
Achtelfinale in der UEFA Champions League. Vor der Brust: Manchester City. Im Nacken: eine 1:2 Hinspiel-Niederlage, die wett gemacht werden muss. Leader und Abwehrchef Sergio Ramos fehlt zu dieser wichtigen Partie aufgrund einer Sperre, Raphaël Varane soll die Defensive führen und das Kommando übernehmen. Doch das Unterfangen scheitert: Trotz eines guten Starts in die Begegnung unterlaufen dem Franzosen zwei folgenschwere Fehler – Real verliert und fliegt raus. Varane stellt sich, übernimmt die Verantwortung vor der Presse, denn diese hat schnell im 1,91 Meter-Mann den Sündenbock für das Ausscheiden ausgemacht. Kritik, die seitdem und bis heute nicht mehr ganz verstummen soll, denn jeder Wackler seit der Nacht von Manchester wird mit Argusaugen beobachtet und dem Verteidiger angekreidet. Der Vorwurf: Varane könne nur mit Ramos! Doch ist das berechtigt?
“Ohne Sergio waren wir defensiv nicht gut”
Dazu eine wichtige Info vorab – und das bitte auch immer im Hinterkopf behalten: Hat man einen Sergio Ramos in seinen Reihen, wäre dessen Fehlen überall zu spüren, denn ein Spieler dieses Formats macht jede Abwehrkette besser. Im Umkehrschluss: Den womöglich besten Verteidiger aller Zeiten kann man eben nicht 1:1 ersetzen. Varane hat also in seinem Nebenmann direkt die maximal mögliche Messlatte für seine Position zur Seite stehen. Vergleiche liegen nahe, allerdings hinken sie. Fehlt Ramos, fehlt natürlich auch dessen Leidenschaft, dessen Wille und Antrieb. “Als Sergio nicht dabei war, war die Mannschaft in keiner guten Verfassung”, erkannte auch der Franzose die Situation und führte fort: “Sein Charakter ist sehr gut für das Team.” Vor allem bei Geisterspielen ist deutlich zu vernehmen, dass Ramos nahezu jeden Pass auf dem Spielfeld kommentiert und permanent dirigiert – er ist der Chef auf dem Rasen und seine Abstinenz hinterlässt stets Lücken. So erklärte auch Toni Kroos im September, dass er “was Kapitäne betrifft, bisher noch nichts Besseres gesehen” habe. An dieser stelle kann man Varane natürlich vorwerfen, dass er dieses Vakuum zuweilen nicht auszufüllen vermochte, aber macht das denn auch Sinn?

Varane ist ein anderer Charakter als Ramos und keine billige Kopie, zumal es Spielertypen wie den Spanier nur alle paar Generationen geben kann. “Ich weiß nicht, ob es Zufall ist, aber ohne Sergio waren wir defensiv zuletzt nicht gut”, gab auch der 67-fache französische Nationalspieler zuletzt zu bedenken, der selbst seine schwächsten Auftritte in Abwesenheit von Ramos hatte und sich deshalb dieser Vorwürfe ausgesetzt sieht. Allerdings sollten derartige Schuldzuweisungen immer mit Bedacht gestreut werden, denn ohne Dirigent, ist jedes Orchester nur noch die Hälfte wert. Varane hingegen kann und will sein spanisches Pendant nicht imitieren, und das aus gutem Grund: Es würde die vielbeschriebene gegenseitige Ergänzung schmälern und damit die Gesamtleistung sinken. Daher ein weiterer Hinweis für alle notorischen Kritiker des Franzosen: Raphaël Varane ist nicht Sergio Ramos! Denn, die Mischung macht’s, so sieht es auch die Nummer 5 der Königlichen: “Meine Qualitäten ergänzen sich zu denen von Sergio sehr gut. Ich mache Sergio besser und er macht mich besser”, schildert der besonnene, selten foulende geschweigedenn Karten kassierende und nicht aus der Ruhe zu bringende Varane die Harmonie mit Kollege Ramos. Logisch auch deshalb, dass jeder ohne seinen eingespielten Partner nicht ganz an sein Limit kommt.
