
„Bernabéu war der einzige Weise in meinem Leben“
MÜNCHEN. Paul Breitner ist ein Mann klarer Worte. Wenn der Weltmeister von 1974 etwas zu sagen hat, steckt zumeist Substanz dahinter. Hohles, inhaltsleeres Phrasengedresche gibt es bei ihm nicht. Mit seinen Aussagen und der Schärfe seiner Wortwahl mag der Kolbermoorer oft anecken, doch wirklich stören tut das den mittlerweile 66-Jährigen nicht – hat es auch nie. Seine Meinung und Ansichten (auch politischer Natur) hat er schon immer klar vertreten, ganz egal, wer oder was sich ihm in den Weg stellte. Selbst ehemalige Weggefährten wie Franz Beckenbauer bekamen schon mal gehörig ihr Fett weg.
Auf eine Person lässt Breitner allerdings nichts kommen: Santiago Bernabéu Yeste. Wenn er über den legendären Präsidenten von Real Madrid spricht, gerät der sonst so bissig anmutende Ex-Profi ins Schwärmen: „Don Santiago war der einzige Weise in meinem Leben. Er stand als Person über allen anderen Personen, hatte ein großes Herz und war mit großer Intelligenz gesegnet. Anders als man denken möchte, war er kein politischer Mensch. Wenn du ihn nicht kennengelernt hast, weißt du gar nichts über Bernabéu. Ich habe gelesen, dass er ein Tyrann gewesen sein soll, schwierig, ungerecht… Er war die gerechteste Person, die ich kannte. Als ich nach Madrid kam, war er 80 Jahre alt und in der Lage, drei Stunden vor einer Gruppe zu sprechen. Er war sowohl körperlich als auch mental in herausragender Verfassung. Er war bodenständig, behandelte jeden Mitarbeiter mit großem Respekt: egal ob Vorstand oder Gärtner.“
Dass Bernabéu dem faschistischen Regime unter Franco nahegstanden habe und innerhalb des Klubs mit autoritärer Hand geherrscht haben soll, verneint Breitner vehement. Auch seine damaligen linksgerichteten politischen Ansichten seien nie ein Problem gewesen: „Nach unserem ersten Gespräch sagte er mir: ‚Paul, du bist fabelhaft. Ich bin mir sicher, dass du deinem Namen alle Ehre machen wirst: Du wirst für Real wie ein Krieger spielen. Du bist jemand, der für seinen Klub kämpft. Du hast mich überzeugt!‘ Die Leute wissen nichts über Bernabéu. Ihm gefiel weder seine Popularität noch das Leben in der Öffentlichkeit. Er war introvertiert, ging in die Defensive. Aber weder war er ein Oberhaupt noch tyrannisch oder unfreundlich. Er war das komplette Gegenteil.“
„Real hat noch nie einen Außenverteidiger verpflichtet“
Tatsächlich wurde Breitners Zeit in Madrid sportlich ein voller Erfolg. In seiner ersten Saison gewannen die Blancos 1975 das Double, ein Jahr später konnte man die Meisterschaft verteidigen. An sein erstes Gespräch mit Bernabéu kann er sich noch heute sehr gut erinnern: „Bernabéu sagte mir: ‚Paul, du weißt, dass wir ein sehr altes Team haben…‘ Tatsächlich gab es fünf oder sechs Spieler, die älter als 34 waren: Amancio, Grosso, Zoco… ‚ Wir wollen um dich herum ein neues Team aufbauen‘, fuhr er fort, ‚Ich habe eine Bitte: Die erste Saison beenden wir zehn Punkte hinter Barça, die zweite fünf und in der dritten greifen wir den Titel an.‘ Und was passierte? Die erste Spielzeit gewannen wir den Titel mit zwölf Punkten Vorsprung auf Zaragoza und 13 auf Barça! Die zweite Saison waren es fünf Punkte Vorsprung.“
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Im Nachhinein mutet es fast ein wenig skurril an, dass die Verpflichtung des zu diesem Zeitpunkt womöglich besten Außenverteidigers der Welt lange Zeit auf der Kippe stand – eben weil Breitner Außenverteidiger war. „Es gab große Probleme. (Miljan) Miljanić war damals noch Nationaltrainer Jugoslawiens und flog im Achtelfinale der Weltmeisterschaft in Düsseldorf gegen uns aus dem Turnier. Wir gewannen 2:0, ich schoss ein Tor, das andere erzielte Gerd Müller. Wie später im Finale. Miljanić wurde Monate zuvor schon von Madrid verpflichtet. Als er nach der Partie nach München zurückkehrte, gab es ein Treffen mit Bernabéu und Miljanić präsentierte ihm eine Liste mit Spielern: An Nummer eins stand Paul Breitner. Es gab Direktoren, die sich querstellten: ‚Sie wollen diesen Kommunisten haben? Señor Miljanić, sie verlangen, dass wir einen Maiosten (Anhänger des kommunistischen Führers der Volksrepublik China Mao Zedong; d. Red.) verpflichten. Das geht nicht!