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Analyse – Stotternde Pressingmaschine: So kann Real Madrid Liverpool knacken

Es ist soweit: Real Madrid und der FC Liverpool kreuzen im Hinspiel des Champions-League-Viertelfinales im Estadio Alfredo di Stéfano die Klingen. Auf dem Papier gehen die Blancos dabei keineswegs als Außenseiter in die Partie – und dennoch sorgen vor allem das Pressing und das Umschaltspiel der „Reds“ noch immer für großen Respekt in Fußball-Europa. REAL TOTAL nimmt diese und weitere Stärken des FC Liverpool genau unter die Lupe – zeigt aber auch auf, wie die Klopp-Elf zu knacken ist.

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Für Klopp und Co. kommt es zum Wiedersehen mit Real Madrid – Fotos: Imago

Seit Jürgen Klopp den FC Liverpool im Oktober 2015 übernahm, ritt er mit den „Reds“ auf einer Welle des Erfolgs: Nachdem der 53-Jährige bereits in seiner ersten Saison das Finale im Ligapokal gegen Manchester City (im Elfmeterschießen) und der Europa League (1:3 gegen den FC Sevilla) erreichte und jeweils verlor, preschte er 2017/18 bis ins Champions-League-Finale vor und verlor dort – richtig – gegen Real Madrid (1:3). Ein Jahr später schlug Klopp jedoch Tottenham im Spiel um den Henkelpott mit 2:0, ehe er in der Saison 2019/20 den ersten englischen Meistertitel seit 30 Jahren in die Hafenstadt holte. Nun treffen der zweifache Welttrainer des Jahres und der LFC in einer bislang verkorksten Saison erneut auf die Königlichen – diesmal schon im Viertelfinale. Zeit für eine Analyse!

Grundordnung und Pressingauslöser

Ihre größten Erfolge haben die „Reds“ einem enorm laufintensiven, im Verlauf der Jahre perfektionierten (situativen) Angriffspressing zu verdanken. Aus einer 4-3-3- respektiv 4-1-2-1-2 -Grundordnung heraus positioniert sich der LFC in der Regel grundsätzlich sehr hoch. Klopps Idee scheint dabei zu sein, den Ball tendenziell möglichst nah am gegnerischen Tor mit Blick in Spielrichtung zu gewinnen, um das Leder dann direkt vertikal zu spielen und somit einerseits die Unordnung des Gegners auszunutzen und andererseits das immense Tempo der eigenen Offensivakteure auszuspielen.

Klassischer Pressingauslöser: Sabitzer steht mit dem Rücken zur Spielrichtung (geschlossen), das erkennen die ballnahen LFC-Akteure und zwingen den RB-Spielgestalter in einen folgereichen Rückpass – Screenshot: DAZN

Dabei hat sich der englische Meister in den vergangenen Spielzeiten einige Pressing-Auslöser antrainiert, die es auf dem Platz wahrzunehmen und blitzschnell in einen maschinengleichen Pressingmoment zu übersetzen gilt. Dazu gehören Querpässe in der ersten gegnerischen Linie, unsauber gespielt oder verarbeitete Bälle, Rückpässe, ein unbedachtes Andribbeln der gegnerischen Aufbauspieler oder schlechtes Absetzverhalten respektive Ballannahmen in geschlossener Stellung (Blickfeld nicht in Spielrichtung).

Das Zentrum verdichten, lange Bälle erzwingen

Baut der Gegner über einen zumeist bewusst freigelassenen Innenverteidiger auf (nach Möglichkeit der technisch schwächere Aufbauspieler), formiert sich Liverpools Dreier-Angriffsreihe kompakt. Das bedeutet, dass die Außenspieler – in der Regel Mohamed Salah, Sadio Mané oder Diogo Jota – leicht einrücken (in die sogenannten Halbspuren) und primär darauf bedacht sind, Pässe ins Zentrum zu vermeiden. Im Dreiermittelfeld agieren die beiden offensiveren zentralen Mittelfeldspieler so, dass die Schnittstellen zwischen Mittelstürmer und offensiven Außenspielern im Prinzip nicht per Flachpass bespielt werden können. Der zentrale defensive Mittelfeldspieler orientiert sich eine Ebene tiefer im Raum, die Viererabwehrkette hält den Abstand zum Mittelfeld relativ gering. Der höchste gegnerische Angreifer wird im „Sandwich“ gesichert.

