Reportage

Barça unter Valverde: Effizienz schlägt Schönheit

Nach den krachenden Niederlagen zu Saisonbeginn in der Supercopa wirkte der FC Barcelona stark angeknockt, doch mittlerweile ist von dieser Krise in Katalonien nichts mehr zu spüren. Ernesto Valverde hat den Blau-Roten seinen ganz eigenen Stil aufgedrückt und nach der enttäuschenden letzten Spielzeit wieder zu einem echten Spitzenteam geformt. Die Hauptgründe für Barças Höhenflug: Ein Lionel Messi in Überform, die Wiederauferstehung zweier Leistungsträger, der Höhenflug zweier Senkrechtstarter, die Wiederentdeckung einer alten Tugend und das Aufgeben eines eigentlich unantastbaren Dogmas. Ein letztes Fragezeichen bleibt jedoch.

672
Valverdes Barcelona marschiert durch die Liga – Foto: Juan Manuel Serrano Arce/Pau Barrena/AFP/Getty Images

Die Supercopa und ihre Folgen

BARCELONA. „Es ist das erste Mal in neun Jahren seitdem ich hier bin, dass ich mich Real unterlegen fühle.“ Gerard Piqué brachte Anfang August nach Barcelonas niederschmetternder 0:2-Pleite im Rückspiel der Supercopa gegen Real Madrid mit einem Satz auf den Punkt, was zu diesem Zeitpunkt wohl jeder Anhänger der Katalanen fühlte. Die Herrschaft des großen FC Barcelona in Spanien und Europa, sie schien nach dieser Machtdemonstration der Blancos endgültig besiegelt. Viel schlimmer noch, nach Neymars überraschenden Abgang zu Paris Saint-Germain wirkte der europäische Gigant merklich angeschlagen, fast sogar ein wenig ohnmächtig. Weil sich unter anderem die Nachfolgersuche für Neymar zudem extrem schleppend gestaltete, wurde Vereinspräsident Josep Bartomeu von vielen Mitgliedern stark angezählt, ein Misstrauensvotum heiß diskutiert. Vor allem aber stand Neu-Trainer Ernesto Valverde vor einer gefühlten Mammutaufgabe, der angeschlagene Riese aus Katalonien drohte schließlich vom Kurs abzukommen.

Das Supercopa-Rückspiel im Video | Alle Videos

Marco Asensio Real Madrid

Highlights Real Madrid 2:0 Barça

Hinspiel gewonnen, Rückspiel gewonnen. Real Madrid lässt einem 3:1 im Camp Nou ein 2:0 im... weiterlesen

Stand jetzt – im Dezember 2017 und nach knapp der Hälfte der zu absolvierenden Partien – hat der aus Viandar de la Vera stammende Spanier diese Herausforderung jedoch mit Bravour gemeistert. Barça führt die Tabelle der Primera División nach 16 Spieltagen souverän an, hat mit 42 Zählern sechs Punkte Vorsprung auf den Zweitplatzierten Atlético, bis dato außerdem noch keine Niederlage einstecken müssen. Von den aktuell elf Punkten Vorsprung (bei einem Spiel mehr) auf die Königlichen ganz zu schweigen. Und auch in der Champions League sowie im Pokal erreichte man völlig ungefährdet die nächste Runde. Entgegen aller Befürchtungen zu Saisonbeginn hat es Valverde geschafft, ein Team aufzubauen, das ohne wenn und aber in jedem Wettbewerb ein ernstes Wörtchen um die Titelvergabe mitsprechen wird. Dass dem so ist, hat verschieden Gründe: Neben dem Leistungshoch ausgewählter Einzelspieler ist es dem spanischen Fußball-Lehrer tatsächlich gelungen, der „Blaugrana“ seinen eigenen Stil aufzudrücken – und hat dafür sogar mit einem uralten Dogma gebrochen.

