
Bernabéu-Stadion: Es ist still geworden
MADRID. An der einen oder anderen Ecke am Estadio Santiago Bernabéu stehen sie immer noch, die Schilder mit der Bitte, die Unannehmlichkeiten im Zuge des Umbaus von Real Madrids Heimstätte zu entschuldigen. „Rogamos disculpen las molestias“, steht darauf auf Spanisch geschrieben. Mittlerweile muss die Frage erlaubt sein: An wen richten sich diese Worte eigentlich noch? Jedenfalls nicht an die 81.044 Zuschauer, die in das Stadion passen.
Im Bernabéu ist es ruhig geworden. Exakt ein Jahr ist es jetzt mittlerweile schon her, dass dort zuletzt eine sportliche Veranstaltung stattgefunden hat, dass fußballbegeisterte Massen Madrids Busse und Züge gefüllt haben, in Scharen Richtung Concha Espina pilgerten. Ein Jahr lang kein Fußball mehr im Bernabéu, ein Jahr lang keine Tore, kein Jubel, keine Fans, keine Stimmung auch schon in den Straßen vor dem mächtigen Fußball-Tempel, keine Sprechchöre, keine Gesänge, keine Aufreger, kein Raunen, das bei gefährlichen Chancen durch das Rund geht. Schuld daran: dieses für die gesamte Welt so lästige Coronavirus.

1. März 2020: Real Madrid schlägt FC Barcelona
Nachdem die Königlichen wenige Tage zuvor das Champions-League-Achtelfinal-Hinspiel gegen Manchester City an Ort und Stelle trotz einer Führung 1:2 verloren hatten, standen sie an diesem 1. März 2020 im Bernabéu-Stadion unter Druck, als es in der Primera División mit einem ganz besonders wichtigen Partie weiterging: Clásico gegen den FC Barcelona. Selbst Cristiano Ronaldo, Reals Rekordtorjäger und Legende, schaute zu diesem Anlass erstmals seit seinem Abgang Mitte 2018 zu Juventus Turin vorbei.
Auch angesichts der über die vergangenen Jahre so schwachen Ausbeute vor heimischer Kulisse in Duellen mit dem Erzrivalen waren nicht gerade wenige Madridistas in Sorge gewesen, dass die realistischen Titelchancen im Falle einer weiteren Heim-Niederlage binnen weniger Tage ähnlich wie im Vorjahr verspielt werden. „Jetzt beginnt das große Zittern“, hatte auch REAL TOTAL nach der Pleite gegen ManCity und vor dem Clash mit Barça getitelt. Es kam aber anders: Real gewann 2:0. Erst lenkte Gerard Piqué einen Schuss von Vinícius Júnior entscheidend in das eigene Tor, in der Nachspielzeit verpasste der eingewechselte Mariano Díaz dem erbitterten Rivalen dann den Gnadenstoß.
Ein Jahr nicht ins Bernabéu: Was hätten die Fans gesagt?
Für das weiße Ballett war es in der Liga der erste Clásico-Erfolg im Bernabéu seit Oktober 2014. Mehr als fünf Jahre waren vergangen. Obendrein gelang es dem Team von Zinédine Zidane damit auch noch, Barça in der Tabelle wieder von Platz eins zu stoßen. Aus der Sicht der Anhänger zusätzliche Gründe, diesen Sieg ausgelassen zu bejubeln.

Wie diese 80.000 Real-Liebenden im Bernabéu wohl reagiert hätten, wenn man ihnen gesagt hätte, dass sie nun mindestens ein Jahr lang nicht mehr hierhin zurückkehren würden? Sie wären wohl nicht einmal ernsthaft darauf eingegangen, weil es in dieser normalen Welt ein völlig undenkbares Szenario war. An jenem 1. März 2020 war COVID-19 global zwar längst ein Thema und mancherorts auch bereits in Europa aufgetreten, im Bernabéu selbst aber bestenfalls eine Randnotiz. Menschen mit Mund-Nasen-Bedeckungen auf der Tribüne ließen sich an zwei Händen abzählen. Ja, es gab diese Zeiten tatsächlich, als Menschen unter 80.000 Gleichgesinnten einfach normal nebeneinander saßen und nicht gezwungen waren, auf Abstand zu gehen und sich etwas hinter die Ohren zu klemmen.
Real Madrids letztes Spiel vor Fans am 8. März 2020
Die Blancos kamen nach diesem Clásico noch einmal in Anwesenheit von Zuschauern auf den Rängen zum Einsatz, als sie am 8. März 2020 bei Real Betis gastierten und 1:2 verloren. Dann wurde der Fußball – wie so vieles andere im öffentlichen Leben auch – vorerst eingestellt, weil das vor allem für ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen gefährliche Coronavirus immer mehr grassierte.
Umzug in das Estadio Alfredo Di Stéfano
Nach Ladenschließungen, Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren durften die LaLiga-Klubs um Titelaspirant Real ihre für drei Monate unterbrochene Saison Mitte Juni fortsetzen – aber selbstverständlich ohne Fans vor Ort. Von Geisterspielen hat noch nie jemand geschwärmt, doch sie waren die einzige Möglichkeit, dass es weitergeht, dass die Vereine durch die damit gesicherte Ausschüttung von Fernsehgeldern nicht noch mehr finanzielle Einbußen hinnehmen mussten.

Für die Merengues war der Re-Start zugleich auch ein Neubeginn – weil sie aufgrund der Spiele ohne Zuschauer ihre Heimstätte wechselten. Der Klub entschloss sinnvollerweise, den ja seit Mitte 2019 laufenden Umbau des Estadio Santiago Bernabéu und die dort zuständige Baufirma FCC Construcción nicht unnötig zu stören und einfach auf das Estadio Alfredo Di Stéfano auszuweichen, solange es verboten ist, dass Fans den Pflichtspielen beiwohnen. Das ist auch jetzt, ein Jahr später, noch immer so. Zum Bedauern all jener, die abgesehen vom Fußball als reines Spiel auch den Event-Faktor, das Spektakel so schätzen.
Das Estadio Santiago Bernabéu macht sich frisch
Dazu gehören auch die Protagonisten auf dem Feld selbst. „Der Spaß leidet darunter“, gab Toni Kroos erst kürzlich offen und ehrlich zu. „Es ist ja eines der schönen Annehmlichkeiten von Real Madrid, dass du normalerweise in so einem Stadion vor 80.000 Menschen spielen kannst. Da will jeder Fußballer hin. Man merkt natürlich, was fehlt.“
Immerhin: Für den Bernabéu-Umbau hätte es keinen besseren Zeitpunkt der Pandemie geben können. Reals 73 Jahre altes Wohnzimmer kommt mal zur Ruhe, es wird bis Herbst 2022 ungestört frisch gemacht, noch moderner gestaltet, sieht jetzt schon anders aus – all das für die Zeiten, die dem 1. März 2020 wieder ähneln werden…
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