
Königliche Tristesse der 90er Jahre
Obwohl Real Madrid in den 90ern die seit über 20 Jahren andauernde Durststrecke im Europapokal der Landesmeister, den man 1966 zum sechsten und vorerst letzten Mal gewinnen konnte, lange immer noch nicht durchbrechen konnte, blickte der Verein auf ein äußerst erfolgreiches Jahrzehnt zurück. Mit den UEFA-Cup-Siegen 1985 und 1986 konnten die Königlichen wieder Glanzpunkte im internationalen Geschäft setzen, während die legendäre „Quinta del Buitre“ national zwischen 1986 und 1990 fünfmal in Folge die Meisterschaft erobern konnte. In der ersten Hälfte der 90er Jahren verlor Real jedoch sowohl national als auch international an Boden und in Spanien übernahm der Erzrivale, FC Barcelona, die Vorherrschaft: Unter Trainer Johan Cruyff und seinem als „Dream Team“ getauften Kader gelangen den Katalanen gleich vier Meistertitel in Folge. Erst 1994/95 konnte der Bann gebrochen werden, als das von Jorge Valdano trainierte Team die spanische Meisterschaft holte. Die Freude währte nicht lange, denn in der darauf folgenden Saison erreichte der spanische Rekordmeister nur den enttäuschenden sechsten Tabellenplatz und qualifizierte sich damit nicht einmal für den UEFA Cup, während ausgerechnet Stadtrivale Atlético das nationale Double holte.
Tiefpunkt und totaler Umbruch
Im Sommer 1996 schien Spaniens Vorzeigeklub vor einer schwierigen und ungewissen Zukunft zu stehen. Die verpasste Qualifikation für europäische Wettbewerbe – erst zum zweiten Mal überhaupt – war eine historische Zäsur. Gleichzeitig gelang dem Erzrivalen aus Barcelona mit der Verpflichtung des jungen Ronaldo Luís Nazário de Lima, dem kommenden Weltstar, der größte Transfercoup des Sommers. Reals Präsident Lorenzo Sanz war zum Handeln gezwungen – und handelte mit aller Macht. Zunächst wurde mit Fabio Capello einer der seinerzeit erfolgreichsten und gefragtesten Trainer Europas verpflichtet, der mit dem AC Mailand national wie international hochdekoriert war. Dem italienischen Starcoach wurde ein üppiges Transferbudget zur Verfügung gestellt, um einen kompletten Kaderumbau durchzuführen. Während man sich nach der desaströsen Vorsaison von Michael Laudrup, Iván Zamorano, Luis Enrique Martínez, Míchel González und etlichen anderen Altstars trennte, wurden auf einen Schlag Clarence Seedorf (Sampdoria Genua), Christian Panucci (AC Milan) und Roberto Carlos (Inter Mailand) aus der Serie A verpflichtet. Etwas überraschend holten die Blancos kurz vor Schließung des Transfermarkts den deutschen Weltmeister Bodo Illgner als neuen Stammtorwart.
Madrid brauchte einen Helden
Die klangvollsten Namen unter den zahlreichen Neuzugängen waren jedoch zwei Stürmer aus dem dem ehemaligen Jugoslawien, die zuvor jahrelang zu den besten Torjägern der Primera División zählten – Predrag Mijatović und Davor Šuker kamen aus Valencia beziehungsweise Sevilla. Allein die Beiden kosteten zusammen umgerechnet 26 Millionen Euro, also fast die Hälfte der Gesamtausgaben von circa 56 Millionen Euro.
Hatte der FC Barcelona in R9 den designierten Weltfußballer und somit auch mehr Glanz in seinen Reihen, konterten die Königlichen mit einer halben Weltauswahl an Neuzugängen. Spätestens die Ankunft von Mijatović und Šuker stillte auch die Sehnsucht der Fans nach neuen Stars und Helden.
Ronaldo vs. Balkan-Duo
Auf dem Papier sah Capellos Team wie eine Weltauswahl aus. Die genannten Neuzugänge waren von gestandenen Spielern wie Fernando Redondo, Fernando Hierro und Manolo Sanchís umgeben, aber auch der 19-jährige Raúl González Blanco zählte zum Arsenal, mit dem der Angriff auf den nationalen Thron gestartet werden sollte. Und: tatsächlich funktionierte die Mannschaft auf Anhieb. Vor dem ersten Clásico Anfang Dezember 1996 waren die Blancos ungeschlagener Tabellenführer, Barça einen Punkt dahinter.
