
Um die Jahrtausendwende sind die Königlichen noch das sportliche Nonplusultra des europäischen Fußballs, doch der damalige Präsident Lorenzo Sanz findet nicht das wirtschaftliche Gleichgewicht und der Klub steckt in einem tiefen Berg aus Schulden fest. Florentino Pérez übernimmt 2000 das höchste Amt in der königlichen Führungsriege und bringt den im Sportgeschäft völlig unbekannten José Ángel Sánchez mit in sein Team, welcher den Posten als Marketingdirektor ausfüllt.
Der in Segovia geborene Sánchez war weder Fußballprofi, noch hat er den akademischen Werdegang im Sportbusiness eingeschlagen oder angestrebt. Nach seinem Philosophiestudium verschlägt es ihn zunächst zum japanischen Computerspiele-Entwickler SEGA (1995 bis 2000), wo er innerhalb kürzester Zeit zum Südeuropa-Chef aufsteigt und seine Einheit zu einer wahren „Cash Cow“ transformiert – der profitabelsten Abteilung des gesamten Konzerns. Nun hatte er Ähnliches bei den Blancos vor.
Zurück zum Mythos vergangener Tage
Und Sánchez zögerte nicht lange, seine visionären Ideen in die Tat umzusetzen: Er wollte aus den Königlichen eine globale Marke schaffen und den Ruhm einstiger Tage monetarisieren. Erste Schritte dazu stellte die Sicherung von Bildrechten eigener Luxus-Spieler dar, die Entwicklung von Mitgliedschaftsmöglichkeiten für Fans rund um den Globus und der Ausbau der vereinseigenen Internetpräsenz unter anderem hinsichtlich der Mehrsprachigkeit. Kurzum: Ein neues Zeitalter wurde eingeläutet! Es war auch der findige Manager, welcher Anfang des Jahrtausends Real Madrid und den Fußballsport als eine Art Show-Business verstand – entsprechend seines Vorbilds Walt Disney, womit Sánchez gerne Vergleiche zog, um seine Visionen darzustellen: Er verstand den Fußball bereits als Teil der Unterhaltungsindustrie mit dem Ziel, die Emotionen der Fans anzusprechen und sie mit ihren Träumen zu konfrontieren. Heutzutage gelebte Praxis, vor 20 Jahren ein Meilenstein in der Branche. Damals wurde er noch häufig belächelt – inzwischen wissen wir: Er hatte Recht!
Unter der Federführung von Pérez und seinem Business-Genie im Backoffice – auch beflügelt durch die Anschubfinanzierung aus dem Verkauf des einstigen Trainingsgeländes – gelingt dem Verein die Wiederbelebung des Mythos Real Madrid und die “Galácticos” wurden formiert. Der Geist und die Magie des weißen Balletts um Alfredo Di Stéfano wurden zurück ins Bernabéu geholt.
Das Prinzip war so einfach, wie nachvollziehbar: Medienwirksame Stars locken die Menschen ins Stadion und vor die Fernseher, spielen erfolgreicheren Fußball und ziehen damit wiederum neue Sponsoren und TV-Verträge an Land, die den teuren Luxus auf lange Sicht refinanzieren. „David Beckham brachte uns im Marketing- und Merchandising-Bereich 600 Millionen Euro ein“, gab Sánchez einst in einer seiner wenigen öffentlichen Äußerungen von sich. Zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte und als erster Klub in LaLiga verpasste Sánchez seinem Verein eine echte Marketingstrategie und einen Internationalisierungsplan.

Die im Jahre 2001 sehr kühn formulierte Vision, den spanischen Rekordmeister zur reichsten und profitabelsten Marke im Sportbusiness zu formen, wirkt heute schon längst nicht mehr vermessen. Elf Jahre am Stück führte man die „Deloitte Football Money League“ als umsatzstärkster Fußballverein der Welt an, ehe man im Jahr 2017 von Manchester United auf den zweiten Rang verdrängt wurde (2018 wieder Real, 2019 FC Barcelona). In sämtlichen Erhebungen, die den Wert eines Sportunternehmens bemessen, findet man die Königlichen aus Madrid unter den bestplatzierten Sportklubs weltweit. Die Nettoverschuldung wurde unter der Führung von Pérez und Sánchez von ursprünglich 255 Millionen Euro (2009) bereits 2017 egalisiert. Der Klub steht heute praktisch ohne Verbindlichkeiten da, stellt man den Schulden die klubeigenen Vermögenswerte gegenüber. „Ohne ihn hätten wir uns niemals einen so teuren Einkauf wie Zinédine Zidane leisten können“, hieß es schon 2001 vom damaligen Geschäftsführer Jorge Valdano.
Entgegen der Naturgesetze: Wirtschaftswachstum trotz sportlicher Ebbe
Sánchez hat es als Erster in der iberischen Eliteliga verstanden, einen Fußballverein in ein gewinnorientiertes Unternehmen umzuwandeln. „In Spanien hat Fußball vor allem mit grenzenloser Leidenschaft zu tun und weniger mit Verstand“, sagte er bei seiner Amtseinführung. Trotz des international ausbleibenden Erfolgs – insbesondere in den Jahren 2003 bis 2009, als die Königlichen nicht über das Champions-League-Achtelfinale hinaus kamen – machte der Spanier Real Madrid zu dem was es heute wieder ist: die schillerndste und anziehendste Marke im Fußballgeschäft. Eine Entwicklung, die allen vorher bekannten Gesetzen des Marktes widersprach: Wirtschaftlicher Wachstum, obwohl der sportliche Erfolg mehr oder weniger stagnierte. Während aus diesem Grund 2006 Florentino Pérez für drei Jahre sein Amt niederlegen musste, konnte “JAS” weiter an seiner Vision tüfteln, das Wappen und den Verein zu einer globalen Marke zu machen, die jeder Mensch auf dem Erdball sofort erkennt und wertschätzt.
