
Kurz vor dem Millennium, im Jahr 1999, ist Andriy Oleksijowytsch Lunin im beschaulichen Krasnograd zur Welt gekommen. Das 20.000 Einwohner-Städtchen wurde zu jenem Schauplatz, wo der heute 22-Jährige seine ersten Gehversuche als Fußballer unternahm, ehe es den Schlussmann über Arsenal und anschließend Metalist, jeweils aus Charkiw, zum FK Dnipro zog, wo Lunin als 17-Jähriger sein erstes Spiel als Profi in der höchsten Spielklasse der Ukraine bestreiten durfte. Dem prompten Abstieg von Dnipro folgte für den Schlussmann der Wechsel zu Sorja Luhansk, wo Lunin nicht nur als gerade Volljähriger auf Anhieb Stammspieler wurde, sondern auch direkt in der Europa League internationale Erfahrungen schnuppern durfte. In allen sechs Partien hütete der Youngster den Kasten seiner Mannschaft. Frische Luft, die ihm zu schmecken schien.
Leih-Odyssee mit mehr Tiefen als Höhen
Dem 1,91 Meter-Mann eilte nach nur knapp zwei Jahren in der Ukraine nicht nur der Ruf eines großen Torwart-Juwels voraus, erste Vereine verkündeten auch Interesse am Talent. Darunter auch die Königlichen, die, wie wir heute wissen, den umgarnten Akteur von ihrem Konzept zu überzeugen wussten und schlappe 8,5 Millionen Euro für dessen Dienste in die Ukraine transferierten. „Ein Traum wird wahr”, sagte Lunin bei seiner Vorstellung dazu, der neben Florentino Pérez und einem Trikot in der Hand wie ein schüchterner Schuljunge daherkam. Dem Wechsel in die spanische Hauptstadt folgte direkt die erste Leihe zum Ligakonkurrenten CD Leganés, wo Lunin zwar nicht zur Stammkraft avancierte, sich allerdings zumindest mit seinem bis dato größten Erfolg vertrösten konnte, in dem er mit der U20-Nationalmannschaft der Ukraine nicht nur Weltmeister, sondern auch zum Torhüter des Turniers gekürt wurde. Es war der Höhepunkt, welchem noch viele weitere Triumpfe folgen sollten. Sein großer Durchbruch schien nur noch eine Frage der Zeit.
Doch die Zeit verging und statt die erwartet steile Karriere einzuläuten, versackte der Ukrainer auf diversen Reservebänken: Bei seiner ersten Station in Leganés blieb es bei der anfänglichen Reservistenrolle und lediglich sieben Einsätzen. Natürlich keine Bewerbung für das Stellvertreteramt im Tor, geschweige denn die Nummer 1, bei den Blancos zu werden. Auch wenn das erste Jahr in Spanien kein guter Start war und der Exkurs nach Leganés ein Rückschlag blieb, vertraute man weiterhin auf die etablierte Leihpraxis und fand zur Saison 2019/20 mit Real Valladolid einen weiteren Erstligisten für den Ukrainer. Eine gute Lösung, dachte man im ersten Moment, zumal zum Zeitpunkt der Entscheidung der Abgang von Keylor Navas noch nicht bekannt war und sich erst später noch eine vakante Stelle neben Courtois aufgetan hätte, worüber Lunin im Nachhinein nicht glücklich schien: „Niemand wusste, dass Keylor Navas Real Madrid verlassen würde. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, in der Mannschaft zu bleiben“.
Doch auch bei Real Valladolid, wo alles hätte besser laufen sollen, verschlimmerte sich die Situation für Lunin noch zunehmends. Zwei Einsätze im Pokal, das war es an Spielpraxis im halben Jahr. „Warum mir in Valladolid nicht vertraut wurde, muss man die Trainer fragen, nicht mich“, resümierte der Schlussmann seine überschaubare Ära beim Ronaldo-Klub. Als Konsequenz wurde die Leihe abgebrochen und im Januar 2020 mit dem zweitklassigen Real Oviedo eine neue Lösung gefunden.