Firmino (roter Kreis) erkennt die geschlossene Stellung seines Gegenspielers und setzt diesen unter Druck, mit dem Rückpass auf Kepa sprintet Mané im leichten Bogen in Richtung des Torhüters und will auf diese Weise den kurzen Pass verhindern. Wijnaldum orientiert sich zu Kanté, Salah (nicht im Bild) verhindert, dass Kepa über den linken Innenverteidiger spielen kann – Screenshot: Sky

Wird das Pressing nun durch einen der oben genannten „Alarm-Momente“ ausgelöst, wird der Ballbesitzer (oftmals der Innenverteidiger) bogenförmig angelaufen und unter Druck gesetzt, sodass ein Ball zum ballnahen Außenspieler oder in die Halbposition kaum möglich ist. Gleichzeitig orientiert sich Liverpools Mittelstürmer zum zentralen defensiven Mittelfeldspieler des Gegners, während der ballferne LFC-Außenspieler den zweiten Innenverteidiger anläuft und somit defacto aus dem Spiel nimmt. Die zentralen Mittelfeldspieler verdichten den Raum im Zentrum, sodass der Gegner entweder zu einem langen Ball gezwungen wird oder das Pressing per Chipball auf die Außenverteidigerpositionen auflösen muss.

Wird der erste Druck aufgelöst, folgt der nächste Pressing-Moment

Spielt der Gegner den langen Ball, geht Klopp davon aus, dass der Ball entweder unerreichbar für die gegnerischen Angreifer ist oder (vornehmlich) seine Innenverteidiger in der Luft dominant sind und bereits den ersten Ball klar gewinnen (warum Liverpool genau hier anfällig ist, dazu gleich mehr).

Wird der Ball hingegen per Chip auf die Außenverteidigerposition gespielt, beginnt der nächste Pressing-Moment: So bedeutet ein Chipball meistens, dass der Ball eine Weile in der Luft ist und der Passempfänger, in den meisten Fällen ein Außenverteidiger, bereits eine zumindest mittelmäßig anspruchsvolle technische Aufgabe lösen muss.

Liverpool hat Kepa durch das Zustellen sämtlicher flacher Passoptionen (grüner Kreis, blauer Kreis, roter Kreis) so unter Druck gesetzt, dass er entweder den langen Ball oder einen Chip in Richtung James (rechts) spielen muss. Wählt der Chelsea-Keeper die erste Variante, stehen die Chancen auf einen Liverpool-Ballgewinn hoch. Spielt er in Richtung James, kann Robertson (lila Kreis) nach vorne verteidigen. Dass Kepa am Ende Mané in den Fuß spielt, unterstreicht den enormen Druck, den das Pressing des LFC erzeugen kann – Screenshot: Sky

Nun bieten sich zwei Strategien, um den Ball zu erobern. Zum einen erlaubt die Tatsache, dass Liverpools „falsche Neun“ sich in den Pressingabläufen in der Regel an dem am defensivsten positionierten zentralen Mittelfeldspieler des Gegners orientiert, infolgedessen die „Achter“ des LFC schon im Ansatz des Chipballs nach außen schieben und Druck auf den Außenverteidiger ausüben können. Wichtig ist hier, dass der ballferne „Achter“ mit durchschiebt, sodass der Außenverteidger sich nicht über Diagonalität aus dem Druck lösen kann. Die offensiven Außen des LFC passen ihre Positionen so an, dass der Ballbesitzer das Pressing auch nicht per Rückpass auf den Innenverteidiger auflösen kann, ohne dass dieser direkt mit Gegner- und Zeitdruck konfrontiert wird. Alternativ kann der Zugriff hier auch durch Liverpools Außenverteidiger erfolgen, indem diese antizipativ und mit hoher Intensität nach vorne verteidigen. Auch hier müssen die offensiven Außen des LFC ihre Positionen anpassen.

Hat der Champions-League-Sieger von 2019 den Ball dann gewonnen, entscheidet der Ort des Ballgewinnes, welche Option am ehesten gezogen wird: Bei hohen Ballgewinnen sucht die Klopp-Elf für gewöhnlich direkt das vertikale Spiel. Gewinnen sie die Kugel im eigenen Aufbaudrittel oder in weniger vielversprechenden Positionen im mittleren Spielfelddrittel, versuchen die Engländer aus stabilem Ballbesitz zu agieren. Ein beliebtes Mittel, um nun Tempo ins Spiel zu bekommen, sind scharfe Bälle aus den Halb- oder Außenpositionen hinter die Kette. Hierfür ist der zu Saisonbeginn überspielt wirkende, nun aber wieder stark formverbesserte Trent Alexander-Arnold prädestiniert.

