Analyse

Die Alleskönner: Warum Zidanes Real ein Jahrhundert-Team ist

Mit dem Rücktritt von Zinédine Zidane neigt sich bei Real Madrid eine Ära ihrem (vorläufigen) Ende entgegen. Der Franzose hinterlässt dabei eine Mannschaft, die als eine der größten aller Zeiten in die Geschichte eingehen wird. Zeit für eine Hommage an ein Jahrhundert-Team.

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KIEV, UKRAINE - MAY 26: Real Madrid CF players ceebrates with the trophy following his side victory in the UEFA Champions League final between Real Madrid and Liverpool on May 26, 2018 in Kiev, Ukraine. (Photo by David Ramos/Getty Images)
Zidanes Real hat Fußball-Geschichte geschrieben – Foto: David Ramos/Getty Images

Auf einer Stufe mit Cruyffs Ajax und Beckenbauers Bayern

MADRID. Im ersten Moment des Triumphes konnten die Spieler selbst gar nicht so richtig glauben, was sie da soeben erreicht hatten. „Die Champions League einmal zu gewinnen, das ist das, was jeder will, das vierte Mal ist einfach nur Wahnsinn, da fehlen mir die Worte“, stammelte etwa ein sichtlich etwas perplexer Toni Kroos in die TV-Mikrofone, nachdem er und sein Team sich auch im Finale von Kiew dem FC Liverpool souverän mit 3:1 entledigt hatten und den dritten Champions-League-Triumph in Serie bejubeln durften. Hatte man durch die erstmalige Titelverteidigung der Königsklasse im vergangenen Jahr bereits Fußballgeschichte geschrieben, gelang es der Mannschaft um Sergio Ramos und Co. durch die Vervollkommnung des Titel-Hattricks beziehungsweise dem vierten Triumph binnen fünf Jahren in Europas größtem Vereinswettbewerb endgültig zu den ganz großen Mannschaft der Fußball-Geschichte aufzuschließen. Drei Europapokal-Triumphe in Serie, das war bislang nur Johan Cruyffs Ajax (zwischen 1971 und 1973) sowie Franz Beckenbauers Bayern (zwischen 1974 und 1976) gelungen, lediglich übertroffen von Alfredo Di Stéfanos Real Madrid, das zwischen 1956 und 1960 fünf Titel in Serie feierte.

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Mit Zinédine Zidane hat nun der Anführer dieser goldenen Generation nach zweieinhalb höchst erfolgreichen Jahren an der Seitenlinie seinen Rücktritt bekannt gegeben. Wie als Spieler auch, tat „Zizou“ dies auf dem absoluten Höhepunkt. Für Real Madrid neigt sich damit ein Zyklus seinem vorläufigen Ende entgegen. Und auch wenn die Verdienste von José Mourinho, Carlo Ancelotti und auch Rafael Benítez, die allesamt auf ihre Art und Weise das Fundament der Ära Zidane mitgestalteten, nicht unter den Tisch gekehrt werden sollten, gebührt ein Großteil der Lobeshymnen dem charismatischen Franzosen, der seit seinem Amtsantritt im Januar 2016 aus den Königlichen endgültig eines der größten Teams aller Zeiten geformt hat. Höchste Zeit also für eine Hommage an ein Jahrhundert-Team.

Das kompletteste Team aller Zeiten?

Ob Zidanes Real respektive das Real der letzten fünf Jahre als das beste Team aller Zeiten deklariert werden kann, darüber lässt sich trefflich streiten. Dafür war insbesondere das Abschneiden in der Liga in den vergangenen Jahren zu wechselhaft und die Ausbeute mit gerade einmal einem Titel viel zu mager. Sehr wohl kann jene Mannschaft jedoch als das womöglich kompletteste Team aller Zeiten bezeichnet werden. Zwar pflegt man keinen exponierten Spielstil á la Cruyffs Ajax, Arrigo Sacchis AC Mailand oder Pep Guardiolas Barcelona, beherrscht aber trotzdem jegliche Facetten des Spiels und kann auch problemlos zwischen vielen verschiedenen Stilen wechseln, oftmals auch während einer Partie. Und genau diese Eigenschaft machte die Königlichen in den vergangenen Jahren insbesondere auf europäischer Ebene so erfolgreich.