Während Real bis dato als Team glänzte, wobei alle Neuzugänge von Anfang an führende Rollen einnahmen, lebten die Katalanen vor allem von der individuellen Klasse Ronaldos, der schier unhaltbar und unkontrollierbar für alle Gegner war. Und doch ragte auch bei Real die Doppelspitze Mijatović-Šuker heraus, die bis dato zusammen 20 Treffer markiert hatte. Dementsprechend wurde das Spiel im Vorfeld in den Medien zum großen Duell zwischen den Beiden und dem brasilianischen Superstar hochstilisiert.
Das Spiel im Estadio Santiago Bernabéu hatte nach 90 Minuten klare Antworten auf alle Fragen und eindeutige Gewinner: Die Königlichen gewannen mit 2:0, die Tore erzielten Šuker und Mijatović. Gleichzeitig war der Brasilianer kaum zu sehen und zeigte eines seiner schwächsten Saisonspiele. Capellos Team hatte sich eindrucksvoll zum er(n)sten Titelfavoriten gemausert.
Der Rest der Saison bestätigte den Eindruck, dass Reals Kollektiv überlegen war: Zwar handelte es sich lange um ein enges Titelrennen zwischen den beiden Erzrivalen, doch letztlich konnten sich die Merengues drei Spieltage vor Schluss den Titel rechnerisch sichern, um diesen anschließend im letzten Heimspiel mit einem Sieg gegen Atlético gebührend zu feiern.
Diese Meisterschaft war ein Sieg des Kollektivs über die individuelle Weltklasse. Vereinfacht ausgedrückt: Es war ein Sieg des Sturmduos Mijatović-Šuker über den Einzelkünstler Ronaldo. Dieser spielte zwar in dieser Saison 1996/97 die beste Saison seiner gesamten Karriere mit 34 Toren, Mijatović und Šuker waren aber zusammen mit 38 Treffern noch einen Tick besser.
„La Séptima“
Nach dem eindrucksvollen Comeback der Königlichen auf nationaler Ebene war die langersehnte Rückkehr an die europäische Spitze das nächste große Ziel. Die Mannschaft wurde im Sommer 1997 nur punktuell verändert und verstärkt, allerdings verließ Erfolgstrainer Fabio Capello nach einem Disput mit der Vereinsführung den Verein plötzlich und unerwartet.
Während die Liga-Saison 1997/98 enttäuschend verlief und am Ende nur Platz vier erreicht wurde, schafften es die Blancos in der Champions League tatsächlich ins Finale. Der Beitrag der beiden Real-Stars vom Balkan bis dahin war sehr unterschiedlich. Während Šuker, dessen Stammplatz im Laufe der Saison immer mehr wackelte und Raúl von Jupp Heynckes immer häufiger als zweite Spitze neben Mijatović aufgestellt wurde, steuerte bis zum Endspiel immehin vier Tore bei. Mijatović selbst blieb bis zum Finale torlos.
Es kam, wie es im Grunde kommen musste: Real gewann in der Amsterdam Arena gegen den haushohen Favoriten Juventus mit 1:0 und beendete die inzwischen fast manische Sehnsucht des Madridismo nach dem siebten Triumph in der Königsklasse nach 32 Jahren. Das entscheidende Tor erzielte: Predrag Mijatović.
Helden der Menschlichkeit
Rückblickend wissen wir, dass die spanische Meisterschaft 1997 und der Champions-League-Titel 1998 viel mehr als nur zwei Trophäen waren: Die beiden Titel haben die zweite große Ära der Blancos in Europa eingeleitet. Seitdem sind viele Jahre vergangen und es folgten noch sechs weitere Real-Triumphe in der europäischen Königsklasse, die den Verein in jeder Hinsicht in ganz neue Sphären katapultiert haben.
