
Defensive Ordnung wie aus dem Lehrbuch
Offensive Variabilität bei Simeone-typischer defensiver Stabilität, ein in der Spitze und Breite hervorragend besetzter Kader sowie eine erstaunlich gute Teamchemie – die Gründe für den erfolgreichen Saisonstart des Club Atlético de Madrid sind vielseitig.
Bei genauerer Betrachtung der bisherigen elf Liga-Partien fällt vor allem die defensive Stabilität ins Auge: Gerade einmal zwei Gegentore in elf Partien (0,18 Gegentore pro Spiel) sind absoluter Liga-Bestwert (gefolgt von Real Sociedad: 0,42 Gegentore pro Spiel). Klammert man den schwachen Auftritt in der Champions League beim zugegebenermaßen zu Saisonbeginn übermächtig wirkenden FC Bayern aus, ist es Atlético-Coach Diego Simeone offensichtlich gelungen, ein gegen den Ball maschinenartig verteidigendes Konstrukt zu schaffen.
Agierten die mittlerweile seit 26 Spieltagen ungeschlagenen „Rojiblancos“ in der Vergangenheit oft im 4-4-2-System (in verschiedenen Variationen), hat Simeone in dieser Spielzeit ein 3-5-2-System etabliert. Das ermöglicht zum einen ein „Atleti“-typisches aggressives Anlaufen, wenn der gegnerische Angriff nach außen gelenkt wird bei gleichzeitiger Überzahl im Abwehrzentrum (oftmals 3:2-Situationen). Auffällig am Defensivverhalten des Tabellenführers ist kurzum die ideale Mischung aus eiserner taktischer Disziplin und kompromisslosem Zweikampfverhalten – in Simeones Konzept wird schlichtweg jede Position besetzt. Jeder Spieler weiß in nahezu allen denkbaren Situationen um seine jeweilige Aufgabe, egal ob er sich situativ beispielsweise als Außenverteidiger oder zentraler Mittelfeldspieler in das Mannschaftskonstrukt einfügt.
Bei Simeones allererstem Liga-Sieg über Barcelona (Atléticos erstem seit 2010) dient eine Szene aus der Nachspielzeit der ersten Halbzeit als Sinnbild für das starke Defensivverhalten der „Colchoneros“ in ihrem neuen System: Mit dem Anspiel auf Dembélé rückt Carrasco heraus, um diesen zu stellen. Gleichzeitig orientiert sich João Félix – wenn auch nicht im höchsten Tempo – direkt zum rückwärtigen Doppeln in Richtung Dembélé. Gemeinsam mit Carrasco gewinnt er schließlich den Ball. Im Zentrum werden Barcelonas zentrale Angreifer klar markiert – es herrscht eine 7:4-Überzahlsituation.

Variable Offensive – herausragender João Félix
Doch hat der Stadtrivale in den vergangenen Jahren vor allem durch seine Defensivqualität überzeugt, ist die Simeone-Elf in diesem Jahr weitaus mehr als nur ein Abwehrbollwerk: So stellt der Tabellenführer mit 21 Toren (2,1 Tore pro Spiel) nach Verfolger Real Sociedad (22 Tore) die beste Offensive der Liga. Besonders auffällig ist im bisherigen Saisonverlauf dabei João Félix: Wirkte der Portugiese in der vergangenen Saison, in der er zumeist auf der Außenbahn eingesetzt worden ist, zumeist verloren (sechs Tore, ein Assist in 27 Spielen), blüht der 21-Jährige in dieser Spielzeit förmlich auf. Mit bereits fünf Toren und drei Assist (in zehn Liga-Einsätzen) auf der Habenseite ist er neben Luis Suárez (fünf Tore, ein Assist in 7 Spielen) gefährlichster Angreifer und scheint dabei enorm davon zu profitieren, als Doppelspitze zu agieren. Immer dann, wenn sein Nebenmann den Ball festmachen und Félix am Boden einsetzt, sodass dieser die gegnerische Verteidigung frontal andribbeln kann, geht die meiste Gefahr vom Griezmann-Nachfolger aus – oder eben in Félix-typischen, blitzschnellen Umschaltaktionen.
