Analyse

Wacklige Defensive: Warum Real Madrid zu viele Chancen zulässt

Real Madrid hat sein Auftaktspiel in der Champions League gegen den VfB Stuttgart erwartungsgemäß mit 3:1 gewonnen. Nach 90 intensiven und über weite Strecken äußerst unterhaltsamen Minuten konnten die Schützlinge von Carlo Ancelotti zwar die ersten drei Punkte der Königsklasse eintüten, besonders in Durchgang eins wackelte die Defensive dabei aber stark. REAL TOTAL analysiert, in welcher Hinsicht die Blancos sich zwingend steigern müssen, wollen sie auch in dieser Spielzeit um Silberware mitspielen.

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Carlo Ancelotti muss an defensiven Automatismen arbeiten, um die defensive Stabilität der Vorsaison wiederherzustellen – Fotos: Getty Images

Unnötige Fehler im Spielaufbau und defensive Schläfrigkeit

„Wir sind noch auf der Suche nach unserer besten Form. Wir haben es phasenweise gut gemacht. Der Anfang war nicht gut, wir haben viele lange Bälle geschlagen und sie die Duelle gewonnen“, erklärte Carlo Ancelotti nach der Partie. Zwar benannte der „Mister“ die vor allem in Durchgang eins schwache Defensivleistung nicht explizit. Mit Blick auf die Vorsaison, in denen die Merengues neben dem Henkelpott auch in LaLiga den Titel als beste Abwehr einfuhren, betonte Ancelotti jedoch: „Die letzten beiden Titel haben wir geholt, weil wir gut verteidigt und unsere Geschwindigkeit vorne gut genutzt haben.“

Vázquez leistet sich in dieser Szene einen folgenreichen Fehlpass: der Rechtsverteidiger hat allerdings kaum Anspielmöglichkeiten, da die Positionierung von Carvajal (blau), Rüdiger (grün) und auch Tchouaméni nicht optimal ist – Screenshot: Amazon Prime

Mit anderen Worten: Derzeit wackelt die Defensive des Rekordchampions noch zu sehr, um Spiele auf einem derartig hohen Niveau wie am Dienstagabend oder auch am Wochenende bei Real Sociedad (2:0) klar zu dominieren und souverän für sich zu entscheiden. Exemplarisch hierfür ist Lucas Vázquez‘ Fehlpass im Spielaufbau in der achten Minute. So wurde der Rechtsverteidiger unter Druck angespielt – und leistete sich dann einen vermeidbaren Ballverlust, der aber auch aus Mangel an Anspielstationen resultiert ist.

Nach dem Ballverlust lässt sich Carvajal (rot) von Undav überspielen, Rüdiger (blau) schiebt viel zu spät durch und auch Tchouaméni (grün) greift nicht ein – Screenshot: Amazon Prime

Entscheidend war jedoch, was nach dem Ballverlust passierte: Carvajal bekam keinen Zugriff auf Undav, Rüdiger verfiel im Abwehrzentrum in Tiefschlaf und verpasste es, durchzuschieben. Mit etwas mehr Konsequenz und Ruhe im Abschluss hätte Enzo Millot den VfB bereits in dieser Szene in Führung bringen müssen, doch er schoss am langen Pfosten vorbei.

Ausbaufähige Kontersicherung

Ähnlich deutlich wurden die fehlende – oder zumindest mangelhafte – defensive Ordnung bei Undavs Lattentreffer in der 28. Spielminute. Nach einem Ballverlust von Vinícius Júnior antizipierte Rüdiger den anschließenden Tiefenpass zunächst gut. Kurz darauf verlor Ferland Mendy – auch mangels Optionen, den Ball mit einem einfachen Pass zu sichern – das Leder erneut.

Vinícius verliert den Ball durch einen missglückten Trick in einer Eins-gegen-Zwei-Situation, der Ballverlust ereignet sich allerdings in einer Feldposition, die verschmerzbar ist – Screenshot: Amazon Prime

In dieser Situation standen die Königlichen in der Kontersicherung enorm schlecht. So fehlte Mendy die Klarheit in der Aktion, Rüdiger setzte sich nicht frühzeitig ab – und weder die Viererkette noch einer der zentralen Mittelfeldspieler passten die Positionierung an, um auf einen möglichen Ballverlust reagieren zu können.

