Kommentar

Die Chance, die es nie gab

Unter dem Strich war ein Trainer-Wechsel wohl nicht zu vermeiden, doch ist Rafael Benítez wirklich alleinig verantwortlich für seinen frühzeitigen Abgang? Oder anders gefragt: Hatte Benítez überhaupt jemals eine faire Chance? Ein Kommentar von REAL TOTAL-Redakteur Yannick Frei.

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Rafael Benítez hatte von Beginn an einen schweren Stand in Madrid

Jetzt ist es also passiert. 215 Tage nach seiner Vertragsunterschrift als Trainer Real Madrids ist die Personalie Rafael Benítez beim spanischen Rekordmeister schon wieder Geschichte. In Anbetracht der festgefahrenen Situation schien ein Trainer-Wechsel unausweichlich, wurde der spanische Übungsleiter zuletzt gefühlt für jeden einzelnen Fehler innerhalb des Vereins persönlich verantwortlich gemacht und auch der mediale Druck stieg die letzten Tagen und Wochen ins Unermessliche. Natürlich, Benítez war keineswegs frei von Fehlern und war aufgrund diverser Faktoren letzten Endes doch nicht die Lösung, die man sich erhoffte, doch trotzdem sollte man sich auf Madrider Seite nun ehrlich hinterfragen, ob dessen Scheitern allein auf diesen selbst zurückzuführen ist oder ob nicht doch auch andere Ursachen dahinter stecken.

Um ehrlich zu sein war das Projekt Benítez von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Seit Beginn seines Engagements an der Concha Espina war der 55-Jährige eigentlich unerwünscht. Sowohl in Spielerkreisen als auch unter den Fans war die Wut und Trauer über die Entlassung Carlo Ancelottis groß. Doch anstatt die Enttäuschung in Richtung des Hauptverantwortlichen, Florentino Pérez, zu richten, bekam Benítez die volle Breitseite ab. Liest man Interviews mit ehemaligen Spielern des früheren Coach des FC Valencia und des FC Liverpool, wie beispielsweise Santiago Cañizares oder Jamie Carragher, ist eines deutlich herauszulesen: Lässt man sich auf die Arbeitsweise und -methoden von Benítez ein, wird man früher oder später Erfolg haben.

Ob dies nun tatsächlich der Fall sein mag, sei dahingestellt, doch der Eindruck von außen gibt ein deutliches Bild ab: Diese Chance hat er bei den Königlichen eigentlich nie erhalten. Möglich, dass der frühere Castilla-Trainer nicht das gleiche Charisma wie sein Vorgänger besaß, aber dass er innerhalb der Mannschaft wohl keine allzu großes Ansehen genoss, ließ sie ihn ziemlich deutlich spüren. Das unnötige Unentschieden gegen Atlético, als man zu früh auf Ergebnis halten spielte, oder die Niederlage gegen Villarreal (0:1), als er bei der Aufstellung daneben griff, mögen zu großen Teilen auf seine Kappe gehen, aber meiner Ansicht nach kommen die Spieler zu gut weg. Die teils unerklärlichen Abwehrmängel lediglich auf die taktischen Fehler des Trainers zurückzuführen, erscheint mir dann doch zu einfach. Dass Benítez beispielsweise die Anweisung gegeben haben soll, mit vier (oder fünf) Mann vorne stehen zu bleiben, kann ich mir beim besten Willen freilich nur schwer vorstellen. Mit der Installierung Zinédine Zidanes haben die Profis jetzt jedenfalls kein Alibi mehr.

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Allerdings waren dem gebürtigen Madrilenen in gewisser Weise vermutlich auch die Hände gebunden. Auch wenn es in Madrid nur hinter vorgehaltener Hand gemauschelt wird, weiß jeder, dass Pérez beim Thema Aufstellung stets seine Finger im Spiel hat und diverse Spieler wohl niemals zur Diskussion stehen werden, so schwach ihre Leistungen auch sein mögen. Dass im Zuge der Clásico-Demontage Gerüchte kursierten, dass Benítez anstelle der zuvor verletzten Karim Benzema und James Rodríguez lieber Casemiro und Isco aufstellen wollte, um mehr Stabilität zu erlangen, passt dabei ins Bild. Letzten Endes entschied sich Rafa für die von vielen Fans (einschließlich mir selbst) sowie vermutlich auch von Pérez geforderten Aufstellung. Das Ergebnis ist bekannt. In jenem Spiel wurde allerdings deutlich, worin der gegenwärtige Unterschied zwischen Barcelona und den Blancos liegt.

Während man bei den Katalanen auf eine über Jahre gewachsene, schon von Johan Cruyff in den 80er-Jahren initiierte Struktur zurückgreifen kann, die ein einheitliches Spielsystem umfasst, das sich von der Jugend bis in die erste Mannschaft durchzieht, ist Real gegenwärtig nur ein loser zusammengekaufter Haufen von Stars, die nur äußerst schwer in ein passendes System gebracht werden können. Warum dieselben systematischen Fehler von Pérez Jahr für Jahr von den Mitgliedern hingenommen und nicht endlich einmal einschneidende Veränderungen vorgenommen werden, was die sportliche Ausrichtung des Kaders betrifft, wirft Fragen auf. Denn der Anteil des Präsidenten, der zweifelsohne auch seine guten Verdienste für den Verein hat, an der aktuellen Situation ist erheblich größer als der von Benítez! So langsam aber sicher sollte in meinen Augen auch einmal die Rolle des Vereinsoberhauptes mehr als nur hinterfragt werden.

Unter dem Strich sind es aber auch die Fans selbst, die sich hinterfragen sollten. Vor allem in den sozialen Netzwerken (sowohl in Deutschland als auch Spanien) wurde Benítez in den vergangenen Wochen durchweg wüst beschimpft, ganz egal ob die Fehler nun wirklich auf ihn zurückzuführen waren oder nicht. Mehrheitlich drifteten die Anfeindungen dabei in den persönlichen Bereich ab. Aber ist ein derart respektloser Umgang wirklich eines Vereins würdig, der von sich selbst behauptet, königlich zu sein? Eigentlich implizierte dieses „Königliche“ stets, dass man sowohl die eigenen Protagonisten als auch den Gegner mit Respekt, Würde und Anstand behandelte. Davon war bei der Personalie Benítez allerdings wenig zu spüren. Unter dem Strich mag er nicht die richtige Person für diesen Posten gewesen sein, doch den Menschen Rafael Benítez, teils auch noch unter dem Schirm Real Madrids, derart zu diskreditieren und unter der Gürtellinie anzugehen, ist dieses Klubs nicht würdig. Vor allem aber sollte der Umgang mit dem Übungsleiter im Generellen in Frage gestellt werden. Denn: Eine faire Chance gab es für Benítez eigentlich nie. Das müssen sich Spieler, Präsident und auch Fans ehrlicherweise eingestehen.

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von
Yannick Frei

Hauptberuflich im Nachwuchsfußball zuhause. Von den Großmeistern Figo und Zidane verzaubert, bin ich bis heute ein glühender Anhänger des größten Klubs der Welt.

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