Historie

Als Real Madrid Dribbelkönig Garrincha verpflichten wollte

Der Brasilianer Garrincha gilt in der Folklore als bester Dribbler aller Zeiten und führte die „Seleção“ als unumstrittener Ausnahmekönner 1958 sowie 1962 zu ihren ersten beiden WM-Titeln. Auch Real Madrids Präsident Santiago Bernabéu streckte damals die Fühler aus.

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Kaum vom Ball zu trennen: Rechtsaußen Garrincha führte Brasilien zu zwei WM-Titeln – Foto: imago images/Horstmüller

Dass der Knoten für das heimliche Mutterland des Fußballs 1958 endlich platzte, Brasilien also erstmals Weltmeister wurde, hing bekanntlich mit zwei jungen Männern zusammen, die zu Turnierbeginn noch nicht einmal Stammspieler waren.

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Wie der erst 17-jährige Wunderknabe Pelé in vier Spielen unglaubliche sechs Tore schoss, ob des Weltmeister-Versprechens an seinen Vater bitterlich weinte und anschließend eine einmalige Weltkarriere hinlegte, wurde längst ausreichend thematisiert. Dass sein kongenialer Partner, der damals “schon” 24 Lenze zählen Rechtsaußen Garrincha, aber einen noch größeren Anteil an den ersten WM-Erfolgen Brasiliens hatte, kommt dagegen etwas zu kurz.

Apropos zu kurz: Manuel Francisco dos Santos wurde 1933 mit einem um sechs Zentimeter verkürzten Bein geboren. Und nicht nur das: Das eine war ein krasses X-Bein, das andere ein krasses O-Bein. Der Junge, den seine Freunde später Garrincha rufen sollten, weil er mit seiner Steinschleuder so gerne die Garrincha-Vögel aus der Luft schoss, überlebte eine lebensnotwendige Operation kurz nach seiner Geburt nur knapp.

Alkoholkrank und schlau wie ein Achtjähriger

Durch seine von Armut und ständigen körperlichen Schmerzen geprägte Kindheit entwickelte Garrincha schon in seiner frühen Jugend eine starke Alkoholabhängigkeit und auch als Erwachsener nur einen Intelligenzquotienten, der mit dem eines normalen Achtjährigen vergleichbar ist. Stellten damals zumindest Wissenschaftler fest.

Zumindest beim Fußball stellte seine physische und psychische “Schieflage” einen Vorteil dar. Durch unnachahmliche Bewegungen und sorglose Kreativität entwickelte sich Garrincha bei Botafogo Rio de Janeiro zum besten Dribbler und einem der besten Spieler Brasiliens. Dessen internationaler Stern wie Pelés bei der WM 1958 aufging – wo der Rechtsaußen oft von drei oder vier Gegenspielern gleichzeitig belagert wurde, dennoch kaum aufzuhalten war und die meisten Tore seiner Mitspieler mustergültig vorbereitete.

Botafogos Europa-Tour überzeugt Bernabéu

“Garrincha war die größere Gefahr als Pelé, ein Phänomen, das zu purer Magie in der Lage war”, adelte sein walisischer Gegenspieler Mel Hopkins den 1,69-Meter-Mann, der 1959 eines der besten Jahre seiner Karriere spielte. Davon durfte sich auch der viermalige Europapokalsieger Real Madrid überzeugen, als Botafogo mit Hauptattraktion Garrincha im Sommer 1959 durch Europa tourte.

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Angesichts des Abgangs von Frankreichs Ausnahmespieler Raymond Kopa, der nach drei Jahren bei den Blancos zu Stade Reims zurückkehrte und in Madrid stets die rechte Seite bespielt hatte, liebäugelten Präsident Santiago Bernabéu und Co. natürlich damit, den Ballon d’Or-Gewinner von 1958 möglichst gleichwertig zu ersetzen. Und könnte es einen besseren Ersatz geben als den charakterlich zwar etwas eigenwilligen, aber zweifelsohne zur damaligen Zeit besten Rechtsaußen der Welt?

