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Der Architekt, der dem weißen Ballett versagt blieb

Das Champions-League-Halbfinale 2015 zwischen Real Madrid und Juventus Turin war vor allem für einen Spieler besonders: Andrea Pirlo. Der legendäre italienische Mittelfeldregisseur traf mit der „Alten Dame“ auf den Verein, für den er in seiner beachtenswerten Karriere so gerne gespielt hätte.

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Pirlo hätte ab 2006 um ein Haar regelmäßig im Bernabéu spielen können – Foto: imago images / AFLOSPORT

„Ich wollte immer für den besten Verein spielen“

TURIN/MADRID. Als Andrea Pirlo 2013 im Estadio Santiago Bernabéu auflief, verabschiedeten ihn die Madridistas mit stehenden Ovationen. Wenigen gegnerischen Spielern wurde diese Ehre bisher zuteil. Pirlo berichtete im Nachhinein von einem „Gänsehaut-Abend“, obgleich er und seine Kollegen die Champions-League-Gruppenphase-Partie gegen den spanischen Rekordmeister mit 1:2 verloren. Der „italienische Mozart“, wie er wegen seiner eleganten Spielweise genannt wird, hätte solche Abende gerne öfter erlebt. Dass Pirlo, der seine Karriere 2017 beendete, bis heute Wehmut empfindet, nie das weiße Trikot getragen zu haben, ist kein Geheimnis. „Ich wollte immer für Real Madrid, den besten Verein der Geschichte, spielen“, sagte der italienische Feingeist einst.

Ein Engagement beim offiziell besten Verein des 20. Jahrhunderts wäre eine perfekte Abrundung seiner außerordentlichen Karriere gewesen. Nach Italiens WM-Triumph im Jahre 2006 eröffnete sich ihm die Möglichkeit, ein Königlicher zu werden. Die Gespräche waren weit fortgeschritten – so weit, dass Pirlo an nichts anderes als an seine Zukunft bei Real denken konnte. Doch als alles geklärt zu sein schien, grätschte sein damaliger Arbeitgeber AC Mailand dazwischen. In seiner Autobiographie „Ich denke, also spiele ich“ berichtete der zweifache Champions-League-Sieger:

Es ist der Sommer 2006, wir haben gerade die Weltmeisterschaft gewonnen und ich liebe das Leben. Ich gehe raus, steige auf mein Fahrrad und fahre durch die schmalen, ruhigen Straßen von Forte dei Marmi. Als ich mir das Meer anschaue, halten Menschen an und klopfen mir auf die Schulter.
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Sie dachten damals wohl, ich sei noch erschöpft vom Turnier. Aber es gab da eine Sache, von der sie nichts wussten. Denn so wie es in dem Moment aussah, war ich ein Spieler Real Madrids und nicht von Milan. Ich war in meinem Kopf, meinem Herzen und meiner Seele ein Madrid-Spieler. Auf mich wartete ein Fünf-Jahres-Vertrag und ein Gehalt, das nicht von dieser Welt war.
 
Es sah aus, als hätten es einige Leute bei Milan zu weit getrieben – jedenfalls machten solche Gerüchte die Runde. Calciopoli war schon wieder das zweitheißeste Thema und das nur kurz nach dem Triumph im Elfmeterschießen in Deutschland.
 
An einem Tag waren wir noch tot und abgestiegen in die Serie B. Am nächsten Tag war von einer 15-Punkte-Strafe die Rede. Dann sprachen sie davon, uns unsere Titel wegnehmen zu wollen. Nach einer Weile mutmaßte ich, dass es nicht Mark David Champan war, der John Lennon erschossen hatte, sondern einer der Milan-Direktoren.
 
Die ganze Sache war ein einziges Durcheinander. Niemand wusste, was los war und wie Milans Schicksal aussehen sollte. Am wenigsten ich. Eine Sache war aber für mich klar: Ich wollte nicht in die Serie B gehen. Und falls ich wechseln sollte, fühlte ich mich auch nicht als Verräter. Ich wusste nur, dass ich nicht für die Sünden anderer Leute bezahlen wollte.

Madrids Trainer Fabio Capello rief mich an. Und dann Franco Baldini, deren Sportdirektor. Alle wollten mich sprechen. Ich beratschlagte mich mit meinem Berater Tullio Tinti. Ich bat ihn, herauszufinden, was bei Milan vor sich ging.

Wenig später hätte ich zurück in Milanello sein sollen. Um die Champions League zu erreichen, mussten wir in der Qualifikation gegen Roter Stern Belgrad ran. Tullio riet mir: „Geh noch nicht zurück. Lass mich mit Real sprechen. Wenn Du wirklich nach Forte dei Marmi einen Tapetenwechsel brauchst, dann fahr zu Deinem Haus in Brescia. Und lass Dein Telefon an, bald wirst Du einen Anruf bekommen.“

Ich war in meinem Kopf, meinem Herzen und meiner Seele ein Madrid-Spieler. Ich sah mich nach Madrid fliegen und irgendwo zwischen Plaza Mayor und Puerta del Sol landen…

Kaum hatte er es gesagt, da klingelte auch schon mein Telefon. Nostradamus war im Vergleich zu Tullio ein blutiger Anfänger.

