Als Eintracht Frankfurt am Abend des 18. Mai 2022 die Trophäe für den Gewinn der UEFA Europa League erhielt, war den Frankfurtern nicht nur die Teilnahme im UEFA Super Cup gegen den Sieger der Champions League sicher, sondern es bahnte sich dabei auch ein Duell an, welches auf den Tag genau vor 62 Jahren zum ersten und bis dato auch letzten Mal stattgefunden hatte. Als schließlich zehn Tage später Real Madrid im Finale in Paris durch einen 1:0-Sieg gegen den FC Liverpool zum 14. Mal die Königsklasse gewann, stand tatsächlich fest, dass es im Spiel um den europäischen Superpokal am 10. August 2022 zum zweiten Aufeinandertreffen dieser beiden Vereine kommen wird.
Obwohl dem Super-Cup-Titel im Vergleich mit anderen internationalen Wettbewerben grundsätzlich die geringste Bedeutung beigemessen wird, ist es diesmal mehr als das übliche Pflichtprogramm, mehr als die Generalprobe vor dem richtigen Saisonauftakt. Die Begegnung zwischen Real Madrid und Eintracht Frankfurt versprüht tatsächlich einen besonderen Reiz, der sich allerdings nicht etwa im üblichen Narrativ vom ungleichen Kampf zwischen Groß und Klein begründet. Es ist nämlich vor allem der Mythos, es sind die einmaligen historischen Ausmaße des ersten Duells dieser beiden Vereine auf europäischer Bühne, die das Wiedersehen nach mehr als 62 Jahren so außergewöhnlich machen. Es ist die Erinnerung an das wohl größte und beste Finalspiel, das die Fußballwelt je gesehen hat.
Der 18. Mai 1960 ist ein ganz besonderer Tag in der Geschichte Real Madrids, aber auch des europäischen Fußballs. Im Finale des Europapokals der Landesmeister 1959/60 standen sich im Hampden Park zu Glasgow der bereits vierfache Titelträger aus der spanischen Hauptstadt und die Frankfurter Eintracht gegenüber. Es handelte sich dabei um das erste Aufeinandertreffen des Weltklubs aus Madrid gegen eine deutsche Mannschaft überhaupt. Es sollten später viele weitere, teilweise große und unvergessliche Spiele der Madrilenen gegen Bundesligisten folgen, doch keines konnte jemals den Mythos von Glasgow übertreffen.
Ein Spiel der Rekorde, ein Spiel für die Ewigkeit.

Zuschauerrekord so oder so
Offiziell 127.621 Zuschauer wurden Augenzeugen eines unvergesslichen Spektakels. Die damalige Berichterstattung sprach sogar von knapp 135.000 Menschen, womit ein Zuschauerrekord im Europapokal aufgestellt wurde, der bis heute Bestand hat und auf unabsehbare Zeit unerreicht bleiben wird. Die Fans zahlten die höchsten Preise, die bis dato je für Fußball verlangt wurden und doch reichte das Fassungsvermögen des Glasgower Fußballtempels nicht aus. Viele tausende Fans, die kein Ticket ergattern konnten, versammelten sich also vor dem Stadion, um wenigstens in der Nähe des Geschehens zu sein. Die Geräuschkulisse aus dem Stadion während der 90 Minuten ließ sie erahnen, was an diesem Tag passierte – das laut Real Madrid „beste Endspiel des Europapokals“.
Das schier unbesiegbare „Weiße Ballett“ um den argentinischen Regisseur Alfredo Di Stéfano und seinen kongenialen ungarischen Sturmpartner Ferenc Puskás reiste mit vier Titeln in Folge im erst 1955 gegründeten Wettbewerb im Gepäck nach Glasgow und galt als haushoher Favorit gegen den deutschen Meister vom Main. Der fünfte Triumph war nur noch Formsache, darin waren sich so gut wie alle einig.
Davon war in den ersten Minuten des Spiel aber wenig zu sehen. Nachdem die Frankfurter zunächst nur das Gehäuse des Real-Torwarts Rogelio Domínguez trafen, brachte Richard Kress die Deutschen in der 18. Minute in Führung. Sollte sich hier etwa eine Sensation anbahnen? Nein, es war tatsächlich nur der Auftakt für eine Aufholjagd und eine einmalige Gala der Mannschaft von Trainerlegende Miguel Muñoz. Dieser hatte die Mannschaft erst im Sommer übernommen, gewann somit seinen ersten Europapokal als Trainer (er gewann diesen zuvor drei Mal als Spieler) und ist bis heute mit 14 Trophäen der meist dekorierte Trainer in Madrids Geschichte.