Mendy (rot) hat einen schlechten ersten Kontakt und kann den Ball nicht sichern, Rüdiger (grün) läuft auf Mendy zu, anstatt sich abzusetzen und eine sichere Anspieloption zu bieten, und auch die weiteren Blancos wirken in dieser Szene wenig handlungsschnell – Screenshot: Amazon Prime

Das Unglück nahm seinen Lauf – Stuttgarts Konter rolle an mit einer Drei-gegen-eins-Situation und schlussendlich Undavs Schuss, den Carvajal (mehr oder weniger unglücklich) gerade noch so an die Latte lenkte.

In der Konsequenz versuchen Carvajal und Vázquez (rot), den Konter zu unterbinden, da Undav den Ball nicht in zentraler Position führt, kann Carvajal im Zweikampf in Tornähe zugreifen – Screenshot: Amazon Prime

Etwas mehr Sicherheit bekamen die Hausherren erst in ihr Defensivspiel, als Ancelotti mit Éder Militão den designierten Abwehrchef einwechselte. Zwar merkt man dem Brasilianer seine lange Verletzungspause aufgrund der Kreuzbandverletzung noch immer an. Mit der Einwechslung des 26-Jährigen wirkten die Merengues jedoch deutlich stabiler als zuvor. Zudem änderte die Tatsache, dass Carvajal von diesem Moment an seine angestammte Rechtsverteidigerposition besetzte, die Statik des Spiels ein wenig zugunsten des amtierenden Champions-League-Siegers.

Viele Baustellen, einfache Lösungen

Hatten die fünf Pflichtspiele bis zur Länderspiele noch Testspiel- und Saisonvorbereitungscharakter einer im Kern veränderten Mannschaft, so offenbarten auch die anschließenden Spiele gegen den VfB Stuttgart sowie zuvor bei Real Sociedad einige Baustellen bei den Blancos. Sowohl suboptimale Entscheidungen im Spielaufbau als auch fehlende Handlungsschnelligkeit und Konterabsicherung in Umschaltaktionen führen immer wieder dazu, dass Real Madrid zurzeit (noch) sehr viele Torchancen zulässt: 17 Abschlüsse des Bundesligisten, in LaLiga stellen die durchschnittlich zehn kassierten Abschlüsse „nur“ den fünftbesten Wert dar. Ohne den herausragenden Thibaut Courtois und die schwache Chancenauswertung des jeweiligen Gegners könnte die Punkteausbeute deutlich magerer aussehen.

Thibaut Courtois ist einer der Hauptgründe, warum Reals Wackeln in der Defensive derzeit nicht härter bestraft wird – Foto: David Ramos/Getty Images

Positiv an der aktuellen Problematik ist jedoch, dass die Fehler im Grunde genommen mehr oder weniger leicht zu beheben sind. Neben dem Einspielen der Automatismen benötigt Real Madrid vor allem eine höhere defensive Disziplin und eine klarere Positionstreue beziehungsweise -besetzung. REAL TOTAL ist der Überzeugung, dass der Sechserraum klarer besetzt werden muss und die Kontersicherung durch eine bessere Positionierung (auch im Sinne einer klareren Antizipation von Ballverlusten) optimiert werden muss.

Hinzu kommt, dass ein klarer Leader in der Abwehr fehlt. Antonio Rüdiger bringt sicherlich viel Energie mit auf den Platz und hat auch gegen Stuttgart einige Defensivzweikämpfe mit viel Willen für sich entschieden. Im Spiel gegen den Ball profitiert der deutsche Nationalspieler aber in der Regel von einem Nebenmann, der das Spiel des Gegners lesen kann und Verantwortung im Sinne der Torverteidigung übernimmt. Diese Rolle dürfte der wiedergenesene Militão sicherlich in einigen Wochen immer besser ausfüllen können. Und auch der ebenfalls von einer langen Verletzung zurückkehrende David Alaba bringt die Persönlichkeit, Kommunikationsfähigkeit und Ausstrahlung mit, die dem spanischen Rekordmeister im Abwehrzentrum derzeit ein wenig zu fehlen scheint.

Fazit: Die Zeit spielt für Real Madrid

Nimmt man all diese Aspekte zusammen, ergibt sich ein recht klares Bild: Nicht nur aufgrund des personellen Umbruchs auf der einen oder anderen Schlüsselposition, sondern auch angesichts der vielen sich im Aufbau befindenden Innenverteidiger ist Real Madrid derzeit sowohl in Ballbesitz als auch im defensiven Umschalten nicht so stabil wie gewohnt. Zwar haben die Blancos in LaLiga erst zwei Gegentore in fünf Spielen kassiert – es hätten aber auch schon vier oder fünf sein können (oder gar müssen). Der Fabelwert der Vorsaison von 26 Gegentoren in 38 Ligaspielen (0,68 Gegentore pro Spiel) impliziert, wie wichtig eine stabile Defensive ist, um Titel zu gewinnen.