‘ Miljanić verlieh seiner Meinung Nachdruck: ‚Hier bestimmt der Trainer!‘ Er tat das gleiche wie Pep Guardiola in München: Thiago oder nix! Miljanić beharrte auf seinem Standpunkt: ‚Sie können jeden anderen auf dieser Liste vergessen, aber ich will Breitner.‘ Einer der Direktoren antwortete: ‚Real Madrid hat noch nie einen Außenverteidiger verpflichtet. Wie sollen wir einen Außenverteidiger verpflichten?‘ Miljanić entgegnete: ‚Ihr habt ja keine Ahnung!‘ Er hatte mich bereits als Jugendlicher gesehen, in der U21 spielte ich immer als offensiver Mittelfeldspieler. Als mich Miljanić schließlich nach Madrid holte, sagte er zu mir: ‚Hier bist du kein Außenverteidiger mehr.‘“
Am Ende wäre es wieder Bernabéu gewesen, der den Konflikt auflöste. Breitner: „Bernabéu unterbrach seine Direktoren: ‚Immer mit der Ruhe. Señor Miljanić, haben sie Freunde in Deutschland? Wir haben keine Ahnung von der Person Breitner. Mich interessiert es nicht, ob er Kommunist oder Außenverteidiger ist. Mich interessiert, welche Art Mensch er ist.‘ Miljanić hielt Rücksprachen und teilte mit: ‚Don Santiago, in Deutschland sagen sie, dass er keine einfache Person sei, aber er muss Charakter haben, weil er der einzige ist, der dem Präsident der Bayern, dem Trainer, eigentlich jedem ein ‚Nein‘ oder ‚warum‘ entgegnet.‘ Mehr musste Don Santiago nicht wissen: ‚Ok, kauft ihn!‘“
„Ich wollte etwas für meinen Geist tun“
Obwohl die Königlichen nach den zwei äußerst erfolgreichen Anfangsjahren unbedingt mit ihm verlängern wollten, verbrachte der Europameister von 1972 nur ein weiteres Jahr in der spanischen Hauptstadt, kehrte 1977 nach Deutschland zu Eintracht Braunschweig zurück. Der Grund: Breitner fühlte sich geistig unterfordert, wollte neben dem Fußball auch anderen Dingen nachgehen. Unter der Diktatur Francos war dies nicht möglich: „Am Ende der zweiten Spielzeit rief mich Agustín Domínguez, der Generalsekretär, in sein Büro, um meinen Urlaub zu genehmigen und hielt mir ein Blatt Papier zur Unterschrift vor. ‚Was ist das?‘, fragte ich. ‚Die Verlängerung deines Vertrages um vier Jahre.‘ Ich verstand nur Bahnhof. ‚Willst du, dass ich das jetzt einfach so unterschreibe? Das ist meine Zukunft, die des Klubs!‘ Er unterbrach mich: ‚ Willst du mehr Geld?‘ ‚ Es geht nicht ums Geld! Ich will nur nicht meine Zukunft innerhalb von fünf Minuten entscheiden. Bitte, Agustín. Lass den Vertrag hier und wenn ich von meinem Urlaub zurückkomme, warten wir darauf, dass Don Santiago aus Alicante zurückkommt und wir werden feiern und diesen Vertrag unterschreiben.‘ Also fuhr ich in den Urlaub und dachte das erste Mal über meine Zukunft nach. Nach ein paar Tagen sagte ich zu meiner Frau: ‚Hör zu, wir werden diesen Vertrag nicht unterschreiben. Ich muss weg!‘ Spanien war durch die Diktatur abgeschirmt und ich konnte weder arbeiten noch anderen Dingen nachgehen, nichts. Ich war es allerdings gewohnt, neben dem Fußball noch andere Dinge zu tun.“
Dass er sich nur auf den Fußball konzentrieren solle, war Neuland für Breitner. Was heute im Profigeschäft eine Selbstverständlichkeit darstellt, war es damals beileibe nicht. Viele Akteure – zumindest in Deutschland – gingen neben ihrer Profession als Fußballer einem normalen Beruf nach. Der gesellschaftlich wie politisch interessierte Breitner konnte mit dem „Lotterleben“ in Spanien wenig anfangen: „In Deutschland arbeitete ich 14 Stunden täglich. Ich studierte, arbeitete und spielte überdies noch bei Bayern. Und vom einen auf den anderen Moment lebte ich wie ein König. Ohne Verpflichtungen außer dem Training. Meine einzige Aufgabe war, meine Töchter aus der Schule zu holen und sie nach Hause zu bringen. Weiter nichts. Wenn meine Frau ein Problem in der Küche hatte, rief ich beim Klub an und innerhalb von fünf Minuten kam jemand, um es zu reparieren. Ich hatte rein gar nichts zu tun. Nur trainieren. Wir spielten Sonntags, Montags trainierten wir ein bisschen, Dienstags eine Stunde, Mittwochs eineinhalb Stunden, Donnerstag Bäder und Massagen, Freitags bereiteten wir das Spiel im elf gegen elf vor und Samstags trainierten wir 45 Minuten und versammelten uns im Hotel Monterreal. Und im Sommer hatten wir sechs oder sieben Wochen Ferien!“