Messi, immer wieder Messi

Um Barças aktuellen Höhenflug zu beschreiben, kommt man natürlich nicht umhin, Lionel Messi gesondert hervorzuheben. Trotz – oder gerade wegen? – des Abgangs seines kongenialen Partners Neymar, der den Argentinier offensiv enorm zu entlasten wusste, nimmt „la Pulga“ eine noch dominantere Rolle im Spiel der Blau-Roten ein und trug die Offensive der Katalanen besonders zu Saisonbeginn nahezu alleine auf seine Schultern. Messi agiert unter Valverde wieder im Zentrum, übernimmt so im Spielaufbau wieder deutlich mehr Verantwortung. Und das überaus erfolgreich.

[advert]

Egal ob als Initiator aus der Tiefe, Vorbereiter oder Torschütze – Messis Einfluss auf das Spiel seiner Mannschaft ist so groß wie möglicherweise noch nie. 18 Treffer und sieben Vorlagen aus 24 Partien sind an sich schon beeindruckende Zahlen, geben den Einfluss des „Flohs“ tatsächlich aber nur unzureichend wieder. Seine Fähigkeit, durch einen Rhytmuswechsel in Form eines Dribblings oder eines Passes in den Rücken der Abwehr zwei bis drei Gegenspieler auf einmal aus dem Spiel zu nehmen, ist im Weltfußball sicherlich einzigartig. Und durch Valverdes geschickte Positionierung des restlichen Teams um ihn herum, schafft es Messi sogar, die mangelnde Kreativität aus dem Mittelfeld aufzufangen. Vor allem ebendieser Genialität ist es auch zu verdanken – so fair muss man in der Nachbetrachtung sein –, dass Barcelona besonders zu Saisonbeginn in beeindruckender Konstanz punktete, erst am 8. Spieltag gegen Atlético (1:1) den ersten Punktverlust hinnehmen musste. Der Einfluss des fünffachen Weltfußballers auf das Spiel seiner Mannschaft, er scheint groß wie noch nie.

Busquets rehabilitiert sich, Alba explodiert

Barcelonas herausragendes Abschneiden zum jetzigen Zeitpunkt jedoch alleine Messis Überform zuzuschreiben, ist dann doch zu einfach gedacht. Schließlich wissen auch andere Akteure bislang durch herausragende individuelle Leistungen zu überzeugen. Beziehungsweise wissen wieder durch starke Leistungen zu überzeugen. Sergio Busquets erlebte vergangene Saison zweifelsohne eines seiner schwächsten Jahre seiner Karriere, was auch Barça merklich zusetzte. Dieses Jahr ist der spanische Nationalspieler jedoch wieder auf seinem Leistungszenit angekommen und zeigt Woche für Woche, weshalb er von vielen Experten als der Inbegriff des modernen Sechsers betrachtet wird. Busquets verfügt über ein unvergleichliches taktisches Verständnis, erstickt viele Gegenangriffe durch seine hervorragende Positionierung bereits im Keim. Und weiß auch mit dem Ball jede Menge anzufangen, verleiht dem Spiel der Katalanen jede Menge Struktur. Er arbeitet oft im Verborgenen, ist für Barcelona aber nahezu unverzichtbar. Dies zeigt er dieses Jahr wieder in schöner Regelmäßigkeit und zählt so zweifelsohne zu den Gesichtern der Wiederauferstehung des Madrider Erzrivalen.

Apropos Wiederauferstehung: Die erlebte auch Jordi Alba, der nach einem ebenfalls sehr durchwachsenen letzten Jahr wieder an seine Topleistungen heranreicht. Valverde bezeichnete den Linksverteidiger unlängst gar als „Lebensversicherung“ seines Teams – neben Messi versteht sich. Und trifft damit den Nagel ziemlich gut auf den Kopf. Im traditionell auf hoch agierende Außenverteidiger ausgerichteten System Barcelonas kommt das Eigengewächs vor allem offensiv extrem gut zur Geltung, ist bei seinen Vertikalläufen hinter die Abwehr ein gefragter Abnehmer für den vorletzen Ball und bereitete so schon sechs Treffer in der Liga vor und leitete viele weitere ein. Für einen Außenverteidiger mehr als stattliche Werte.