Statistiken: Varane mindestens gleichauf
Bezeichnend auch: In LaLiga bringt es Varane auf durchschnittlich 4,3 Klärungen pro Partie – nur neun Spieler haben noch bessere Werte, darunter kein Ramos, sondern beispielsweise Raúl Albiol (4,5) oder David García (5,3). Auch Team-intern nehmen sich die beiden hinsichtlich Balleroberungen nicht viel, wohingegen Varane mit viel weniger Fouls auskommt – allesamt eigentlich keine neue Erkenntnisse.
Zahlen sprechen für Varane
Und weiter im Kontext: Besser wäre es grundsätzlich, von einer Symbiose der beiden zu sprechen, in der sie jeweils voneinander profitieren. Ramos fehlte in der vergangenen Saison nebst dem einleitend erwähnten Spiel gegen City auch bei drei Aufeinandertreffen in LaLiga: Allesamt wurden gewonnen und nur dem FC Sevilla gelang ein Treffer gegen die Abwehrkette, welche von Varane stellvertretend gesteuert wurde. Der 2011 vom RC Lens gekommene Verteidiger fehlte übrigens in jener Saison sechs Mal, wobei die Königlichen lediglich bei drei dieser Spiele siegreich das Feld verlassen hatten. Zahlen, die eher für Varane, als für Ramos sprechen. Denn auch der Kapitän scheint mit Varane besser zu können, als mit anderen Verteidigern. Nur erntet der Kapitän dafür keine Kritik, die erstickt er mit seiner Offensivkraft, welche bei Varane nicht derartig ausgeprägt ist, allerdings auch schon zu 15 Toren in 328 Auftritten für die Blancos geführt hat.
Jetzt kann man natürlich noch explizit den schwachen Auftritt von Varane gegen Donetsk monieren, wo der 27-Jährige alles andere als eine gute Figur gemacht hatte, aber irgendwo gehört das auch zu den gängigen Höhen und Tiefen einer Spielzeit. Zumal die Blamage gegen die Ukrainer auch als kollektiver Tiefschlaf verbucht werden kann, worin der Abwehrmann mit Wurzeln aus Martinique als eines der letzten Glieder in einer viel zu langen Fehlerkette agierte. Und auch Ramos – bei all seiner “Sturm- und Drangphase” – ist in erster Linie Verteidiger und dabei nicht völlig abstinent gegenüber etwaigen Wacklern in der Defensivarbeit, wie unter anderem zuletzt gegen Gladbach in der Königsklasse.
Nicht fehlerfrei, aber Weltklasse
Was bleibt? Varane ist nicht frei von Fehlern, korrekt. Die Ausrutscher von City waren eklatant, sind aber auch abgehakt: “Das gehört der Vergangenheit an”, sagt er selbst zu dem Thema und zieht inzwischen Positives daraus: “Aus der Vergangenheit muss man lernen und dann stärker und besser werden.” Zudem sollte eine ganz wichtige Tatsache keineswegs vergessen werden. Varane ist eben erst 27 Jahre alt, was angesichts seiner bereits zehnten Spielzeit für die Merengues kaum zu fassen ist. Zwar kein junges Früchtchen mehr, aber noch auf dem weg an den Zenit seiner Schaffenskraft. Auch der sieben Jahre ältere Ramos wurde erst mit zunehmendem Alter immer wichtiger für die Zidane-Elf. Ein Prozess, der Varane noch bevorstehen kann.

„Ich fühle mich reifer, kompletter und abwechslungsreicher in meinem Spiel. Ich habe als Profi sehr früh angefangen und für die Position im Abwehrzentrum braucht man Zeit und Erfahrung”, schätzte der Franzose im Sommer seine Situation ein. “Manchmal vergessen wir mein Alter, normalerweise erreicht man seinen Zeit auf der Position zwischen 28 und 30. Ich bin jetzt 27, von daher komme ich dem näher.” Bei all der Kritik sind das doch rosige Aussichten, für das Abwehrzentrum der Königlichen. Nicht umsonst ist er der Feldspieler mit der drittmeisten Einsatzzeit (auch vor Ramos) beim Gewinn des Liga-Titels gewesen. Und auch wenn wieder Fehler passieren sollten, ist der Weltmeister von 2018 inzwischen auf einem derartigen Niveau, dass er unbeirrt seinen Weg weitergehen wird – denn genau das macht einen Weltklasse-Spieler aus.
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