Die oben beschriebenen Leistungen von Šuker und Mijatović verdeutlichen zumindest im Ansatz, welchen Anteil die beiden Stürmer aus Kroatien und Montenegro an dieser historischen Wende hatten. Den Ballon d’Or 1997 gewann der „außerirdische“ Ronaldo, ein Jahr später wurde Frankreichs WM-Held Zinédine Zidane zum Weltfußballer gekürt. Die jeweils Zweitplatzierten waren Mijatović (1997) und Šuker (1998). Diese Auszeichnungen belegen die damaligen Leistungen der beiden Stürmer der Blancos auch im globalen Kontext.
Neben allen sportlichen Erfolgen und Triumphen stehen der Montenegriner und der Kroate jedoch für viel mehr als nur zwei erfolgreiche Fußballer auf höchstem Niveau: Sie sind fußballerisch zusammen großgeworden im damaligen Jugoslawien. Spätestens der U20-WM-Titel der jugoslawischen Auswahl im Jahr 1987, in der die beiden Real-Helden neben anderen, späteren Größen wie Zvonimir Boban, Slaven Bilić oder Alen Bokšić absolute Leistungsträger waren, machte die beiden Angreifer international bekannt. Die beiden späteren Weltstars waren nicht nur bei jenem Turnier, sondern bei allen früheren und späteren Nationalmannschaftstreffen Zimmernachbarn im Mannschaftshotel und längst Freunde geworden. Doch statt weiteren Titeln in der gemeinsamen Nationalmannschaft wurden „Pedja“ und Davor nur vier Jahre später Nationalspieler zweier Staaten, die einen blutigen und erbitterten Krieg gegeneinander führten. Zwei neue Staaten, die bis zum äußersten verfeindet waren, dessen Verhältnis auf allen Ebenen vor allem durch Hass und Verachtung geprägt war.
Als Mijatović im Sommer 1993 von Partizan Belgrad zum FC Valencia wechselte, spielte Šuker bereits zwei Jahre beim FC Sevilla. Bis 1996 trafen sie regelmäßig aufeinander, ohne dass es dabei irgendwelche besonderen Vorkommnisse gegeben hatte. Als dann beide gleichzeitig vom spanischen Rekordmeister verpflichtet wurde, gab es in der breiten Öffentlichkeit nicht wenige warnende Stimmen und Fragen voller Sorgen – wird das mit den beiden ehemaligen Landsleuten funktionieren, sind Konflikte angesichts der politischen Lage nicht vorprogrammiert? Das Kriegsende lag Mitte 1996 gerade einmal ein halbes Jahr zurück, die Kriegswunden waren noch offen und voller Schmerz und Abneigung. Alle Bedenken diesbezüglich entpuppten sich aber als vollkommen überflüssig: Freunde waren Freunde geblieben, als sei in der Zwischenzeit nichts passiert – mit und zwischen Mijatović und Šuker war ja auch überhaupt nichts passiert. Der Kroate sagte noch bei der Vorstellung gegenüber der Presse: „Wir kennen uns unser ganzes Leben lang, wir sind Freunde und wir sind es gewohnt, zusammen zu gewinnen und Titel zu holen.“
Vom ersten gemeinsamen Auftritt auf dem Rasen des Bernabéus an stellten sie ihre ehrliche und unverdorbene Freundschaft demonstrativ und öffentlich zur Schau, Woche für Woche dem ganzen Irrsinn in ihren Heimatländern trotzend. Jahrelang lebten sie Menschlichkeit und echte Freundschaft auf einer der größten Bühnen der Weltöffentlichkeit, im Scheinwerferlicht der schillernden Fußballwelt. Dies mag heutzutage banal klingen, aber wer sich an die Konflikte auf dem Balkan in den 90ern erinnert, wird noch immer wissen, dass diese demonstrativ gelebte Normalität in Zeiten des Wahnsinns, von Stolz und Würde erfüllt, etwas Besonderes war.
Ihre enorme Popularität und den Bekanntheitsgrad setzten Mijatović und Šuker in ihren Heimatländern sogar gezielt ein, um in den Medien der beiden verfeindeten Staaten für Toleranz und Menschlichkeit als Grundwerte zu werben. Das taten sie entschieden und in aller Deutlichkeit, wohlwissend, dass sie dabei durchaus den eigenen Heldenstatus riskieren – in Südosteuropa ist es ein schmaler Grat zwischen Held und Verräter. Sie taten es aber und es zeigte erstaunlich Schnell Wirkung.
