welt. Und die Leute hier wissen, wie man es genießt. Sie wissen, wie man das gute Leben führt, weist du?

Aber jetzt ist all das weg. Die Straßen sind komplett leer.

Ich habe Madrid noch nie so gesehen.

Mich persönlich hat das Virus nicht getroffen. Meiner Familie und mir geht es gut. Aber ich bin traurig wegen der Familien, wo es Tote gab. Ich kenne ein paar. Wie man in den Nachrichten gesehen hat, hat der Virus das Leben von Lorenzo Sanz genommen, Real Madrids früheren Präsidenten. Er war der Mann, der mich nach Madrid gebracht hat. Er war 76 Jahre alt. Als ich hörte, dass er sich infiziert hatte, betete ich, damit er sich erholt. Aber ich wusste auch, dass er schon eine Weile krank war und am Ende gab der Virus ihm den Rest.

Die Erinnerung an Lorenzo reicht schon, um zu lächeln. Obwohl er der Präsident war, war er auch ein Fan. Er LEBTE für Real Madrid. Er war immer dabei, immer mit uns in der Umkleide. Wenn wir unentschieden spielten oder verloren, ließ er uns. Aber als wir Titel gewannen, war er der erste, der uns umarmte. Wir liebten ihn für seine menschlichen Qualitäten, für seinen Optimismus, für alles, was er für den Madridismo tat. Er war wie ein Vater für uns.

Ich stand täglich mit ihm in Kontakt. Er hat mir immer Ratschläge gegeben. Ich könnte ihn niemals Lorenzo Sanz nennen, auch nicht wenn ich es versuchte. Für mich war er immer Präsident oder Presi.

Ich würde sagen: „Hey Presi, wie geht’s?“

Und dann würde er lächeln und mir eine große Umarmung geben.

Lorenzo war Präsident seit etwas über ein halbes Jahr, als ich nach Madrid kam. Nachdem ich für den Klub unterschrieb, ging alles so schnell, aber ich erinnere mich an mein Debüt, als ich auswärts bei Deportivo La Coruna traf. Ich erinnere mich auch an mein erstes Spiel im Bernabéu vor 80.000 Menschen.

Ich war so: Ähm, was mache ich hier? Was passiert, wenn ich jetzt einen Fehler mache?

Mann, das war furchteinflößend!

Aber es war auch einer der besten Tage meines Lebens.

Nach einer Weile gewöhnte ich mich an den Druck, den Real Madrid mit sich bringt. Aber es gab auch Momente, als selbst die größten Profis unter uns zitterten. So zwei Jahre nach meiner Ankunft sollten wir das Champions-League-Finale gegen Juventus spielen. Wie wir alle wissen, war Real Madrid – und ist es immer noch – der Klub mit den meisten Titeln in diesem Wettbewerb, aber zu dem Zeitpunkt hatten wir den Titel 32 Jahre nicht mehr gewonnen. Wir waren in LaLiga in der Saison gescheitert. Juventus stand zum dritten Mal hintereinander im Finale. Wir gingen nicht als Favoriten in das Spiel.

In der Nacht vor dem Finale konnte keiner von uns schlafen. Normalerweise wären wir um 22 Uhr ins Bett gegangen, aber in der Nacht saßen wir noch um 4 Uhr nachts in der Hotel-Lobby und haben uns Geschichten erzählt. Wir hatten keine Angst, sondern nur viel Respekt vor Juve. Und wir waren aufgeregt auf den Anstoß.

Wir hielten echt gut mit im Finale. Juve hatte viele Chancen, aber wir gewannen 1:0. Wir gewannen das Spiel nicht nur wegen unserer Qualität, sondern wegen unserer Motivation. Wir wollten es mehr als sie.

Danach sind wir zur Plaza de Cibeles. Die Straßen wurden von hunderttausend singenden und feiernden Menschen in weißen Shirts und Schals geflutet. Ich werde diese Nacht nie vergessen.

Wenn ich von meiner ganzen Zeit bei Real Madrid einen Moment auswählen müsste, wäre es dieser Triumph.

Je länger man bei Madrid bleibt, desto mehr erkennt man, was dieser Klub für die Menschen bedeutet – nicht nur in der Stadt, sondern überall in Spanien und rund um die Welt. Egal wo wir spielten, überall waren unsere Fans. Egal ob wir einen Clásico oder ein kleines Copa-Spiel spielten – das Bernabéu würde sich füllen. Die Leute lieben den Klub aus dem gleichen Grund, warum ich dahin wechselte: das Prestige, die Fanbase, die Erfolge in der Champions League. Und die Chance, noch mehr Geschichte zu schreiben.

Ich kann euch sagen, dass die „Galácticos“-Ära Anfang der 2000er nicht nur für Fans denkwürdig war. Es war auch unglaublich ein Teil davon als Spieler zu sein. Man saß in der Umkleidekabine, schaute sich um, und sah den Weltfußballer, Spaniens Fußballer des Jahres, den Top-Scorer in LaLiga, den besten Torhüter der Welt… Davon ein Teil zu sein, war besonders. Manchmal saß ich da und dachte mir: „Denk dran, wo du her kommst und sieh, wo du jetzt bist.“ Es machte mich stolz. Man weiß nie, wo das Leben dich hinführt.

