
Uli, du bist leidenschaftlicher Experte und Kommentator der Premier League, hast aber auch schon mal Real-Partien kommentiert. Was sind für dich die deutlichsten Unterschiede zwischen beiden Ligen?
Wirtschaftlich ist die erste englische Liga mit keiner Liga weltweit auch nur ansatzweise zu vergleichen. Wenigstens in der Breite. In der Spitze – und das ist meiner Meinung nach auch das Problem in Spanien – vielleicht schon. Barça und Real; inzwischen vielleicht auch Atlético bekommen das große Tortenstück – der Rest ist abgeschlagen. Finanziell und, vielleicht logische Konsequenz, sportlich. In England wird das TV-Geld, das nach wie vor die höchste Einnahmequelle ist, fast liberal umverteilt. Die Premier League weiß, wer für die Attraktion sorgt: die Vereine! Und zwar allesamt.
Und sportlich?
In Spanien nehme ich den eleganteren Fußball wahr. Technisch sauber, taktisch häufig fein. In jeder Truppe – runter bis in die zweite Liga – sind zwei, drei erstaunliche Fußballspieler drin. In England ist alles sehr körperlich, fast athletisch durchsetzt. In jedem Spiel Physis von Anfang bis Ende. Das Tempo, die Intensität sind kaum vergleichbar. Ja, viel mit ausländischem Personal. Ja, teuer eingekauft. Wenig aus den eigenen Reihen – das sind wenn die, die alle Instrumente aufbauen. Das Konzert spielen tun es die Importe. Aber: Alle wissen, dass es so ist. Das ist das feine. Der Engländer ist einverstanden mit dem Kapitalismus. Auch im Fußball. Beide Ligen sind komplett unterschiedlich auf höchstem Niveau. Die beiden besten Europas für mich. Ich bin in beiden gerne unterwegs – auch wenn England eher natürlicher Lebensraum für mich ist.
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Nächste Saison gibt’s die Champions League bei DAZN – hören die Real-Fans dich dann häufiger?
Ich hörte, dass dieses Real Madrid ganz gerne mal weit kommt in der Champions League. Haben sie sich diese Saison qualifiziert? Im Ernst: Ich mache nicht die Dienstpläne und würde mir niemals anmaßen, etwas zu fordern. Soviel: auch Kommentatoren träumen. Und wenn mich DAZN zu Real schickt, werde ich andere Abendtätigkeiten dafür gerne zurückstellen…
Stärken und Schwächen: „Kick and Rush“ scheinen die „Reds“ bestens zu können, doch wo liegen ihre Schwächen?
Wenn auch stabilisiert in der zweiten Saisonhälfte vor allem in der Defensive. Die “Reds” haben nach wie vor große Probleme mit hohen Bällen aller Arten. Von der Fahne kommend, aus dem Halbfeld, von der Grundlinie. Im Spiel nach vorne – ihr nennt das “Kick and Rush” – neigen sie dazu, fast alogisch zu prassen. Sie spielen teilweise radikalen Angriff: als würden sie vergessen, was danach kommt. Und das ist oft das Umschalten in den handwerklichen Teil. Neben der Taktik, aber auch personell. Matip fällt aus. An guten Tagen ist Lovren der bessere Mann, an normalen aber anfällig. Loris Karius hat sich zuletzt ordentlich entwickelt; bleibt aber für einen Blackout gut. Plus: In der Spitze ist das Personal elitär. In der Breite: Durchschnitt. Vieles löst sich über Charakter. Der ist für Real gefährlich, weil vollkommen Klopp-integrer.
Sagen wir: zu selten. Klopp hat diese Varianten schon. Vor allem gegen Gegner, die mitspielen. Da ist das Team nicht das typische Liverpool. Sie fehlen da, wo sich Gegner verweigern. Was mir fehlt – und da habe ich Liverpool, besonders Klopp oft in die Pflicht genommen – ist, sich im Spiel zu ins Positive zu verändern. Die Lücke, die Schwäche beim Gegner zu erkennen und direkt zuzuschlagen. Das ist meiner Meinung die letzte Hürde, die Liverpool im Sommer nehmen muss, um final bei allen Vergaben dabei zu sein. Variabilität bei allen Wegbarkeiten.

