
Der Mann, den alle schon abgeschrieben hatten
RIO DE JANEIRO. Der FIFA Ballon d’Or wird alljährlich dem besten Fußballer der Welt verliehen. Entscheidend sind dabei die individuellen Leistungen und nicht die kollektiven Erfolge, bei denen ein Spieler zusätzlich im Bestfall auch noch der Fixpunkt und herausragende Mann für seine Mannschaft gewesen ist. Würde man diesen Preis, der für das Jahr 2013 an Weltstar Cristiano Ronaldo ging, jedoch nach jenen Team-Erfolgen vergeben, würde für 2014 absolut kein Weg an Sami Khedira vorbei führen. Wirklich keiner. Das Jahr ist bei weitem noch nicht beendet, doch schon jetzt, Mitte Juli, könnte man ihn zweifelsohne als so etwas wie den „Spieler des Jahres“ bezeichnen. Die zurückliegenden Monate des Mittelfeldspielers von Real Madrid, der entgegen unzähliger Medienberichte aktuell nicht vor einem Wechsel zum FC Arsenal steht, gleichen einem Märchen.
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Rückblende: Der 15. November des letzten Jahres dürfte als der bislang schwärzeste Tag in der Karriere des gebürtigen Stuttgarters eingehen. Beim Test-Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft im Mailänder San Siro gegen Italien zog er sich in der 67. Minute in einem Zweikampf mit Mittelfeld-Legende Andrea Pirlo eine schwerwiegende Verletzung am rechten Knie zu: Innenbandriss und Riss des vorderen Kreuzbandes. Als die Diagnose in den frühen Morgenstunden des 16. November feststand, war sofort klar: Den „Sechser“ wird man lange, sehr lange nicht auf dem grünen Rasen gegen den Ball treten sehen. Khedira hat eine Verletzung heimgesucht, die zu den gravierendsten des Sports zählt und dementsprechend eine monatelange Pause zur Folge hat. Bei einem erlittenen Kreuzbandriss wird in der Regel mit einem halben Jahr gerechnet. Da sich der Mittelfeldmotor jedoch eben auch das Innenband riss, hielten viele es für praktisch unmöglich, dass er als einer von 23 Spielern mit der DFB-Truppe zur Weltmeisterschaft nach Brasilien reist. Zum Zeitpunkt der Verletzung waren es nur noch sieben Monate bis zum Turnier-Auftakt. Sieben Monate, in denen man nicht nur wieder gesund, sondern auch annähernd spielfit werden muss, um auf höchstem internationalen Niveau bestehen zu können. „Ich glaube, das war’s mit der WM für Sami Khedira. Ich kenne das von meinen eigenen Verletzungen. Er wird es bis zum Sommer nicht schaffen, auf ein Top-Niveau zu kommen“, fürchtete Rekordnationalspieler Lothar Matthäus bereits zwei Tage nach dem Schock. Er war nicht der Einzige, der das vermutete, sondern sprach vielmehr aus, was nahezu jeder gedacht hatte.

Die Verantwortlichen der Nationalmannschaft gehörten nicht dazu. Und erst recht nicht dieser Sami Khedira, dessen Mentalität dem Hadern, der Traurigkeit und Enttäuschung nicht viel Raum gab. „Sami war direkt in der Nacht schon fokussiert auf die Zeit nach vorne. Er hat der Wahrheit einfach entgegengesehen und schon entschlossen nach vorne geschaut und gedacht, was er machen kann, um gesund zu werden“, berichtete Oliver Bierhoff.
Nach nicht mal fünf Monaten wieder im Team-Training
Er wurde gesund. Nicht irgendwann, sondern zu einem beachtlich frühen Zeitpunkt. Am 13. April diesen Jahres kehrte Khedira bei den Königlichen ins Mannschaftstraining zurück. Nach 149 Tagen, nicht einmal fünf Monaten seit dem Italien-Spiel, und 60 Tage vor der WM-Eröffnung. Hinter dem Schwaben lagen mehrere Monate harte und intensive Arbeit. Er kämpfte für das schnellstmöglichste Comeback und insbesondere die Teilnahme an der WM, die für jeden Fußballer das Größte ist. Immer wieder war davon die Rede, er denke von Tag zu Tag, mache einen Schritt nach dem anderen. Was sich sonst stets nach einer Plattitüde anhört, waren in Khediras Fall ehrliche Worte. „Meine Disziplin habe ich schon von Zuhause mitbekommen, von meinen Eltern. Sie haben mir beigebracht, dass du diszipliniert sein musst, wenn du etwas erreichen möchtest. Wenn etwas so Großes wie eine Weltmeisterschaft ansteht, musst du alles andere hintenan stellen und alles tun, um das Ziel zu erreichen. Das habe ich getan“, meinte die Nummer 6 kürzlich im WELT-Interview im WM-Quartier des DFB.