Breitner gibt zwar zu, dass dieses Leben auch seine Vorzüge hätte, in der Konsequenz war es für ihn persönlich jedoch zu wenig: „In meinem ersten Jahr bei Bayern begann ich, Psychologie, Philosophie und Pädagogik für körperlich Behinderte zu studieren. Ich musste mein Studium unterbrechen, als ich nach Madrid ging. Das war ein beeindruckendes Leben: wie in einem goldenen Käfig. Günter Netzer und ich gingen dreimal die Woche ins Cerebro, unsere Diskothek. Wir kamen um drei Uhr im Morgengrauen nach Hause, standen um zehn auf, hatten um elf Training und waren um 14:15 Uhr schon wieder daheim. Dann gab es Essen, Siesta und danach die Frage: ‚Was machen wir mit unseren Töchtern?‘ Zirkus, Freizeitpark… Das Einzige, was ich sonst tun konnte, war Spanisch lernen. Das war meine ganze Arbeit. Während der ersten sieben Wochen tat ich es im Eurobuilding. Fünf Stunden am Tag spazierte ich durch mein Zimmer und lernte, erinnerte mich an meine Latein-Stunden. Ich hatte zuvor neun Jahre Latein gelernt. 75 Prozent meines Spanisch Lernens bestand darin, mich an meine Latein-Stunden zu erinnern.“
Bereut hat er seinen frühen Abschied aus der spanischen Hauptstadt nie. Allerdings gibt der 66-Jährige auch zu, dass es durchaus hätte anders laufen können, wenn die politische Situationen damals eine andere gewesen wäre: „Vielleicht war ich einfach zu jung. Ich kam mit 22 Jahren hierher. Wenn ich zwei, drei oder vier Jahre später gekommen wäre, vielleicht wäre ich heute der Präsident von Madrid. Nach Francos Tod hätte ich die Möglichkeit gehabt, zu arbeiten, Geschäfte zu machen. Ich wollte etwas für meinen Geist tun. Für die Ethik des Lebens. Für den Wandel. Ich mag es, alle zwei Stunden etwas anderes zu tun.“
„Ramos ist die Seele von Real Madrid“
In Madrid hat Breitner aber natürlich auch sportlich Spuren hinterlassen, gemeinsam mit Nationalmannschafts-Kollege Netzer bildete er ein kongeniales Mittelfeld-Duo im Zentrum. Und Obwohl er bei den Königlichen nicht als Außenverteidiger zum Einsatz kam, setzte der Welt- und Europameister auf dieser Position Maßstäbe. Darauf ist er auch ein bisschen stolz: „Ich war der Pionier. Es war in Hannover, Anfang 1971. Ich war zentraler Mittelfeldspieler bei Bayern und fünf Stunden vor der Partie kam Udo Lattek zu mir: ‚Paul, wir haben viele Verletzte, tu mir einen Gefallen und spiele als Außenverteidiger.‘ Ich wollte nie Außenverteidiger sein, wehrte mich dagegen. Die Außenverteidiger waren damals harte Typen, die nur einen Gegner decken mussten und nur verteidigen sollten. Ich interpretierte die Position auf meine Art. Lattek sagte, dass er nie jemanden gesehen hätte, der diese Position so gut gespielt hat. In diesem Spiel zwischen Hannover und Bayern wurde das Spiel eines Lahm, eines Kimmich, eines Alba, eines Alaba, eines Ramos geboren… In jedem Land haben wir solche Spieler: In der Ordnung sind sie Außenverteidiger, aber wenn das Chaos beginnt, sind sie Mittelfeldspieler oder Stürmer. Das war ein Paradigmenwechsel: An diesem Tag erhielten die Außenverteidiger mehr Rechte. Ohne Außenverteidiger wie Lahm kann man keinen guten Fußball spielen.“

Da mag es kaum verwundern, dass mit Sergio Ramos ein ehemaliger Rechtsverteidiger zu den Lieblingsspielern Breitners gehört – weil er für ihn mehr ist als nur ein Verteidiger: „Ramos deckt und ‚tötet‘ dich nicht nur in seinem Strafraum. Du siehst ihn auch attackieren. Immer und immer wieder. Er kann kreieren, das Spiel aufbauen, kurze und lange Pässe spielen, schnell rennen, mit seinen Antritten durch das Zentrum Linien öffnen. Er ist die Seele von Real Madrid. Ronaldo erzielt die Tore, aber der Schlüsselspieler ist Ramos. Und das schon seit Jahren.“
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