Lebensversicherung Ter Stegen, Fels Umtiti

Wenn man über individuell starke Leistungen bei den Katalanen spricht, kommt man aber auch um Marc-André Ter Stegen nicht herum. In seiner mittlerweile vierten Spielzeit in Katalonien hat der deutsche Nationaltorhüter auch die letzten Kritiker zum Schweigen gebracht und seinen Status als unangefochtene Nummer eins eindrucksvoll untermauert. Neben seinen herausragenden fußballerischen Fähigkeiten ist der ehemalige Gladbacher in dieser Saison auch – oder besonders – auf der Linie eine Macht, wehrte so einige Bälle der Marke „unhaltbar“ ab – und hielt seinen Vorderleuten so auch schon den einen oder anderen Sieg fest. Dass er sich mittlerweile auch als feste Nummer zwei in der Nationalmannschaft hinter Manuel Neuer etabliert hat, ist Ter Stegen deutlich anzumerken, strahlt der 25-Jährige mittlerweile doch ein enormes Selbstbewusstsein aus, dirigiert aktuell die mit lediglich sieben Gegentreffern beste Abwehr der Liga und hat seine Fehlerzahl nahezu gen Null reduziert. Und sich klamm und heimlich zur neuen Lebensversicherung der Katalanen aufgeschwungen.

Ideales Geschenk: Real Madrid Kalender 2018 – jetzt bestellen!

Selbiges lässt sich eigentlich auch über Samuel Umtiti berichten. Wobei der Franzose bereits vergangene Spielzeit zu den Senkrechtstartern beim amtierenden spanischen Pokalsieger zählte, und mit seinen Auftritten eigentlich nur das bestätigte, was er letzte Saison schon angedeutet hatte. Wie es sich für einen Verteidiger bei Barcelona gehört, verfügt der 24-Jährige über ein gutes Aufbauspiel, kann durch präzise Pässe zwischen die Linien auch tief verteidigende Gegner in die Bredouille bringen. Was beim wuchtigen Kraftpaket aus Yaoundé allerdings noch viel mehr imponiert, ist dessen Abgeklärtheit im Defensivspiel. Umtiti lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen und ist extrem zweikampfstark, löst zahlreiche Situationen durch seine hervorragende Antizipation. Seine gelegentlichen Fehler im Stellungsspiel oder Herausrücken macht er dabei durch seine Schnelligkeit wieder wett. Dass sich Barcelonas Nummer 23 gegen Celta Vigo (2:2) eine schwerwiegende Muskelverletzung zuzog und für den Clásico definitiv ausfallen wird, ist nicht nur für den Spieler selbst ein herber Schlag. Barcelona muss seinen bis dato besten Verteidiger ersetzen, büßt so neben viel spielerischer Qualität auch jede Menge defensiver Geschwindigkeit ein, die besonders beim Verhindern von Kontern wertvoll sein kann. Wenngleich Ersatzmann Thomas Vermaelen seine Sache in den vergangenen Partien mehr als passabel erfüllte.

Gesichter der Saison: Ter Stegen, Valverde, Messi

Pragmatismus statt Spektakel

Bei aller individuellen Klasse braucht es jedoch immer ein taktisches Korsett, das die Stärken der einzelnen Spieler entsprechend zur Geltung bringt und vor allem ein Mindestmaß an defensiver Stabilität beherbergt. Genau dies ist Valverde bisher eindrucksvoll gelungen, wenngleich er dabei mit einem in Barcelona eigentlich heiligem Dogma brach: Der Ex-Coach von Bilbao wagte es tatsächlich, das seit Johan Cruyff fest etablierte 4-3-3 aufzulösen und schickte seine Mannen oftmals in einem 4-1-2-1-2 mit Mittelfeldraute ins Rennen. Eine Umstellung, die sich bislang mehr als bezahlt gemacht hat. Tatsächlich erinnert das Barcelona dieser Saison bisweilen an das Madrid von letztem Jahr. Nicht immer schön, nicht immer berauschend, dafür aber hochgradig effektiv. Pragmatismus statt Spektakel. Am Ende macht eben oft Messis Genialität den Unterschied aus. Durch die Rautenformation genießen aber auch Jordi Alba sowie der mittlerweile wieder genesene Sergi Roberto eine Sonderstellung im System und wussten diese zuletzt auch sehr gut zu nutzen.

