Reportage

Kämpfer, Meisterdieb, Philosoph: Das ist Jorge Valdano

Einst traf er im WM-Finale gegen Deutschland, heuer hat er fast immer eine Meinung über Real Madrid. Weil Jorge Valdano die Königlichen über drei Jahrzehnte in unterschiedlichster Form begleitete. Aber auch, weil der 64-jährige Argentinier den Ruf als "Philosoph des Weltfußballs" genießt.

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Herausragend als Spieler, groß als Funktionär: Jorge Valdano – Foto: mtmad.es und Denis Doyle/Getty Images

Um festzustellen, das Jorge Alberto Francisco Valdano Castellanos kein gewöhnlicher Fußballer war, hatte man den 1,88-Meter-Stürmer nicht erst auf dem Platz beobachten müssen. Denn der Hüne stach schon früh auch auf anderen Ebenen heraus. Valdano bediente keine Klischees; war kein einfacher, ungebildeter Ballklopper. Fügte sich nicht allein aus Prinzip, ließ sich nicht den Mund verbieten, bildete sich zu (fast) allem eine Meinung und tat diese auch selbstbewusst kund. Gewiss nicht gewöhnlich in den 1970ern, schon gar nicht in Südamerika.

Rein sportlich galt der Argentinier zu Beginn seiner Karriere als eines dieser lobgepriesenen Wunderkinder. Längst nicht nur, weil der Rechtsfuß toll mit dem Ball umgehen konnte. Valdano war – was bei argentinischen Offensivspielern eben gerne gesehen wird – ein Kämpfer. Was allerdings für alle Lebenslagen galt.

Bereits 19-jährig hatte sich der 1955 in Las Parejas geborene Valdano dazu entschieden, seiner Heimat den Rücken zu kehren und über den Atlantik zum spanischen Zweitligisten Deportivo Alavés zu wechseln. Ausschlaggebend für die Karriere fernab der Heimat: die offene Unzufriedenheit des Stürmers mit der politischen Situation im von einer Militärjunta regierten Argentinien.

Ware Valdano: Durchbruch verzögert

Auch Alavés um Ex-Blanco José María Zárraga sah in Valdano keinen gewöhnlichen Fußballer – der Verein betrachtete den Neuerwerb vielmehr als Ware. Der Plan war, einen jungen Rohdiamanten zu holen, der sich nach kurzer Zeit für viel Geld weiterverkaufen ließe – ein rein finanzielles Vorhaben also. Doch der Plan von 1975 ging nicht auf.

Es sollte ganze vier Jahre dauern, ehe der Argentinier sich – während die Albiceleste 1978 ohne ihn Weltmeister im eigenen Land wurde – 1979 Real Zaragoza anschließen und endlich in die Primera Division aufrücken würde. Mit Erfolg: In fünf Jahren Zaragoza stiegen Valdanos Torausbeute und sein fußballerisches Ansehen erheblich. Phasenweise wurde er mit einem Wechsel zum FC Barcelona in Verbindung gebracht, wo Argentiniens Weltmeister-Trainer César Luis Menotti an der Seitenlinie stand. Nach dessen Abgang aus Katalonien verstrich diese Option.

Traumsturm: Mit Hugo Sánchez (li.) oder Emilio Butragueño ließ Valdano zahlreiche Abwehrreihen erschaudern – Foto: periodicoelbarrio.com

Stattdessen schloss sich der Angreifer 1984 Real Madrid an – wo er mit Ende zwanzig ins vermeintlich beste Fußballeralter kam. An der Seite der talentierten Nachwuchsgeneration “Quinta del Buitre” etablierte er sich schnell im königlichen Sturm. Neben Emilio Butragueño und ab 1985 auch Top-Transfer Hugo Sánchez gehörte Valdano zu Reals zuverlässigsten Torschützen.

Vielleicht auch, weil er solch großen Respekt vor seiner neuen Aufgabe hatte: “Jedes Mal, wenn ich im Schein des Flutlichts den Rasen des Bernabéu betrat, wurde ich nervös.”

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1986 war ohne Zweifel das Jahr in der Spielerkarriere Valdanos: Nach sechs Jahren Abstinenz führten auch seine 16 Saisontore Real zum ersehnten Meistertitel. Der Argentinier wurde zum besten ausländischen Spieler der Liga gewählt und triumphierte auch international: Bei der erfolgreichen Verteidigung des UEFA-Pokals war Valdano (sieben Treffer) bester Torschütze der Blancos, per Doppelpack ermöglichte er das 4:0-Comeback nach 1:5-Hinspiel im Achtelfinale gegen Borussia Mönchengladbach.

Auf die Krönung folgt der Schock

Bei der WM im selben Jahr erlebte die Nummer 11 (23 Länderspiele, sieben Tore) an der Seite ihres alles überragenden Landsmanns Diego Maradona (fünf Tore, fünf Vorlagen, “Auf dem Platz ist ihm niemand ebenbürtig”) Höhen und Tiefen: Argentiniens Mittelstürmer vergab im Turnierverlauf mehrere hochkarätige Torchancen, mit insgesamt vier Toren (eines im Finale gegen die Bundesrepublik Deutschland) trug Valdano allerdings auch maßgeblich zum zweiten WM-Titel der Albiceleste bei.