Puskás spielt für Atlético – Reals Garrincha-“Ersatz” scheitert

Nach einem 6:4 Botafogos über Atlético Madrid – für das Gastspieler Ferenc Puskás zwei Tore erzielte (!) – bekundeten die Königlichen ihr Interesse. Bernabéu war sogar regelrecht besessen von Garrincha – und bekannt dafür, nahezu alles in Bewegung zu setzen, um seine Wunschspieler auch zu bekommen. Doch die anderen beiden Partein spielten nicht mit. Garrincha war vom großen Real zwar begeistert, tendierte aber eher dazu, in seiner vertrauten Heimat zu bleiben.

Botafogo gab Real derweil grünes Licht – aber nur für Weltmeister-Regisseur Didi, dessen Zeit in Madrid wegen Streitigkeiten mit Platzhirsch Alfredo di Stéfano ein jähes Ende fand. Garrincha, für den Real laut Ruy Castros biografischem Werk “The Triumph and Tragedy of Brazil’s Forgotten Footballing Hero” mit 250.000 Dollar mehr als dreimal so viel geboten hatte wie für Didi, wollte Botafogo um keinen Preis gehen lassen.

Auch ohne Garrincha, der die königliche Historie um eine weitere legendäre Nummer sieben bereichert hätte, sollten die Blancos ihren fünften Europapokal gewinnen und die Primera División in den 1960er-Jahren dominieren. Aber eine Sturmreihe mit Francisco “Paco” Gento, Puskás, Di Stéfano und Garrincha? Ein wenig schade ist der geplatzte Transfer dann doch.

Italiens Spitzenklubs versuchen alles

Im Jahr nach der folgenden WM 1962, bei der Garrincha in Abwesenheit des verletzten Pelé als “alleiniger” Weltmeister-Macher alles überstrahlt hatte, bemühten sich 1963 übrigens AC Mailand, Inter Mailand und Juventus Turin mit einem einzigartigen Deal gemeinsam, den brasilianischen Dribbelkönig in die Serie A zu holen – Garrincha wäre je ein Jahr für jeden der italienischen Spitzenvereine aufgelaufen.

Dass Botafogo erneut sein Veto einlegte, kam den “Rossoneri”, “Nerazzurri” und “Bianconeri” jedoch entgegen. Nach weiteren Operationen, die ihn sein ganzes Leben begleiten sollten, wurde Garrincha spätestens 1965 vorzeitig zum Sportinvaliden und musste seine große Laufbahn auf einem Niveau weit unterhalb seiner eigentlichen Fähigkeiten ausklingen lassen.

Tragischer Held Garrincha: Einsamer Tod mit 49

Schließlich zog sich die “Freude des Volkes” mehr und mehr zurück. “In der Geschichte des Fußballs gibt es keinen Spieler, der die Menschen glücklicher gemacht hat. Für ihn war das Fußballfeld eine Manege und der Ball ein gezähmtes Tier. Zusammen stellten sie Dinge an, sodass die Zuschauer fast vor Lachen starben. Er sprang über den Ball, spielte ihn um sich herum, legte ihn sich vor und rannte hinterher. Und auf dem Weg liefen sich die Verteidiger gegenseitig um”, schrieb der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano einmal.

1983 starb ein verarmter und vom Alkohol gezeichneter Garrincha im Alter von gerade einmal 49 Jahren einen einsamen Tod – auch wenn sein Trauerzug durch Rio de Janeiro von mehreren hunderttausend Menschen begleitet wurde. Dass einer der ganz großen Spieler der Fußballgeschichte hierzulande längst in Vergessenheit geraten ist, hängt neben seiner Abneigung gegen öffentlichen Ruhm wohl auch damit zusammen, dass er nie in Europa spielte. Dabei hat es nicht nur Real Madrid versucht.

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Baumgart's Fussballblog

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