Reportage

Der Faktor Bernabéu

Real Madrid ist in Besitz einer Anhängerschaft, die sie es so wohl kein zweites Mal gibt. Aufgrund der ruhmreichen Historie des Vereins erwarten die Fans nichts als schöne Spiele, Siege und Titel. Und weil sie Erfolge gewohnt sind, halten sie es oftmals nicht für notwendig, das Team lauthals zu unterstützen – gerade gegen kleinere Gegner. Doch sie können auch anders, die Madridistas.

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Real Madrid Fans
Real Madrids Anhänger werden sich gegen Wolfsburg wieder von ihrer besten Seite präsentieren

Die zwei Gesichter der Madridistas

MADRID. Wenn die Fans von Real Madrid an einem Samstag oder Sonntag zu einer Liga-Partie ins Estadio Santiago Bernabéu pilgern, dann in der Regel unaufgeregt, mit einem ruhigen Puls und der Erwartung, unterhaltsame 90 Minuten zu erleben. Doch selbst wenn die Königlichen das Spiel erfolgreich gestalten, bleibt vielen Madridistas dieser Nachmittag oder Abend nicht als ein unvergesslicher in Erinnerung. Wer eine zweite Anhängerschaft wie die der Blancos sucht, der wird sicherlich nicht fündig. Und das muss man erst einmal verstehen.

Siege gelten aufgrund der glorreichen Historie des inzwischen 114 Jahre alten Real Madrid als Selbstverständlichkeit – gerade gegen Underdogs. Gemessen an den großen Erfolgen aus der Vergangenheit gibt es nur noch wenige Kontrahenten, die man an der Concha Espina als ebenbürtig einstuft. Dieser Klub ist das Nonplusultra in der Fußball-Welt und sträubt sich auch keineswegs davor, sich als solches zu sehen – allen voran die Fans. Wer soll dem Rekordchampion im Europapokal und in der spanischen Liga wirklich ernsthaft die Stirn bieten können? Eine Handvoll Verein vielleicht. So sehen viele Madridistas das.

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Und deshalb unterstützen sie das weiße Ballett auch nicht, wenn es gegen die kleineren oder weniger namhaften Mannschaften spielen muss. Nicht aus Protest oder dergleichen, sondern frei nach dem Motto: „Singen, klatschen, anfeuern? Das brauchen die nicht, die schaffen das gegen diesen Gegner auch ohne unsere Unterstützung!“

Mit Ausnahme der Anhänger in der Südkurve kommen die Menschen meist nur, um unterhalten zu werden. Hinsetzen, genießen, verschwinden. „Die müssen mich animieren! Es kann doch nicht umgekehrt sein!“, hört man von so manch einem Herren mittleren Alters, der währenddessen genüsslich seine Sonnenblumenkerne isst. Daher wirkt es von der Stimmung her auch oftmals so, als wären nicht um die 70.000, sondern lediglich 15.000 Zuschauer im Stadion. Ausverkauft ist es während der Saison nur allzu selten.

111 Gründe, Real Madrid zu lieben

Das ist die Kultur Real Madrids. Applaudiert wird dann, wenn das Team gut spielt, gepfiffen, wenn das nicht der Fall ist. Brasilien-Legende Ronaldo formulierte einst: „Ich habe das Bernabéu einmal mit einer Frau verglichen, die jeden Tag erobert werden und für die man jeden Tag das Beste geben muss. So musst du auch mit dem Bernabéu umgehen. Jeden Sonntag, wenn wir dort spielen, müssen wir unser Bestes geben und eine Show abliefern. Denn das ist das, was die Leute von uns erwarten.“

Wenn die Oper zum Hexenkessel wird

Doch sie können auch anders, die Madridistas. Sie können sich auch die Kehle aus dem Hals schreien, sie können auch animieren, sie können die elf Blancos auch wie der viel zitierte „zwölfte Mann“ nach vorne peitschen, mit einem Mal ihre totale Leidenschaft für diesen Verein unter Beweis stellen.

Nicht nur während der 90 Minuten, sondern auch schon zuvor auf den Straßen, wenn der Teambus den Fußballtempel erreicht und die Anhänger ihrem Adrenalin und der unbändigen Lust auf das anstehende Match freien Lauf lassen. Doch das alles tun sie nur dann, wenn in ihrem Bernabéu ein echter Fußball-Leckerbissen steigt oder ihre Helden nach einem verkorksten Hinspiel auf eine Aufholjagd vor heimischer Kulisse angewiesen sind. Große Spiele in der Liga gegen den FC Barcelona, auf europäischer Ebene in den brisanten K.o.-Runden oder bei so manchem Derby gegen Atlético. Dann wird die Oper zum Hexenkessel.

Am heutigen Dienstagabend trifft das Team von Zinédine Zidane in „den eigenen vier Wänden“ auf den VfL Wolfsburg (20:45 Uhr, im REAL TOTAL-Liveticker). Ein kleiner Name, aber ein großes Spiel. Definitiv. Der Rahmen: das Viertelfinal-Rückspiel in der UEFA Champions League, bei dem es aufgrund der 0:2-Niederlage im Hinspiel jetzt um alles oder nichts geht. Real ist auf eine Aufholjagd angewiesen, will man das jähe Aus in der Runde der letzten Acht abwenden. Im Vorfeld der Partie ist es unbestritten, dass die Merengues auch wegen des Heimvorteils die Rolle des Favoriten inne haben. In keinem der zahlreichen Interviews wurde die Anhängerschaft als zwölfter Mann nicht erwähnt.

Das Bernabéu ist an Tagen wie diesen in der Lage, eine einmalige Atmosphäre zu kreieren, die Real eine Menge Mut und Selbstbewusstsein verleiht und dem Kontrahenten die Möglichkeit, sein Spiel aufzuziehen, nahezu komplett nehmen kann. Von einem für gegnerische Teams erdrückenden Ambiente war in der Vergangenheit ein ums andere Mal schon die Rede. Wird der Madridismo auch diesmal ausschlaggebend sein?

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von
Filip Knopp

Begleitet den Mythos Real Madrid als Fan seit der Ära der „Galácticos“ und journalistisch bei REAL TOTAL seit Mitte 2011. Erfahrungen auch bei SPORT1 und SPOX, zudem Autor von »111 GRÜNDE, REAL MADRID ZU LIEBEN«.

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