Real Madrid Trikot 2018-19

Die unter Zidane an den Tag gelegte Variabilität ist schlichtweg beeindruckend: Scheinbar mühelos wechselten Kroos und Co. zwischen Ballbesitzfußball und überfallartigen Kontern, manche Gegner lief man im Forechecking an, oftmals begnügte man sich aber auch mit tiefer Strafraumverteidigung, zudem variierte man permanent die Grundformationen und wechselte auch während der Partien zwischen einem 4-4-2, 4-3-1-2 oder 4-3-3. Gegen manche Gegner konzentrierte man sich auf Kombinationsspiel durch das Zentrum, andere Kontrahenten wurden über die Außen geknackt. Ganz egal, was das Spiel von den Blancos verlangte: Das Team von Zidane fand immer eine Lösung. Und all das taten die Königlichen qualitativ auf derart hohem Niveau, dass Reals Spiel für die großen Gegner kaum zu dechiffrieren war, während man selbst die Schwächen beim Gegner immer wieder gnadenlos ausnutzte. Ganz egal ob Bayerns flügellastiges Angriffsspiel, Paris Saint-Germains offensive individuelle Klasse, Atléticos oder Juventus Turins Defensivbollwerke oder zuletzt Liverpools Vollgas-Fußball – die Königlichen fanden immer einen Weg, dem Gegner den Zahn zu ziehen und sich am Ende überwiegend deutlich durchzusetzen.

Dass Real in der Lage ist, sein Spiel auf diese Weise zu praktizieren, liegt vor allem in der überragenden Zusammenstellung des Kaders begründet. Man verfügt neben jeder Menge individueller Klasse über ein breites Reservoir an divergenten Spielertypen, mit denen man auf eine Vielzahl von Spielsituationen reagieren kann, zudem weist der Kader eine gute Mischung aus strategisch veranlagten und kreativen Spielern auf. Da man im Vergleich zur Spielzeit 2016/17 insbesondere in puncto Kadertiefe jedoch ein wenig an Substanz verloren hat, hatte man im diesjährigen Ligabetrieb mit der überwiegend risikolosen Herangehensweise – vorrangig wenn man im 4-3-1-2 agierte – insbesondere gegen defensivorientierte Mannschaften große Probleme und verschenkte so einige wichtige Punkte im Meisterkampf, weil man trotz großer Spielkontrolle zu wenig offensive Durchschlagskraft entwickelte. Für den Liga-Betrieb scheint auf lange Sicht das insbesondere auf Automatismen und eine feste Spielphilosophie aufbauende System von Barcelona geeigneter, für die ganz großen Abende erwies sich Reals Anpassungsfähigkeit jedoch als die weitaus wirkungsvollere Herangehensweise. Und es sind vor allem diese Abende und letztlich auch Triumphe, die den Fans auf ewig in Erinnerung bleiben werden.

Final-Garantie Zidane: Acht Finals, acht Siege

Letztlich kommt man aber auch nicht umhin, den Trainer Zidane gesondert hervorzuheben. Auch wenn der Franzose vorrangig durch seinen Umgang mit den einzelnen Superstars und seiner Art der Menschenführung bestach, drückte er der Mannschaft auch aus spielerischer Sicht durchaus seinen Stempel auf. „Zizou“ holte nicht nur aus nahezu allen Spielern im Kader das Maximum heraus und machte sie zu besseren Fußballern, ihm gelang es auch immer, seine Mannen auf den Punkt zu Höchstleistungen zu treiben. Von acht Finals gewann Zidane acht.

In den Finalspielen legte die Mannschaft dabei nicht nur stets eine herausragende Mentalität und Einstellung an den Tag, sondern wirkte auch immer perfekt eingestellt auf den Gegenüber. Gegen die ganz großen Kaliber liefen die Blancos regelmäßig zur Höchstform und lieferten so manches Meisterstück ab. In der katalanischen Presse wurde in diesem Zusammenhang zwar immer wieder der Ausdruck vom „flor de Zidane“, übersetzt so viel wie „Zidanes riesiges Glück“, bemüht, um die Erfolge des Franzosen zu erklären, doch steckt hinter diesen Erfolgen natürlich weitaus mehr. Betrachtet man die einzelnen Endspiele im Detail, wird schnell deutlich: Auch wenn „Zizou“ – wie er übrigens auch selbst offen zugibt – insgesamt kein taktischer Revolutionär á la Guardiola sein mag und sich auch keinen exponierten Spielstil auf die eigene Fahne schreibt, ist er ein Meister darin, das Spiel anderer Spitzenmannschaften zu entschlüsseln. Egal ob Massimiliano Allegri, Unai Emery, Carlo Ancelotti, Jupp Heynckes, Diego Simeone oder eben Jürgen Klopp – Zidane bot jedem Top-Trainer die Stirn und musste nur äußerst selten empfindliche Rückschläge einstecken. Auf internationaler Ebene behielt er immer die Oberhand.