Scharfe Bälle zwischen Abwehrkette und Torwart sind aufgrund des Tempos und der technischen Fähigkeiten des Liverpooler Angriffs immer gefährlich – Screenshot: DAZN

Personalnot bringt Konzept zum Bröckeln

Die Gründe, warum diese eigentlich hervorragende Spielidee in dieser Saison deutlich weniger erfolgreich sind als in den vergangenen Jahren, sind vielseitig: Zunächst einmal ist die Verletztenliste des englischen Meisters in den vergangenen Wochen und Monaten enorm lang: So fehlen mit Virgil van Dijk, Joe Gomez und Joel Matip die drei Top-Innenverteidiger. Insbesondere die Abwesenheit von Abwehrchef Van Dijk ist für die Klopp-Elf zumindest im Kontext einer ganzen Liga-Saison nicht zu kompensieren.

Neben der Tatsache, dass Van Dijk per Kopfballtor/-assist oder per technisch feinem Flugball (Assist, Pre-Assist) oftmals die Statik des Spiels gegen in der Regel defensiv eingestellte Gegner entscheidend veränderte und seinen Mitspielern in der Folge viele Räume für ihr hervorragendes Umschaltspiel ermöglichte, fehlt der Niederländer vor allem defensiv an allen Ecken und Enden. Bestes Beispiel ist die Kontersicherung in Situationen des Angriffspressings: Während Van Dijk in der Luft nahezu jeden Zweikampf gewann und zudem aufgrund seines Stellungsspiels in Kombination mit seinem Tempo auch am Boden im Eins-gegen-Eins nicht zu bezwingen war, konnte Liverpool im Pressing stets hohes Risiko gehen. Auch der schnelle Gomez sowie der taktisch geschickte Matip sorgten für Stabilität. Seit dem Ausfall sämtlicher Innenverteidiger von Weltklasse- respektive internationalem Format, ist die Kontersicherung des LFC signifikant schwächer.

Ist die erste Pressinglinie überspielt, kriegen die „Reds“ oft keinen Druck auf den Ball – Screenshot: Sky

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die damit verbundene Umfunktionierung der Schlüsselspieler im zentralen Mittelfeld – Kapitän Jordan Henderson und Fabinho – zu „Aushilfs-Innenverteidigern“. Das führte dazu, dass der extrem agile Georginio Wijnaldum oftmals die defensive Sechserposition spielen musste, während Thiago und Curtis Jones auf der „Acht“ agierten. Beide Spieler sind zwar technisch versiert, können aber nicht die Pressingintensität eines Wijnaldums oder des zurzeit verletzten Hendersons an den Tag legen, die die Achterpositionen ansonsten primär bekleiden.

Zudem ist die Restverteidigung oftmals sehr anfällig für lange Bälle und verliert wichtige Luftduelle oder setzt sich schlicht weg zu spät nach hinten ab – Screenshot: Sky

Enger Spielplan, geringere Intensität

Der letzte Aspekt einer langen Liste, die die Schwierigkeiten des FC Liverpool in dieser Spielzeit erklären, ist einerseits im Kontext der Verletzungsproblematik zu betrachten, liegt andererseits aber auch an der enorm engen Taktung des Rahmenspielplans: Während die „Reds“ in der vergangenen Saison noch etwa 150 Pressingimpulse pro Spiel ablieferten, ist die Anzahl in der Saison 2020/21 auf etwa 125 gesunken.

Diese Zahl impliziert zwei Dinge: Zum einen scheint die enorme Belastung einer Mannschaft, deren Spielidee in erster Linie auf Intensität und Tempo beruht, tendenziell mehr wehzutun als Teams, die eine andere Spielidee verfolgen. Zum anderen lassen die Leistungen der vergangenen Wochen und Monate den Rückschluss zu, dass das Dreiermittelfeld Fabinho-Henderson-Wijnaldum tendenziell dominanter und aggressiver zu agieren in der Lage ist als das Trio Wijnaldum-Jones-Thiago. Hinzu kommt, dass Thiago zwar aggressiv auftritt, aber noch immer nicht vollkommen die im Vergleich zu seiner Zeit beim FC Bayern merklich differierende Spielphilosophie Klopps umzusetzen vermag.