Aber auch im Offensivbereich ist Atlético in dieser Spielzeit weit mehr als das Duo Suárez-Félix: So haben mit Ex-Blanco Marcos Llorente (vier Tore), Carrasco (zwei Tore), Correa, Lemar und Costa (jeweils ein Tor) bis auf Vitolo alle weiteren eingesetzten Offensivakteure bereits mindestens einen Liga-Treffer auf dem Konto. Die Breite des Kaders gibt Simeone sowohl offensiv als auch defensiv jede Menge Handlungsoptionen.
Bemerkenswert am Offensivspiel der „Rojiblancos“ ist vor allem, dass sie neben der individuellen Klasse aber in erster Linie über klar erkennbare Angriffsmuster Torgefahr erzeugen. Ebenfalls im Duell mit dem FC Barcelona war beispielsweise gut zu beobachten, dass – wenn etwa Correa sich aus dem tiefen Raum gelöst und den Ball festgemacht hat -, Llorente im Vollsprint in eben jenen Raum gestartet ist. Das heißt – abgesehen von guten Umschaltmomenten – gelingt es Atlético immer dann, Torgefahr zu generieren, wenn sie mit gegenläufigen Bewegungen oder simplen gruppentaktischen Mitteln arbeiten, etwa Hinerlaufen, Doppelpass oder Spiel über den Dritten.

Der Rivale als Vorbild
Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen wird deutlich, dass Atlético mit der kontinuierlichen Neustrukturierung des Kaders in den vergangenen zwei Sommertransferperioden sowie der Modifizierung des taktischen Konzepts einen großen Schritt in Richtung einer erfolgreichen Zukunft getätigt hat. Coach Diego Pablo Simeone gelingt es offensichtlich zudem, den breiten und qualitativ stark besetzten Kader bei Laune zu halten und jedem Spieler das Gefühl zu vermitteln, wichtig zu sein. Das verdeutlichen auch die die letzten Spiele, als Lemar gegen Real Valladolid und Hermoso in Salzburg die Führungstore erzielten. Zum Vergleich auch: Obwohl Atlético ein Spiel weniger in dieser Saison hat, gibt es 15 Spieler mit zehn oder mehr Einsätzen sowie mit mindestens 600 Minuten (bei Real jeweils nur 13).
Mit Blick auf die sportliche und personelle Situation der Königlichen scheint ein ähnlicher Prozess an der Concha Espina ebenfalls alternativlos. Wichtig wird sein, dass es Zidane gelingt, möglichst alle Spieler in dieser Saison so stark wie möglich zu involvieren und ihnen die Möglichkeit gibt, selbst Verantwortung zu übernehmen und in einer recht komplizierten Lage zu wachsen. Zudem müssen Schwachstellen identifiziert und durch gezielte (Sommer-)Transfers behoben werden.
Intensität, Kompaktheit und Bewegung als Schlüssel zum Derby-Sieg
Wollen die Blancos den Rivalen besiegen und das Derbi Madrileño für sich entscheiden, müssen sie mit der gleichen Intensität wie gegen Gladbach agieren. Zudem wird entscheidend sein, dass die Abstände zwischen den Mannschaftsteilen im Defensivverhalten möglichst geringgehalten werden. Zu oft hat der Rekordmeister seinen Gegnern hier zuletzt Einladungen zum Tore-Schießen ausgesprochen – und zu oft Atlético durch dynamische Läufe diese Räume ausgenutzt.
Offensiv müssen die Königlichen zum einen Umschaltmomente erkennen und gezielt ausspielen. Treffen sie auf ein geordnetes Atlético, könnte der Schlüssel zum Erfolg einerseits das mutige Auflösen von Eins-gegen-Eins-Situationen am Flügel sein – denn dann muss die Atlético-Defensive durchschieben und es ergeben sich zwangsläufig Räume. Außerdem sind ein intelligentes Spiel zwischen den Linien und gezielte Tiefenlaufwege vielversprechend. Denn gelingt es einem Gegner, die Hintermannschaft des Tabellenführers vor Zuordnungs- und Entscheidungsprobleme zu stellen, öffnen sich ebenfalls für ein kurzes Zeitfenster Räume, die es entschlossen zu bespielen gilt. Simeone ist nahe dran an der Meisterformel, aber Zidane bewies erst im Februar „Atléticode“ entschlüsselbar ist – damals gab es Reals ersten Derby-Heimsieg in LaLiga seit 2012. Machen die Blancos in ihrem aktuellen „Top-Spiel-Modus“ direkt eine Serie draus?
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