Meisterstücke in Cardiff und Supercopa

Ohne Frage, beim ersten Königsklassen-Triumph 2016 gegen Atlético (5:4 n. E.) im Elfmeterschießen spielte natürlich auch besagtes Glück letztendlich eine Rolle. Allerdings wird in der Nachbetrachtung oftmals unterschlagen, dass die Blancos das Spiel bis zur 70. Minute voll kontrollierten und das in dieser Europapokal-Spielzeit furiose Ensemble von Diego Simeone brillant in Schach hielten. Zidane beging mit der Auswechslung von Toni Kroos in der Schlussphase und dem einhergehenden Verlust der Spielkontrolle zwar auch einen schweren Fehler, hatte jedoch mehr als angedeutet, dass er für die Duelle mit Trainergrößen wie Simeone gewappnet ist. Zumal Reals Cheftrainer die richtigen Lehren zog und Kroos seither – sofern fit – in den wichtigen Spielen stets über die volle Distanz auf dem Platz stand.

Sollten die nächsten beiden Finalspiele im UEFA Super Cup (3:2 n. V. gegen Sevilla) sowie bei der Klub-Weltmeisterschaft (4:2 n.V. gegen Kashima Antlers) vorrangig über die Mentalität gewonnen werden (insbesondere in der vergangenen Double-Saison auch eine der großen Qualitäten des Teams unter Zidane), folgte nach einer überragenden K.o.-Runde, in der man Neapel, Bayern und (mal wieder) Atlético ausschaltete, Zidanes vorläufiges Meisterstück in Cardiff, als man in einem furiosen Finale Juventus mit 4:1 besiegte. Wie in der Dokumentation über „la Duodécima“ zu sehen, war es vor allem „Zizous“ Halbzeitansprache, die den Schlüssel für den letztlichen Erfolg liefern sollte: „Spielt mehr über die Außen, Carvajal und Marcelo positioniert euch ein Stück höher“, lauteten die simplen, aber letztlich wirkungsvollen Anweisungen: Alle drei Treffer nach der Pause sollten über die Flügel eingeleitet werden, Carvajal leitete das 3:1 ein, Marcelo bereitete das 4:1 direkt vor.

111 Gründe, Real Madrid zu lieben

Beim folgenden Super-Cup-Finale gegen Europa-League-Sieger Manchester United gab man sich ebenfalls keine Blöße und spielte einen souveränen 2:1-Sieg heraus, der nie großartig gefährdet schien. Mal wieder schon nur eine Mannschaft auf den jeweiligen Gegner perfekt eingestellt. In der Supercopa 2017 sollte schließlich der spielerische Höhepunkt unter Zidane folgen. Nachdem man sich in einem äußerst ausgeglichenen Hinspiel mit 3:1 behaupten konnte, gelang es beim 2:0-Erfolg Rückspiel, das Positionsspiel der Katalanen – über Jahre der Kryptonit der Madrilenen – auszuhebeln und den spielerisch überzeugendsten Erfolg seit Jahren gegen den Erzrivalen einzufahren. Nach dem hochsouveränen 1:0 über Grêmio Porto Alegre im Klub-WM-Finale 2017 folgte nun zum Abschluss also der letzte Streich im Champions-League-Finale gegen Klopps Liverpool.

Real Madrid
Real nach dem Gewinn der Supercopa – Foto: Curto de la Torre/AFP/Getty Images

Die perfekte Mischung

Was bleibt also von der Ära Zidane? Vor allem die Erinnerung an ein Team, das seine Stärke aus einem schier unerschöpflichen Reservoir an Spielstilen schöpfen konnte und dabei technisch und taktisch auf herausragendem Niveau agierte, zudem eine perfekt austarierte Kadertiefe aufwies. Neben einem extrem gut ausgeprägten Teamgeist entwickelte dieses Team auch einen unheimlichen „Finalspirit“, was Real in großen Spielen zu einer wahren Ergebnisbestie mutieren ließ. Und dann war da eben noch ein gewisser Zinédine Zidane, der diese Jahrhundert-Mannschaft mit seinem ihm eigenen Charisma führte und auf der großen Bühne zu stetigen Höchstleistungen trieb. Und genau deshalb verdient es dieses Real Madrid, mit den größten Teams aller Zeiten in einem Atemzug genannt zu werden.

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von
Yannick Frei

Hauptberuflich im Nachwuchsfußball zuhause. Von den Großmeistern Figo und Zidane verzaubert, bin ich bis heute ein glühender Anhänger des größten Klubs der Welt.

Kommentare
@realtotal: Kommt dieses Jahr wieder eine Dokumentation über das Finale?
 

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