Seit Pérez 2009 in sein Amt als Präsident der Königlichen zurückgekehrt war, fungiert der inzwischen 54 Jahre alte Sánchez als Generaldirektor der Blancos. Aber auch das frisch wiedervereinte und kongeniale Führungsduo um Pérez und Sánchez erkannte mit wachsender Unzufriedenheit der eigenen Fans die Notwendigkeit des sportlichen Ertrags. „Man muss verstehen, was die Fans fühlen, denn man kann keinen Verein führen, ohne die emotionale Seite zu verstehen“, sagt der selbst „seit 1996“ bekennende Madridista. Also setzte man nach den durchaus erfolgreichen Mourinho-Jahren (2010 bis 2013), der das königliche Starensemble zurück in die europäische Spitze führte, eher auf besonnene Moderatoren, die auch mit der aggressiven Medienlandschaft in Madrid besser umzugehen wussten, als der portugiesische Exzentriker. Auch in Sachen Transfers hielt man sich nach der Mourinho-Ära im Vergleich zu vielen anderen europäischen Konkurrenten zunächst spürbar zurück.

Philosoph im Haifischbecken
Bei jenem Asensio-Transfer war Sánchez bereits früh mit dem Spieler und seinen engsten Vertrauten in Kontakt, überzeugte ihn schlussendlich von der Perspektive und der neuen Strategie des Vereins in junge Spieler zu investieren und sicherte sich die Dienste des Offensivallrounders schlussendlich für nur 3,5 Millionen Euro. Eine Summe, in Zeiten des Transferwahnsinns, die derart absurd wirkt, dass selbst Michael Reschke, zu seiner Zeit Technischer Direktor beim FC Bayern München, sich dazu veranlasst fühlte, José Ángel eine SMS zukommen zu lassen: „Felicitaciones“, Glückwunsch, war der kurze, aber einzig zutreffende Inhalt der Nachricht. Auch Reschke wusste, dass dieser Deal ein wahrhaftiger Coup des Strippenziehers darstellte, denn der Marktwert des Offensivmannes stieg rasch an und erreichte zwischenzeitlich einen Wert von 90 Millionen Euro (Oktober 2018).
Diese kleine Anekdote rund um den Asensio-Transfer offenbart dabei nicht nur Sánchez’ strategisches Talent, es beweist ebenfalls, dass diesem Mann überall in Europa mit großem Respekt und Wertschätzung begegnet wird, weil er eben auch gewisse Werte vorlebt. Fragt man Wegbegleiter und die wenigen Journalisten, die von ihm mal ein Statement erhielten, so hört man stets die gleichen Adjektive: bescheiden, gebildet, visionär, respektvoll. „Seine Kombination aus starker Persönlichkeit, einnehmender, sympathischer Ausstrahlung und großem Intellekt haben mich immer beeindruckt“, formulierte es Reschke gegenüber Spox. Als „Visionär“ bezeichnet ihn auch Stefan Kohfahl, der Sánchez einst das Konzept zu Real Madrids Fußballschule präsentierte und nun umsetzte: „Für mich eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten, die ich je kennenlernte.“
Für die nächste Generation sorgt Sánchez selbst
Und dennoch, oder gerade wegen der neu gewonnenen Besonnenheit, landeten die Königlichen in den vergangenen Jahren einige Transfercoups: Man denke dabei an die Namen Toni Kroos, Casemiro oder Raphaël Varane, die allesamt das Gerüst der aktuellen Mannschaft bilden. Dazu setzte man in den letzten Jahren vermehrt auf die Dienste von Eigengewächsen oder auch jungen und aufstrebenden Talenten mit Entwicklungspotential. Und auf diese Weise fand auch der sportliche Erfolg unlängst wieder zurück in die spanische Hauptstadt. Selbst in puncto Transfereinnahmen und Ausgaben hat offensichtlich ein Umdenken stattgefunden. Die Führungsriege plant nun nachhaltiger und langfristiger, verkauft regelmäßig zu überdurchschnittlichen Preisen und wirkt insgesamt durchdachter und langfristig orientierter als noch vor einigen Jahren.
Der studierte Philosoph Sánchez denkt langfristig sowie in Visionen – und beschäftigt sich mit der Zeit nach seiner Ära als Lenker im Hintergrund. So durfte zwischenzeitlich kein geringerer als Raúl González Einblicke in die Welt des Schattenmannes erhaschen. Und ganz gleich, wer Sánchez eines Tages beerben wird, der Madridismo darf gespannt sein, an welchem Real Madrid der Querdenker bis dahin bastelt und welche Bürde er dann seinem Nachfolger übergibt. Bis dahin werden wir wenig von ihm hören, denn José Ángel Sánchez lässt seine Taten für sich sprechen und wird sich innerlich im Hintergrund freuen.
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