
Als Eduardo Camavinga am 31. August als Neuzugang der Königlichen vorgestellt wurde, ging der Transfer angesichts des gescheiterten Mbappé-Transfers in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst fast ein bisschen unter. Nichtsdestotrotz waren sich viele Experten der Fußballszene vor dem Hintergrund der starken Leistungen des damals 18-Jährigen in seiner Zeit bei Stade Rennes einig, dass der zentrale Mittelfeldspieler sich nicht nur bei den Blancos durchsetzen würde, sondern vermutlich sogar eine der prägenden Figuren im Weltfußball werden könnte.
Achteinhalb Monate später scheinen sich beide Thesen zu bestätigen: So absolvierte Camavinga bis dato 42 Pflichtspiele (zwei Tore und zwei Assists bei durchschnittlichen 40 Einsatzminuten pro Spiel) für die Merengues. Musste der 19-Jährige zunächst mit einer ergänzenden Rolle neben den Platzhirschen Toni Kroos, Luka Modrić und Casemiro Vorlieb nehmen, erlangte er zuletzt immer größeren Einfluss auf das Spiel des spanischen Rekordmeisters – insbesondere auch in den K.o.-Spielen der Königsklasse. So veränderte seine Einwechslung im Rückspiel gegen den FC Chelsea sowie in beiden Semifinals gegen Manchester City die Statik des Spiels entscheidend.
Spielweise: Dynamisch, mutig, anders
Die Fähigkeit, die Statik des Real-Spiels durch sein dynamisches Dribbling oder sein scharfes, mitunter überdurchschnittlich mutiges Passspiel aufzubrechen, verleiht dem über Jahre von Kroos, Modrić und Casemiro geprägten Real-Mittelfeld eine neue Qualität. Insbesondere in Situationen, in denen eine primär auf Kontrolle ausgerichtete Spielweise wenig erfolgversprechend ist, kann Camavinga das Spiel entscheidend beeinflussen.
So geschehen etwa im Rückspiel gegen ManCity: Beim Stand von 0:1 eingewechselt, übernahm der Franzose direkt das Kommando in der Schaltzentrale. Im Unterschied zu Kroos gelang es dem Youngster mit seinem Auftreten, dem Spiel durch Dribbel- und Tiefenwege eine neue Dimension zu verleihen. Erst spielte er vor Rodrygos erstem Treffer einen herausragenden Flugball auf Benzema, dann leitete er die Situation, die zum entscheidenden Strafstoß zum 3:1-Endstand führte, mit einem unwiderstehlichen Tempodribbling über 40 Meter ein.

Dass Camavinga neben Fede Valverde und Daniel Ceballos die Zukunft, aber auch die Gegenwart in Reals Mittelfeld darstellt, unterstreicht auch die Aussage von Trainer Carlo Ancelotti nach dem Halbfinal-Coup: „Die Wechsel habe ich nur gemacht, um mehr Energie aufs Spielfeld zu bringen. Mit diesen Spielern ist die Zukunft von Real Madrid gesichert, denn die drei werden weitermachen und neben ihnen haben wir weitere junge Spieler mit hoher Qualität.“ Nachdem KMC die Vorarbeit leistete und – ergänzt durch den enorm agilen Valverde sowie Karim Benzema und Vinícius Júnior viele Pressingsituationen generierten und zudem oftmals aus kontrolliertem Ballbesitz Torgefahr kreierten – kamen Camavinga und Rodrygo, um die Statik des Spiels zu ändern. Mit Erfolg.
Doch nicht nur im Spiel mit Ball, sondern auch während gegnerischer Ballbesitzphasen ist der 19-Jährige mit seiner kompromisslosen und physischen Spielweise ein wichtiger Teil des Erfolgskonstrukts: Mit 68 Kilogramm Körpergewicht bei einer Größe von 1,82 Metern gehört der Franzose zwar keinesfalls zu den massigsten Mittelfeldspielern. Das Zusammenspiel aus Körperbau, Körperkontrolle und Mentalität sind allerdings der Grund dafür, dass Camavinga auch im Defensivspiel eine echte Waffe darstellt.