Wir gewannen die Champions League noch zwei weitere Male, 2000 und 2002. Trotzdem ist es schwierig für mich, mich an alle Details zu erinnern. Wenn man für einen Klub wie Madrid spielt, muss man in der Gegenwart leben, weil alles so intensiv ist: die Sprints, die Kopfbälle, die Zweikämpfe, die Trainingseinheiten, die Auswärtsspiele, die Hotels. Die Siege und die Niederlagen.

Erst an dem Tag, als ich aufhörte für Madrid zu spielen, erkannte ich, was ich erreicht hatte.

Mein letztes Spiel für den Klub war am 17. Juni 2007. Wir trafen auf Mallorca im Bernabéu im letzten Spiel der Saison – und wir waren punktgleich mit Barcelona, die gegen Gimnàstic spielten. Wenn wir beide gewinnen würden, würden wir den Titel aufgrund unseres besseren direkten Duells gegen Barca gewinnen. Wir lagen 0:1 zurück, aber in der zweiten Hälfte drehten wir die Partie und gewannen 3:1. Es war ein unglaublicher Sieg.

Aber was ich noch am besten von diesem Tag weiß, ist, wie die Leute mich behandelten. Jeder wusste, dass es mein Abschiedsspiel war. David Beckham verabschiedete sich ebenso. Von dem Moment, als wir vom Hotel zum Stadion fuhren, gaben uns die Leute  so viel Zuneigung. Es fühlte sich an wie ein Geburtstag! Jeder wünschte uns alles Gute, schickte uns Umarmungen und Küsse, sagte Dinge wie „viel Glück“ und „Wir lieben euch“.

„Kommt so schnell wie möglich zurück.“

In dem Moment erkannte ich, was ich für den Klub geschaffen hatte.

In dem Moment erkannte ich, wie sehr mich die Leute liebten.

Roberto Carlos‘ Real-Bilanz: 527 Spiele, 69 Tore, 88 Vorlagen, 13 Titel – Foto: imago images / Ulmer

Es war einer der emotionalsten Tage meines Lebens. Und ich denke auch, dass es zeigt, wie zugeneigt die Leute hier sind, wie leidenschaftlich sie ihre Leben leben.

Einer der Gründe, warum mich das aktuelle Geschehen so traurig macht.

Mit dem gesagt, möchte ich Leute ermutigen, optimistisch zu sein – in Madrid wie überall. Meine Philosophie war immer, Probleme mit einem Lächeln im Gesicht zu lösen. Also behaltet euren Kopf oben und schaut nach vorne. Glaubt an euch. Seid geduldig. Bleibt ruhig. Und versucht anderen zu helfen.

Ein paar positive Dinge hat diese Pandemie bereits. Wir sehen, dass wir alle Menschen mit den gleichen Schwächen sind. Wir erkennen, dass Familie zählt, dass Freunde wichtig sind, dass wir uns alle brauchen. Wir erkennen, dass so etwas einfaches wie ein paar nette Worte durch einen Videoanruf einen großen Unterschied im Leben eines anderen ausmachen können.

Jetzt müssen wir zusammen arbeiten. Durch das daheim bleiben, kämpfen wir zusammen gegen das Virus, damit alles wieder normal werden kann so früh wie möglich. Wie viele auch, vermisse ich Fußball, und ich freue mich auf den Tag, an dem ich mit Real Madrid zur Cibeles mit einem weiteren Titel zurückkehren kann.

Aber aktuell will ich nur die Leute zurück in den Straßen sehen.

Das ist der Erfolg, für den wir alle kämpfen.

DAS Buch für Madridistas: »111 Gründe, Real Madrid zu lieben«!

0.00 avg. rating (0% score) - 0 votes
von
Nils Kern

Du hast Fragen über REAL TOTAL? Da bin ich bin der Richtige: Chefredakteur und erster Ansprechpartner für Medien, Leser, Fans. ¡Hala Madrid!

Verwandte Artikel

„Es ist nie zu spät!“ Pochettino weiß dank Mbappé: Träume werden Real

In seiner jüngsten Gastrolle bei El Chiringuito gewährte Mauricio Pochettino, ehemals Trainer...

Sergio Ramos bot sich Real Madrid an: „Tür immer aufgemacht“

Sergio Ramos habe Real Madrid nach eigener Aussage eine Rückkehr angeboten –...

Carvajal spricht offen: „Wechsel war notwendig“

Daniel Carvajal heißt den Wechsel auf der Trainerbank von Real Madrid gut...

Guardiola: „Bin der Trainer mit den meisten Spielen im Bernabéu“

Real Madrid gegen Manchester City - auch in der Champions-League-Saison 2025/26 soll...