Nur ein Jahr später fand die Spielerlaufbahn Valdanos ein jähes Ende: Eine schwere Hepatitis-Erkrankung warf den erst 31-Jährigen völlig aus der Bahn, nach über einem Jahr ohne Einsatz musste er seine Fußballschuhe 1988 schließlich an den Nagel hängen.

Zweiter “Klau” in zwei Jahren: Schicksalsstätte Teneriffa

Zwischen Oktober 1984 und März 1987 erzielte der Weltmeister in 110 Partien für den spanischen Rekordmeister stolze 52 Tore. Doch damit nicht genug.

Valdano lebte den Fußball – und setzte sein Wirken in diversen Funktionen fort: Als Trainer von CD Teneriffa war er am letzten Spieltag der Saison 1992/93 sogar mitverantwortlich, dass die Merengues die Meisterschaft im zweiten Jahr hintereinander auf den Kanaren noch aus der Hand gaben. Valdano, der Meisterdieb.

Valdano beendet die Ära Cruyff – und beginnt die Ära Raúl

1994 lotste Real Valdano vielleicht auch deshalb einmal mehr an die Concha Espina, wo die Blancos in seinem ersten Jahr an der Seitenlinie die Regentschaft des Cruyff’schen Barça beendeten und Meister wurden.

Schon nach wenigen Monaten hatte Valdano übrigens einem 17-jährigen “No-Name” namens Raúl González Blanco zum Debüt verholfen und ihn frühzeitig – aber nicht zu früh – zum legitimen Nachfolger Butragueños gemacht. Zum Dank benannte Raúl später seinen erstgeborenen Sohn (Jorge) nach Valdano.

Ein Mentor junger Spieler: Trainer Valdano (li.) mit Álvaro Benito und Raúl González (re.) – Foto: marca.com

“Nachhaltiger Erfolg entsteht aus einer Verbindung von Leistung, Demut und Teamgeist” – ob Spielfeld oder Spielfeldrand: für Valdano, der immer größer dachte, eröffneten sich auch immer neue Wege. 1997 beendete er seine Trainerkarriere und wurde Fußballdirektor Real Madrids. Als solcher trug er unter Präsident Florentino Pérez um die Jahrtausendwende entscheidend zur Verpflichtung der “Galaktischen” Luís Figo, Zinédine Zidane, Ronaldo und David Beckham – wie auch zur Entwicklung des Vereins zur absoluten Weltmarke bei.

Ob seiner Expertise und Redegewandtheit erwarb sich Valdano Zeit seines Wirkens in der gesamten Szene den Ruf als “Philosoph des Weltfußballs”. Sein Wort hatte Gewicht und brachte vieles auf den Punkt. “Ich habe mehr Angst vor Erfolgen als vor Misserfolgen. Erfolge wiegen uns derart in Sicherheit, dass wir die Faktoren, die uns dorthin gebracht haben, gar nicht analysieren”, sagte zum Beispiel einmal der Mann, mit dessen Abgang im Juni 2005 auch die Ära der “Galácticos” endete.

2009 kehrte Valdano kurzzeitig als Generaldirektor zurück – ehe er sich mit José Mourinho verkrachte und 2011 sogar gefeuert wurde. Seitdem existiert Valdano im Kosmos Real Madrid als externer Einfluss.

Eiszeit: Mit José Mourinho verkrachte sich Valdano bei Real – Foto: Angel Martínez/Getty Images

Philosoph auf Lebenszeit – ewige Verbindung zu Real

Stets eckte und eckt der “Philosoph” an, allerdings immer den sinnvollen Fortschritt suchend. Jorge Valdano ist einer, der häufig frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte und immer noch erkennt (so kündigte er “unvermeidbare” dreistellige Ablösesummen an). Einer, der das “schöne Spiel” in seinen vielen Facetten verstehen gelernt hat.

In zahlreichen Zeitungskolumnen verleiht Valdano seiner Obsession (“Fußball ist ein Vorwand, um uns glücklich zu machen”) Ausdruck, sein Buch “Über Fußball” wurde 2006 beim Deutschen Fußball-Kulturpreis zum “Fußballbuch des Jahres” ausgezeichnet.

Wie schon auf dem Platz ist der Fußballer a.D. mal Virtuose, mal langt er aber auch hin. Schonungslos und doch erhaben. “Der Trainer gibt vor, der Spieler setzt um. Aber die Grenzen, die uns diese Taktiken auferlegen, verschleiern jeden Tag den Ausdruck neuer Talente. Eine Schande.” Valdano sträubt sich nicht gegen den Fortschritt, runzelt aber – wenn nötig – die Stirn: “Der Fußball entwickelt sich immer mehr zu einer großen Lüge, die von den Medien immer ausführlicher dokumentiert wird.”

Zuletzt war der inzwischen 64-Jährige hauptsächlich als Experte für BeIN Sports Spanien tätig. Außerdem berät er allerlei Unternehmen. Wie aus der Ferne eben ab und an auch Real Madrid. In diesen Fällen darf man die Ohren an der Concha Espina ruhig spitzen – denn “Philosoph” Valdano weiß meistens, wovon er redet.

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Baumgart's Fussballblog

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