„Hallo Andrea, hier ist Fabio Capello.“ Nur einer der erfolgreichsten Trainer in der Geschichte des Sports.

„Hallo Coach. Wie geht es Ihnen?“

„Mir geht es gut und ich schätze, Dir geht es noch viel besser. Komm’ zu uns! Wir haben gerade Emerson von Juventus geholt und wir möchten, dass Du im Mittelfeld der Mann an seiner Seite bist.”

„Alles klar.“

Er brauchte nicht lange, um mich zu überzeugen. Weniger als eine Minute, schätze ich. Nicht zuletzt, weil ich meinen Vertrag schon gesehen hatte. Mein Berater hatte ihn im Detail durchgelesen und war dann nach Madrid gereist.

„Andrea, es geht los.“

„Und ich freue mich darüber, Tullio.“

Ich stellte mir vor, wie ich das weiße Trikot trug. Rein und gleichzeitig aggressiv. Meine Gedanken waren häufig beim Bernabéu. Ein Tempel, der bei den Gegnern Furcht hervorrief.

„Was passiert nun als nächstes, Tullio?“

„Lass uns in ein paar Tagen Mittagessen gehen.“

„Wo? Meson Txistu am Plaza de Angel Carbajo?“

„Nein, Andrea. Nicht in Madrid. Milanello.“

„Was meinst Du mit Milanello? Bist Du verrückt?“

„Nein, Du hast richtig gehört: Milanello. Wir haben Gallianis Einverständnis noch nicht.“

Das Menü war immer dasselbe. Ich kannte es nur zu genau: Antipasti zunächst, Hauptgang, dann die legendäre Eiscreme mit Streuseln.

Wir trafen uns in dem Raum, in dem wir immer mit der Mannschaft speisten. Bei der Küche mit der Halle, in der Berlusconi am Piano seine Witze erzählte.

Tullio eröffnete das Gespäch: „Andrea wird bei Real unterschreiben.“

Dann ich: „Ja…“

Dann war Galliani dran. Er schaute mich direkt an. Andrea, mein Freund. Du gehst nirgendwo hin.“

Er holte eine kleine Schachtel unter dem Tisch hervor. Ich musste lächeln, denn das war in etwa so gut versteckt gewesen, wie Monica Lewinsky unter Bill Clintons Schreibtisch im Oval Office.

Er zog einen Vertrag heraus und Mr. Biro (Galliani) erklärte: Du wirst nicht weggehen, weil Du das hier unterschreibst. Es ist über fünf Jahre und wir haben die Spalte mit dem Gehalt leer gelassen. Du kannst dort eintragen, was immer Du möchtest.“

Tullio riss ihn mir aus den Händen: Ich behalte das.“

Er nahm sich Zeit. Er nahm es mit nach Hause und er las es erneut. Ich reiste zu einem Lehrgang der Nationalmannschaft in Coverciano. Einige Tage lang hörte ich nichts. Für mich war der Deal gelaufen: Ich dachte Spanisch, träumte in Spanisch. Meine Phantasie spielte verrückt. Ich sah mich nach Madrid fliegen und irgendwo zwischen Plaza Mayor und Puerta del Sol landen.

111 Gründe, Real Madrid zu lieben

Dann rief mein Berater mich an.

„Unterschreib bei Milan. Sofort. Sie werden Dich nicht weglassen.“

„Nein…“

„Doch.“

„Okay, in Ordnung.“

Anschließend ist man gezwungen, den Medien eine Menge Mist zu erzählen. Jedenfalls dann, wenn sie dir die richtige Frage stellen. Wenn sie dich fragen, ob du kurz vor der Unterschrift in Madrid standest, dann musst du dich hinter Klischees und Halbwahrheiten verstecken. Du liest ein lahmes, lebloses Skript vor, das dir jemand aus der Presseabteilung geschrieben hat. Ohne Talent und kreative Punkte.

„Nein, das ist nicht der Fall. Ich bin bei Milan sehr glücklich.“

Verp*** dich!

Es ist schade, dass es so gekommen ist. Ich hätte sofort bei Real unterschrieben. Der Verein hat mehr Glanz als Milan. Mehr Anziehungskraft, mehr Attraktivität, mehr alles. Er flößt seinen Gegnern Angst ein, egal wer diese auch sind.

Am Ende der Geschichte, am Ende der Saison gewann ich zum Trost die Champions League. Es hätte auch viel schlechter laufen können.

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Karriereende 2017 in New York

Inzwischen hat Pirlo seine Schuhe an den berühmten Nagel gehangen. Statt nach Madrid ging es für ihn 2015 zum New York City FC, wo er seine große Karriere zwei Jahre später beendete. Eine große Karriere, aber doch irgendwie nicht ganz perfekt, da er sich 2006 schon wie ein Madrid-Spieler fühlte.

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