Torrekord nach Rückstand
In der 27. Minute glich Di Stéfano nach Vorarbeit des brasilianischen Rechtsaußen Canario aus, um nur drei Minuten später zum 2:1 abzustauben, nachdem der Frankfurter Torwart Loy einen Außenrist-Schuss Canarios nicht festhalten konnte.
Der Widerstand der Eintracht war gebrochen. Fortan beherrschte Madrid das Spiel, es wimmelte nur noch von Doppelpässen und Kombinationen durch Di Stefáno, Gento, del Sol, Santamaría, Puskás und Kollegen. Der ungarische Bomber war es dann auch, der mit einem unnachahmlichen Linksschuss unter die Latte in der 45. Minute den berühmt-berüchtigten „Hampden Roar“ zur Extase brachte.
Nach der Pause ging die Gala der Königlichen weiter. 56., 60. und 71. Minute und es stand 6:1 für das Starensemble aus Chamartín! Torschützen? Puskás, Puskás und Puskás! Per Elfmeter, per Kopf, mit links. Nichts und niemand konnte das Wunderteam um Di Stéfano aufhalten. „La Saeta Rubia“ (der blonde Pfeil) markierte dann in der 73. Minute auch den siebten Treffer für Real, flankiert von zwei Frankfurter Toren durch Erwin Stein, die lediglich Ergebniskosmetik sein sollten.
Real Madrid sieben, Eintrach Frankfurt drei. Zehn Tore für die Ewigkeit. Bis heute fielen in keinem Europapokalendspiel mehr Treffer. Das hatte Glasgow, das hatte die Insel noch nicht gesehen. Nein, das hatte die Welt noch nicht gesehen.

Ein Spiel der Superlative
Die größte Kulisse – niemals zuvor und nie wieder danach fand ein europäisches Spiel vor mehr Menschen statt. Die meisten Tore. Der schönste Fußball.
In diversen Umfragen einschlägiger Fachmagazine oder des Weltverbands FIFA nach dem besten Fußballspiel aller Zeiten wurde dieses Spiel von Experten immer wieder auf Platz eins gewählt. „Als Wettkampf war das Finale schon zur Pause vorbei“, schrieben John Motson und John Rowlinson in der „History of the European Cup“, „aber als Darbietung der höchsten Kunstfertigkeit, die der Fußball anzubieten hat, ist es zu einem Sammlerstück geworden.“

Englands Fußball-Idol Sir Bobby Charlton erzählte später: „Mein erster Gedanke war, dieses Spiel ist ein Schwindel, geschnitten, ein Film, weil diese Spieler Dinge taten, die nicht möglich sind!“
Jimmy Greaves, damaliger englischer Nationalspieler, der das Spiel mit seinen Mannschaftskollegen vor dem Fernseher verfolgte, berichtete: „Wir haben niemals so etwas wie das gesehen. Real war wie von einem anderen Planeten. Wir haben alles mit offenen Mündern verfolgt.“
Und sogar Trainerlegende Sir Alex Ferguson schaute sich als 18-Jähriger das Spiel live vor Ort in seiner Heimatstadt an. Später gab er an, die Darbietung im Hampden Park habe ihn dermaßen fasziniert, dass er sich entschied, einer Profikarriere als Fußballer nachzugehen.
Dieses Spiel und der Triumph Reals Madrids markierten den Höhepunkt einer Ära, der wohl größten Fußballmannschaft aller Zeiten. Das ZEIT-Magazin schwärmte noch 1973: „Canario – Del Sol – Di Stéfano – Puskás – Gento. Nie wieder wird es einen solchen Sturm geben. Zehn Superfüße, 100 Hyperzehen. Um das in einer anderen Dimension zu verdeutlichen, muss man sich vorstellen, Bach, Mozart, Beethoven, Haydn und Händel hätten alle zusammen für den Fürstbischof von Salzburg komponiert. Zur gleichen Zeit, das gleiche Concerto, am gleichen Klavier. Mit Brahms auf der Reservebank.“ Nie wieder würde ein Team den Fußball derart dominieren wie die Weltauswahl von Real Madrids Präsidenten Santiago Bernabéu.
Das Finale von Glasgow ist aber auch deshalb so groß, weil der Gegner mitspielte. Die Eintracht war zwar spätestens zur Halbzeit hoffnungslos unterlegen, wessen sich die Deutschen auch vollkommen bewusst waren. So sagte Friedel Lutz 2010 dem Kicker: „Wir hätten sogar 3:0 führen können, und doch hätten wir verloren.“ Trotzdem steckten die Hessen nie auf und boten den Zuschauern mehr als nur einen angezählten Sparringpartner für die Startruppe aus Madrid.
All die Rekorde, Zahlen der Superlative und Aussagen der Zeitzeugen lassen nur ein Urteil über diese Begegnung zu: das beste Finale aller Zeiten.
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