Aus dem angolanischen Flüchtlingslager in die Bretagne
Dass die Nummer 25 der Blancos eines Tages im Bernabéu auflaufen würde, wirkt vor dem Hintergrund seiner von Schwierigkeiten und Verlust geprägten Lebensgeschichte wie ein Märchen. Als drittes von sechs Geschwistern am 10. November 2002 in Miconge in einem angolanischen Flüchtlingslager geboren, verbrachte Camavinga zunächst zwei Jahre in der angolanischen Exklave Cabinda. Seine Eltern Celestino und Sofía waren zuvor aus dem Kriegsgebiet in der kongolesischen Heimat geflohen. Anschließend zog es die Familie in die französische Gemeinde Fougères, etwa 50 Kilometer von Rennes entfernt.
Bevor der Youngster seine Leidenschaft für den Fußball entdeckte, versuchte er sich in der Kampfsportart Judo. Da er im Rahmen von Trainingssessions jedoch zu viele Gegenstände in der Wohnung seiner Eltern zerstörte, legten seine Eltern ihm den Fußball nahe. Beim bretonischen Verein Drapeau Fougères unternahm er dann im Alter von sieben Jahren sehr bald seine ersten fußballerischen Gehversuche. „Ich hatte keine Ahnung. Meine Mutter nahm mich mit und meldete mich an. Ich weiß noch, wie ich den Ball nahm und durch die Gegend dribbelte“, erinnert sich Camavinga heute.
Brand zerstört sämtliche Besitztümer
Aufgrund seines außergewöhnlichen Talents spielte der heute 19-Jährige in seiner frühen Jugendzeit permanent in höheren Altersstufen. Auf diese Weise tauchte er eines Tages auf dem Radar von Stade Rennes und deren damaligen Nachwuchscoach Julien Stéphan auf. Der spätere Trainer der ersten Mannschaft erkannte Camavingas Ausnahmetalent und lud ihn folglich zu einem Sichtungsturnier ein. Als der damals Elfjährige kurz vor der Unterschrift in der renommierten Nachwuchsakademie des bretonischen Top-Klubs stand, ereilte ihn der nächste Schicksalsschlag: Das Haus und somit auch der gesamte Besitz der Camavinga-Familie fielen einem Brand zum Opfer. „Sie hatten alles verloren“, beschreibt Nicolas Martinais, Camavingas früherer Jugendtrainer, die belastende Situation. Das Ausnahmetalent war zunächst fassungslos: „Ich erinnere mich an das Feuer, als wäre es gestern gewesen. Ich war in der Schule und sah aus dem Fenster die Feuerwehrleute kommen. Am Ende des Unterrichts kamen die Lehrer zu mir und meiner kleinen Schwester und erklärten uns, was passiert war. Mein Vater holte uns ab und brachte uns dorthin. Alles war verbrannt, alles war zerstört.“
Doch anstatt zu resignieren, ging der Franzose seinen Weg unbeirrt weiter und erschien am Folgetag ohne zu klagen beim Training: „Fußball hat mir geholfen, mich zu beruhigen und zu entspannen. Es war eine Art Ausweg“, sagt das Top-Talent. Zudem sei seine Familie, die nach dem Brand durch eine Wohltätigkeitsaktion die nötigsten Dinge erhielt, stets ein großer Antrieb gewesen, weiterzumachen: „Meine Eltern waren immer schon meine große Motivation. Ich war die Hoffnung der Familie und spielte auch für sie. Mein Vater sagte nach dem Brand zu mir: ‚Keine Sorge. Du wirst ein großer Fußballer und wirst das Haus neu aufbauen.‘“, sagte er 2020 im Interview mit OUEST FRANCE.
Ligue-1-Debüt mit 16: Camavingas kometenhafter Aufstieg
Von jenem Moment an nahm die Karriere des Mittelfeldspielers enorm an Fahrt auf: Nur fünf Jahre spielte er in der Akademie von Stade Rennes, ehe Stéphan – zu jenem Zeitpunkt bereits Trainer der ersten Mannschaft – Camavinga in den Ligue-1-Kader berief. Aus derselben Talentschmiede wie Yoann Gourcuff oder Ousmane Dembélé hervorgegangen, unterschrieb der damals 16-Jährige im Dezember 2018 seinen ersten Profivertrag. Etwas mehr als drei Monate später, am 6. April 2019, bestritt er beim 3:3 gegen SCO Angers als Einwechselspieler sein erstes Profispiel.