Carlo Ancelotti und sein Team drehen daher derzeit fleißig an den richtigen Stellschrauben – und fahren dabei dennoch gleichzeitig viele wichtige Punkte ein. Es scheint logisch, dass die Königlichen noch einige Wochen benötigen, um ein erstes Formhoch zu erreichen. Die Zeit spielt angesichts des objektiv betrachtet dennoch ordentlichen Saisonstarts jedoch für den Hauptstadtklub, auch wenn die aktuellen Probleme offensichtlich sind.

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Kommentare
Die Lösung für das Problem aller oben genannten Punkten ist ein pressingresisstenter 6er, so wie Kroos es war. Er hat sich zwischen die IVs fallen lassen, die Bälle abgeholt und klug verteilt. Das Problem das wir gerade haben entsteht durch hohen Druck der Gegner. Und wie Carlo es gesagt hat, wenn man im Aufbau gestört wird helfen nur lange Bälle oder horizontale Pässe. Die Lösung die ich hier sehe ist Alaba. Sobald er zurück ist, sollte er gesetzt sein. Dem trau ich die Aufgabe noch am ehesten zu, da er technisch viel besser ist als ein Rüdiger oder Mili und der auch in der Natio als 6er spielt. Quasi ein Hybrid. Ich hoffe sehr dass Carlo das hinkriegt mit der Balance. Evtl. Muss er Bellingham auf die linke 8er Position zurückholen und ihn defensiv spielen lassen. In Dortmund hat er es ja auch getan.
 
Daran sieht man mal, was man jahrelang an Kroos hatte. Mittlerweile kommt doch wohl selbst der größte deutsche Normie, der immer Querpass Toni gerufen hat, nicht um die Feststellung drum herum, dass sein Abgang bei Real schwerer wiegt, als der Neuzugang Mbappes das aufwiegen könnte. Zumindest für den Moment.
 
Es ist für mich wenig verwunderlich, dass es defensiv aktuell teilweise sehr unkontrolliert aussieht: Es fehlt ein Leader auf und neben dem Platz. Real hat zweifelsfrei absolute Kracher in allen Mannschaftsbereichen, aber es fehlt halt eben einer wie Kroos, der den Rhythmus angibt, Kommandos gibt. So wirkt alles im Moment eher zufällig. Alle sind bemüht, aber es sind wenig koordinierte Aktionen zu sehen, die dann halt auch zu Abstimmungsproblemen in der Defensive, aber auch in der Offensive führen. Ich hoffe immer noch, dass Fede diesen Job übernehmen wird, aber entweder braucht er noch mehr Zeit oder aber, er ist dieser Aufgabe nicht gewachsen (ohne Kritik an ihn) Jude könnte ein solcher werden, aber es ist verrückt diese Verantwortung einem erst gerade 21 jährig gewordenem Spieler aufzudrücken. Aber solange da keiner hervorstechen kann oder will, müssen wir uns wohl weiterhin auf Einzelleistungen abstützen.
 
Daran sieht man mal, was man jahrelang an Kroos hatte. Mittlerweile kommt doch wohl selbst der größte deutsche Normie, der immer Querpass Toni gerufen hat, nicht um die Feststellung drum herum, dass sein Abgang bei Real schwerer wiegt, als der Neuzugang Mbappes das aufwiegen könnte. Zumindest für den Moment.
Wie recht du hast. Es ist schon irgendwie vergleichbar wie Makélélé sein Abgang damals im Sommer 2003. Die balance fehlt zwischen Offensive und Defensive.
 
Auf den Heatmaps von Kroos aus der letzten Saison erkennt man gut, dass er eine sehr wichtige Schnittstelle zwischen Mittelfeld und Abwehr/Angriff war. Quasi 6er und 8er in einem und dann hat er sich oft als Anspielstation angeboten, auch mal als Ankerpunkt der den Ball halten kann und hat Räume anderer Spieler besetzt wenn die in nach Vorne gingen. Der hat echt sehr clever, erfahren und routiniert agiert - chapeau Toni!

Das kann man nicht 1:1 ersetzen, das wird Zeit brauchen.
 

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