Fazit: Liverpool ist zu knacken, bleibt aber brandgefährlich

Mit Blick auf die Spielidee gibt es in Europa wohl kaum einen unangenehmeren Gegner als den FC Liverpool. Immer wieder stressen die Mannen von Jürgen Klopp ihre Gegner mit intensivem, giftigen Anlaufverhalten, um dann über blitzschnelle Umschaltmomente zum Erfolg zu kommen.

Dieser Tage wirkt das „System Klopp“ aber anfällig – nicht, weil der Meister-Coach plötzlich den Fokus verloren hätte – sondern schlichtweg aufgrund herber personeller Ausfälle, verstärkt durch eine extrem enge Taktung, mit der allerdings alle Teams umgehen müssen.

Will Real Madrid den LFC ausschalten, müssen die Königlichen den Finger in eben diese Wunde legen: So könnten gezielte (lange) Bälle hinter die letzte Liverpooler Kette auf die schnellen Außen der Blancos oder ein konzentriertes Auflösen des Pressings mögliche Wege zum Erfolg sein. In diesem Kontext könnte es gerade dann spannend werden, wenn die Zidane-Elf die erste Linie überspielt hat und sich den etwas weniger aggressiven „Achtern“ der „Reds“ gegenübersieht. Die zuletzt starke Bewegung ohne Ball könnte hier der zentrale Schlüssel zum Erfolg sein.

Am spannendsten aus Real-Sicht ist sicher die Frage nach dem gewählten System: Sollte sich Zidane für ein 4-3-3 mit Casemiro entscheiden, dürfte es entscheidend sein, die Pressingresistenz eines Toni Kroos sowie die außergewöhnliche Fähigkeit, auch unter größtem Gegner- und Zeitdruck Lösungen zu finden, von Nebenmann Luka Modrić zu nutzen. Hier wäre es entscheidend, in Drucksituationen eher über Kroos und Modrić als über den weniger agilen Casemiro zu gehen. Sollte „Zizou“ sich für eine Dreier- respektive Fünferkette entscheiden, dürfte die Rolle von Casemiro ebenfalls spannend sein. Hier wäre es interessant zu beobachten, ob der Brasilianer in der Spielauslösung eher etwas tiefer positioniert ist, um nicht in die Pressingfalle zu tappen und dann im Übergangsspiel eher den Konter vor der Dreierkette sichert. Dass „Zizou“ komplett auf den Abräumer verzichtet, scheint nahezu ausgeschlossen. Meine Prognose: Real startet zumindest nominell im 4-3-3 mit Casemiro, wobei es nicht überraschend wäre, wenn Zidane eine Außenposition durch Spielertypen wie Isco oder Valverde besetzt, um das Mittelfeld und die Stabilität des eigenen Ballbesitzes zu stärken. Daraus würde sich dann auch ein anderes real-taktisches Bild ergeben.

Klar ist: Ohne selbst eine Top-Leistung abzurufen, wird es auch gegen ein zurzeit schwächelndes Liverpool schwierig.

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Kommentare
Gut geschriebener Artikel und recht detailliert erklärt. Auf jeden Fall ist Liverpool schlagbar und ich denke auch, dass wir sie schlagen werden.
Da ist jemand sehr sehr sehr optimistisch... frage mich nur woher dieser Optimismus kommt.
 
Wichtig wird es sein, dass wir uns heute Abend auf das konzentrieren was wir derzeit am besten können: verteidigen!
Wäre wichtig, dass Liverpool das wichtige Auswärtstor nicht erzielt. So hätten wir im Rückspiel mehr Spielraum.

Ich bin guter Dinge, dass wir Salah und Mane, auch ohne unseren Kapitän, gut im Griff haben werden. Vorne müssen wir halt irgendwie auf Benzema hoffen.

Wird schwer, aber machbar - auf gehts - Hala Madrid!
 
Vamos Jungs, auf geht‘s! Der Sieg muss unser sein! Hala Madrid y Nada Mas!

„Ich habe einmal geweint, weil ich keine Schuhe zum Fußball spielen hatte, aber eines Tages traf ich einen Mann, der keine Füße hatte.“ Zitat: Zineddine Zidane
 

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