Nach weiteren Einsätzen bis zum Saisonende sollte Camavinga in der Folgespielzeit 2019/20 endgültig der Durchbruch gelingen: Erst steuerte er beim 2:1-Erfolg über Meister Paris Saint-Germain einen Assist bei (als jüngster Spieler der Ligue-1-Geschichte), um im Dezember 2019 beim 1:0 gegen Olympique Lyon seinen ersten Treffer im Profifußball zu erzielen.
Innerhalb der Fußballwelt erfährt Camavinga bereits heute große Wertschätzung. So verglich Landry Chauvin, langjähriger Trainer an der Rennes-Akademie, den 19-Jährigen 2019 im Gespräch mit BLEACHER REPORT mit Gourcuff: „Der beste Mittelfeldspieler, den ich mit 16 Jahren je hatte, war Yoann Gourcuff. Camavinga erinnert mich an ihn, jedoch als Linksfuß. Ich weiß, wie Blaise Matuidi in Troyes spielte. In meinen Augen ist Eduardo im selben Alter weiter gewesen. (…) Er hat diese Leichtigkeit, die den Ball zum Leben erweckt. (…) Er spielt den Ball ab, ist immer anspielbar.“
Sein frühere Teamkollege Steven Nzoni, der sich in Rennes dem Youngster unterbewusst unterordnete, lobte den 19-Jährigen bereits vor zwei Jahren im Interview mit L’EQUIPE in den höchsten Tönen: „Er ist unheimlich reif für sein Alter. Das macht den Unterschied. Außerdem verfügt er bereits über ein immens variantenreiches Spiel. Das kommt eigentlich erst im Laufe der Jahre. Er wird sich stets weiter verbessern, ist aber schon auf einem hohen Niveau.“
Kein Wunder also, dass er am 8. September 2020 im Alter von 17 Jahren, neun Monaten und 29 Tagen beim 4:2-Erfolg über Kroatien in der Nations League für die französische Nationalmannschaft debütierte. Nur einen Monat erzielte er beim 7:1-Testspielsieg über die Ukraine in seinem zweiten Länderspieleinsatz seinen ersten Treffer für die Équipe Tricolore.

Die Zukunft der Blancos
Die Mischung aus Physis, Technik und Reife gepaart mit der Fähigkeit, den Rhythmus eines Spiels auch im jungen Fußballeralter bereits zu bestimmen, ließ ihn auf dem Radar verschiedener Top-Klubs auftauchen. Am Ende setzten sich die Königlichen im Ringen um die „Definition eines modernen Mittelfeldspielers“, wie der 15-fache französische Nationalspieler Hartem Ben Arfa gegenüber ESPN befand, gegen namhafte Konkurrenz wie Manchester United bekanntermaßen durch. Für 31 Millionen Euro wechselte er aus dem beschaulichen Rennes an die Concha Espina – um dort früh die Fans zu begeistern, denn schon bei seinem Debüt wusste er einzunetzen.
Mit Blick auf die kommenden Jahre – Camavingas Arbeitspapier läuft derzeit bis zum 30. Juni 2027 – sieht für den inzwischen neunfachen Nationalspieler vieles nach einer Weltkarriere aus. Einerseits vermischt er die Qualitäten des Taktgebers Fernando Redondo mit jenen Fähigkeiten des legendären Abräumers Claude Makélélé. Andererseits wird er nicht nur von seinen Mitspielern, sondern zugleich vom Madridismo geliebt. Gepaart mit der Tatsache, dass der 19-Jährige umgeben von absoluten Weltklasse-Mittelfeldspielern wie KMC tagtäglich von den besten Spielern der Welt lernt, stehen die Zeichen ohne Frage darauf, dass Camavinga, Valverde und möglicherweise auch Ceballos eine neue Ära einläuten könnten. Eine Ära, in der der 19-Jährige vielleicht sogar die wesentlichste Rolle spielen dürfte. Schon jetzt hat er es sehr weit geschafft – vom Flüchtlingslager über das Bernabéu bis ins CL-Finale!
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