Der Montenegriner positionierte sich 1996 in serbischen Medien klar und deutlich: „Menschen mit mehr Lebenserfahrung haben unsere Freundschaft sehr gut verstanden. Freunde und Liebe stehen über allem. Nationalisten sahen das jedoch alles mit anderen Augen. Das hat mich jedoch nie interessiert. Niemand konnte meine Entscheidungen beeinflussen, besonders nicht die Politiker. Davor und ich sind der Beweis dafür, dass Freundschaft keine Grenzen kennt.“ Zu groß, zu beliebt, zu erfolgreich war Reals Angreifer, um nicht gehört zu werden. Gerade weil er und sein kroatischer Sturmpartner so klar und offensiv Stellung bezogen hatten, waren bereits die ersten Reaktionen in der Heimar nicht reflexartig ablehnend, sonder ruhig und nachdenklich. Sie brachten die Menschen zum Nachdenken.
Werte als wichtigstes Vermächtnis
Als jemand, der selbst im ehemaligen Jugoslawien aufgewachsen ist und das Ausmaß des Krieges und dessen Folgen hautnah erlebt hat, weiß ich, dass die folgende Ausage keine Übertreibung und frei von jeder falschen Pathetik ist: Predrag Mijatović und Davor Šuker haben in der zweiten Hälfte der 90er Jahre mehr zur Verbesserung der serbisch-montenegrinisch-kroatischen Beziehungen beigetragen als die Diplomatie der Länder und der gesamten internationalen Gemeinschaft. Sie hatten vielen Menschen gezeigt, dass man nicht hassen muss, dass Freundschaft über allem steht.
Die Mannschaft Real Madrids aus dem Zeitraum zwischen 1996 und 1999 hat vielleicht keine Ära geprägt, so wie es einige andere Teams davor und danach taten. Ganz sicher hat sie aber eine ganz große Ära des größten Vereins der Welt eingeleitet und den Grundstein dafür gelegt. Einige Spieler aus dieser Mannschaft wie beispielsweise Raúl und Roberto Carlos entwickelten sich zu Vereinsikonen. Mijatović und Šuker haben das weiße Trikot zwar nicht allzu lange getragen, doch waren sie in den beiden Spielzeiten, die nicht nur im Kosmos Real Madrid eine neue Zeitrechnung etabliert haben, sondern auch im europäischen Fußball im Allgemeinen, die hellsten Leuchttürme der Mannschaft.
Wer die Meistersaison 1996/97 erlebt hat, wird sich auf ewig an die zahlreichen Ballannahmen des Davor Šuker mit dem Oberschenkel erinnern, die anschließend innerhalb von Sekundenbruchteilen in einem wuchtigen Linksschuss endeten. Tore, die damals fast schon vorhersehbar waren. Niemals werden wir „Pedjas“ Körpertäuschungen und Raumgefühl vergessen. Sie und die anderen waren so gut, dass selbst der beste Ronaldo aller Zeiten nicht gut genug war. Sie waren besser. Zusammen. Erst recht wird kein Madridista jemals das Tor zu „La Séptima“ vergessen, unabhängig davon, ob man es damals erlebt hat oder nicht. Der Torschütze hat sich allein damit unsterblich gemacht.
Und doch ist in meinen Augen keines der Tore und keiner der Titel – bei all ihrer historischen Tragweite – die wichtigste und die größte Leistung in den Karrieren der beiden Angreifer. Das Vermächtnis von „Pedja“ und „Šuki“ besteht vor allem darin, dass sie in einer Zeit voller Unmenschlichkeit vor allem gute Menschen waren. Im historischen Kontext hat ihr Beitrag zur Versöhnung ihre Völker mehr Gewicht mehr Bedeutung als jeder sportliche Erfolg. Nicht zuletzt haben sie mit ihrem Mut zur Menschlichkeit den Verein, die Institution Real Madrid und deren wichtigste Werte bestmöglich repräsentiert.
Madrid brauchte 1996 einen Helden. Es bekam gleich zwei. Zwei Freunde.
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