Wie stark schätzt du Liverpool außerhalb der Anfield Road ein? Auswärts gab’s ja schon einige Probleme: 0:5 bei City, 0:2 bei Leicester, 1:4 bei Tottenham, 1:2 bei United und zuletzt die Niederlagen in Rom und bei Chelsea.
Richtig. In der ersten Hälfte der Saison klappte inbesondere die Balance nicht. Das ist aber wesentlich besser geworden. Klar ist: der Vorteil Anfield scheint einer zu sein. Fühlbar aber nicht rational erklärbar. Auswärts war oft Pech dabei, manchmal Unkonzentriertheiten. Wie so oft: im Umschalten sind die “Reds” auswärts noch sorgloser.
Zum Spielverlauf: Könnte es erneut „One Night in May“ geben, oder ist ein ähnlicher Ablauf wie beim Finale 2005 nicht vorstellbar, und stattdessen wird es eher einen klaren Sieger geben?
Denkbar – aber in beide Richtungen im Übrigen. Liverpool ist zu Weilen sehr emotional. Ich habe gesagt, die vergessen sich beinahe selbst, wenn es Tore zu erzielen gibt. Die Saison hat aber häufig gezeigt, dass sie hintenraus dazu neigen, sichere Siege noch einmal abzugeben. In der Liga gegen City, nachdem sie 4:1 geführt haben. Auch in Rom habe ich einige Male auf die Uhr geschaut. Das verkam fast zum Chaos gen Ende. Sicher ist: Diese “Reds”-Generation will nicht zum zweiten Mal ein europäisches Finale verlieren (nach 2016 gegen Sevilla; d. Red.). Du weißt, was du bekommst: Einsatz, Hingabe und Aggression. Von eins bis notfalls 120.

44 Tore in 51 Spielen – wie hat Klopp „Spätzünder“ Salah so gut bekommen? Wäre er einer für Real?
Salah wäre einer, für jeden, der sein Konto belasten kann und will. Eine sensationelle Verpflichtung. Eine, die Liverpool nicht gehen lassen wird. Kriegst du nicht verkauft. Nicht einmal der Top-Verkäufer Klopp. Der Spieler hat wesentlich mehr Einfluss und Anteil als Coutinho.
Salah ist ein perfektes Beispiel, für die Scoutingarbeit Liverpools. Sie holen jung, entwicklungsfähig eins vor Weltklasse für gutes Geld – aber nicht geisteskrank. Spieler, die ins System passen. Wollen. Eine Fusion aus Athletik und Abschlussstärke. Und charakterlich passende Steine. Es sind die immerselben Biografien. Und: Salah, als Beispiel, hat – offensichtlichst – großen Spaß an der Arbeit. Das ist ansteckend. Für alle Beteiligten, die sich dafür sogar widerwillig als Zuarbeiter anbieten.
Abgesehen von Salah: Welchen Liverpool-Akteur sollte sich Pérez genauer ansehen?
Roberto Firmino. Der kompletteste Mittelstürmer Europas. Vielleicht kein Insider mehr, aber der hat sich riesig entwickelt. Und wird gerade physisch arg unterschätzt. Außerdem mag ich das Potenzial von Joe Gomez und Trent Alexander-Arnold. Aber Engländer bei Real: ging so!

Madrid steht zum vierten Mal in den letzten fünf Jahren im Champions-League-Finale, hat 2018 sogar drei Meister geschlagen. Doch statt Anerkennung liest man eher anderes: Schiri-Glück, unverdient, viel Antipathie gegen Real. Wie siehst du das?
Den französischen Meister Achtelfinale besiegt. Den italienischen Meister im Viertelfinale und den deutschen Meister im Halbfinale besiegt. Der härtest denkbare Pfad. Allesamt Mitfavoriten. Allesamt über zwei Spiele. Dieses Team hat die Möglichkeit zum dritten Mal in Folge die Champions League zu gewinnen. Kann das unverdient sein? Ist das Glück? Dann möchte ich das haben. Entschuldigung: wer so etwas sagt, macht es sich ein wenig leicht…
Al final: Dein Tipp?
Hatte jemals jemand Recht, der in einem Champions-League-Finale gegen Madrid gesetzt hat? Ich habe ein gesundes Verhältnis zum Scheitern und gehe mit der englischen Mannschaft. In einem Spiel kann Liverpool Real auffressen. In zweien ginge ich mit Madrid…
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