Erfolg ist Kopfsache. Man muss sich bewusst machen, wofür man arbeitet. Dann steigt die Bereitschaft, sich zu quälen Sami Khedira
Im WM-Quartier des DFB – richtig. Der 27-Jährige schaffte es nach Brasilien, die Arbeit zahlte sich aus. In den Wochen vor der Kader-Bekanntgabe deutete Bundestrainer Joachim Löw bereits an, dass er den Real-Star alleine schon aufgrund dessen Führungsqualitäten, großer Erfahrung und des Standings im Team mit an den Zuckerhut nehmen werde. „Es hatte sich schon länger abgezeichnet, dass es für ihn reichen würde“, teilte gegenüber REAL TOTAL auch Co-Trainer Hansi Flick mit.
Ancelotti vertraut Khedira: Startelf im Finale der Königsklasse
Einen gewichtigen Anteil daran hatte auf der anderen Seite natürlich auch, dass der Deutsche Meister von 2007 mit dem VfB Stuttgart nach der Trainings-Rückkehr am 13. April rund vier Wochen später am 11. Mai bei der 0:2-Niederlage der Madrilenen bei Celta Vigo sein Pflichtspiel-Comeback feierte und schließlich noch auf weitere zwei Einsätze kam – einer davon in keinem geringeren Spiel als dem Champions-League-Finale am 24. Mai gegen Atlético Madrid (4:1). Eine Partie, deren Wichtigkeit für Real Madrid nicht zu überbieten war. Nach zwölf Jahren stand das weiße Ballett erstmals wieder im Endspiel der Königsklasse – und in diesem Khedira in der Startelf. Weder Asier Illarramendi noch Carlos Casemiro, die praktisch während der gesamten Spielzeit verletzungsfrei blieben, durften von Beginn an ran. Khedira durfte es. „Der Trainer hätte mich nicht aufgestellt, wenn ich im Training keinen guten Eindruck hinterlassen hätte“, sagte er.
Das dritte Match nach der langen Verletzungspause sollte nicht das beste des Abräumers werden. Ihm fehlte es erkennbar an Spielpraxis und Spielrhythmus, was man nach dieser langen Leidenszeit aber eben auch nicht von heute auf morgen zurückerlangen kann. Und dennoch: Dass Khedira in der Saison überhaupt noch mal auch nur zu einem Kurzeinsatz kommen würde, hielt der Großteil am 16. November 2013 für schlicht unmöglich, nicht realisierbar. Und so war er einer von 23 Madrilenen, die sich mit dem langersehnten Gewinn von „la Décima“, dem zehnten Champions-League-Triumph, in die Geschichtsbücher der Königlichen eintragen konnten – als jemand, der auf dem Rasen stand und nicht in Schlips und Kragen auf der Tribüne saß. 2010 holte José Mourinho den 52-fachen Nationalspieler nach Madrid, dreimal in Folge schied man im Halbfinale der Königsklasse aus. Im vierten Anlauf sollte der Traum endlich wahr werden. Khedira und Co. bewiesen einen langen Atem.
Wenig später sollte sich ein weiterer Traum erfüllen: der Gewinn der Weltmeisterschaft mit der deutschen Nationalmannschaft nach dem 1:0-Final-Sieg über Argentinien, bei dem er aufgrund von Wadenproblemen im Dienste der Mannschaft handelte, nichts riskierte und sich kurzfristig aus der Startelf nehmen ließ, um einem fitteren Spieler ran zu lassen. Christoph Kramer von Borussia Mönchengladbach vertrat ihn. Die Trophäe ging dank des Treffers von Mario Götze in der 113. Minute an die DFB-Truppe. Der Titel, auf den die Bundesrepublik sechs Turniere und 24 Jahre lang sehnsüchtig wartete. Khedira konnte im Laufe des Turniers unter Beweis stellen, dass er sich seine Nominierung nicht nur aufgrund seiner Stellung in der Mannschaft als Führungsspieler, sondern auch von den Leistungen her verdient hatte. Mit Ausnahme der letzten Partie in der Gruppenphase gegen die USA und jenem gestrigen Endspiel stand der Madrilene in jedem der restlichen fünf Spiele auf dem Rasen. Auch das war Mitte November 2013 nicht zu erwarten. Absolut nicht.
Der Mittelfeldspieler ist das perfekte Beispiel dafür, dass mit Fleiß, Ehrgeiz und Disziplin so einiges möglich ist. Das Fußball-Jahr 2014 ist das Jahr des Sami Khedira. Er ist der aktuell erfolgreichste Spieler der Welt und wird das Kalenderjahr auch als solcher beenden – nicht gemessen an der Anzahl der gewonnenen Trophäen, sondern der Bedeutung. Etwas Größeres als diese beiden gibt es nicht. Kein Cristiano Ronaldo, kein Sergio Ramos, kein Gareth Bale, kein Ángel Di María. Sami Khedira hat sie beide errungen. Das gelang mit Roberto Carlos einem Merengue zuletzt 2002. Doch die Geschichte des „deutschen Arbeiters“ besitzt eine noch speziellere Note. Rückkehrer, Champions-League-Sieger, Weltmeister – wie im Märchen.
Sami Khedira is just the 10th person to win the Champions League and World Cup in the same year. pic.twitter.com/gFyxmZJPmS
— ESPN FC (@ESPNFC) 13. Juli 2014
Das neue Trikot der Königlichen mit KHEDIRA-Aufdruck: weiß oder pink!
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