Gegen den Ball erinnert die „Blaugrana“ teilweise jedoch an das Barcelona alter Tage. Man verteidigt hoch wie lange nicht mehr, das Gegenpressing funktioniert dank großer defensiver Aufopferungsbereitschaft aller Akteure wie zu besten Zeiten. Der anfangs belächelte Paulinho bringt durch sein körperbetontes Spiel sowie seine Kopfballstärke eine ungewohnte Komponente mit, welche der defensiven Stabilität überaus zuträglich ist. Und dann hat man hinten drin ja noch einen Ter Stegen in bester Verfassung. Die sieben Gegentore zum jetzigen Zeitpunkt sind absolut kein Zufall.

Aber natürlich ist auch dieses Barcelona nicht frei von Schwächen. Besonders gegen Mannschaften mit entsprechender Qualität im Konterspiel offenbarte die Defensive rund um Gerard Piqué doch erhebliche Schwächen. Das fing bei den Supercup-Duell mit den Blancos an und setzte sich gegen konterstarke Teams wie Atlético (1:1), Valencia (1:1) oder Celta Vigo (2:2) unverändert fort. Und dass man sich nicht immer auf einen Geistesblitz von Messi verlassen kann, sollte ebenfalls klar sein, oftmals wirkte das Offensivspiel der Katalanen doch arg inspirationslos, insbesondere gegen gut organisierte Abwehrreihen.

X-Faktor Dembélé und das letzte Fragezeichen

Entlastung in dieser Hinsicht erhofft man sich selbstverständlich von 100-Millionen-Transfer Ousmane Dembélé, der aufgrund seiner schweren Oberschenkelverletzung gegen Getafe (2:1) erst auf drei (Kurz)Einsätze blicken kann und auch im Clásico noch nicht mit von der Partie sein wird. Allerdings könnte sich der Franzose im Laufe der Saison als X-Faktor erweisen, verfügt er zweifelsohne über die Anlagen, um gegnerische Abwehrreihen durch seine Stärken im Eins-gegen-Eins zu entblößen und für den nötigen Schuss an Kreativität zu sorgen. Ob der 20-Jährige allerdings schon die endgültige Reife besitzt, ob bei einem Klub des Kalibers Barcelona zu bestehen, bleibt noch abzuwarten.

Dembélé verletzte sich gegen Getafe schwer – Foto: Denis Doyle/Getty Images

Ein letztes Fragezeichen lässt das Team von Valverde allerdings noch offen. Und zwar, wie stark die Mannschaft für die direkten Duelle in der Spitze wirklich besetzt ist. Legt man die bislang absolvierten Partien gegen absolute Top-Mannschaften zu Buche, liest sich die Bilanz nämlich eher durchschnittlich. Zu den zwei Niederlagen gegen die Königlichen zu Saisonbeginn gesellen sich drei Remis gegen Atlético (1:1), Valencia (1:1) und Juventus (0:0), lediglich das Hinspiel gegen die „alte Dame“ in der Gruppenphase der Champions League konnte man mit 3:0 für sich entscheiden. Im Clásico können Messi und Co. nun beweisen, dass sie unter Valverde auch Top-Spiele können.

Flug, Hotel und Ticket aus einer Hand: Jetzt Reise bei Fussballreisenonline.de buchen

0.00 avg. rating (0% score) - 0 votes
von
Yannick Frei

Hauptberuflich im Nachwuchsfußball zuhause. Von den Großmeistern Figo und Zidane verzaubert, bin ich bis heute ein glühender Anhänger des größten Klubs der Welt.

Verwandte Artikel

Vinícius: Der Freifahrtschein ist weg – und Rodrygo sitzt im Nacken

Vinícius Júnior gehört auch für Xabi Alonso zu den fundamentalsten Spielern bei...

Keiner trifft öfter: Kylian Mbappé wird gerade erst warm

Es war die wohl am meisten diskutierte Verpflichtung in der jüngeren Vereinsgeschichte...

Alaba: Neue Rolle unter Alonso – Berater macht Ansage

David Alaba scheint bei Real Madrid plötzlich kein reiner Verteidiger mehr zu...

Der jüngste Kader der Liga

Das gab es lange nicht mehr: Real Madrid hat den jüngsten Kader...