Ein Schritt zurück – für die bekannten zwei Schritte nach vorne?
In Oviedo war der sechsfache ukrainische A-Nationalspieler dann endlich wieder Stammkraft und kam in der Rückrunde zu 20 Einsätzen. Wenn auch nicht auf dem erstrebten Niveau, aber zumindest in aller Regelmäßigkeit durfte Lunin sich wieder beweisen. Und siehe da, es reichte zumindest dafür aus, dass im Anschluss der Spielzeit der damalige Trainer Zinédine Zidane Lunin zum Mann hinter Courtois beförderte, obwohl das den Abgang seines Sprösslings Luca Zidane forcierte und auch eine Entscheidung gegen den von Paris ausgeliehenen Alphonse Areola bedeutete. Definitiv ein Vertrauensvorschuss für Lunin und die Chance an der Seite von Courtois mit etwas Verzögerung zu einem Weltklassetorhüter zu reifen. „Natürlich würde ich gerne zu Real Madrid zurückkehren und dort um den Posten als Nummer eins kämpfen“, zeigte sich der Ukrainer bereits vor seiner Rückkehr enorm ambitioniert und voller Vorfreude. Es roch ein wenig nach der Rückkehr des verlorenen Sohnes und dessen Sturm auf den Fußball-Olymp.

Doch viel ist von dieser Aufbruchstimmung seit dem Sommer 2020 sowie der „Beförderung” für Lunin nicht mehr erkennbar. Unter Zidane nicht. Und unter Ancelotti genau so wenig. An der Concha Espina führt damit der Ukrainer nun seit über einem Jahr eine Art Schattendasein und kommt einfach nicht zum Einsatz. Dass für die momentane Nummer zwei an Courtois (noch) kein Weg vorbeiführt, ist dabei nicht der auschlaggebende Punkt, sondern eher die Tatsache, dass bereits der zweite Übungsleiter nicht das nötige Vertrauen aufbringen kann – oder auch will – Lunin zumindest in den weniger wichtigen Spielen aufzustellen. Sein unrühmliches Pflichtspieldebüt, Januar diesen Jahres unter „Zizou”, im Pokal gegen einen Drittligaaufsteiger (1:2), endete zudem ohne ein Empfehlungsschreiben für ihn. Das nicht nur, wegen der peinlichen Niederlage, sondern auch, weil Lunin weniger durch seine Leistung, als durch einen durchaus verunsicherten Auftritt in Erscheinung getreten war. Als wären das nicht schon genug Rückschläge, wurde Lunin dann auch noch vor der EM aus dem vorläufigen Kader der Ukraine gestrichen – der nächste Nackenschlag. Somit liegt das letzte Länderspiel nun auch schon fast wieder ein Jahr zurück. Für die aktuelle Länderspielpause wurde er gar nicht erst berufen – Stagnation in allen Ebenen also.
„Klar sehe ich mich als Torwart von Real Madrid”
Und dann stellt sich langsam schon die Frage, wo der Weg für das einstige Torwart-Juwel hinführen soll? Courtois hat mit seinen 29 Jahren, gerade als Torhüter, noch ein paar Jahre auf höchstem Niveau vor sich und bis dato auch noch keine Andeutungen gemacht, dass er Madrid verlassen wollen würde. „Dass Thibaut sich auf einem Top-Level befindet, ist ganz klar. Ohne seine gute Qualität würde er nicht bei Real Madrid spielen”, lobt Lunin selbst seinen Kollegen, an dem er bis auf Weiteres keinen Weg vorbei finden wird, sich aber zumindest an seiner Seite entwickeln und bereits etwas abschauen sollte. „Mir gefallen bei ihm viele Dinge – zum Beispiel, wie er seine Körperlänge nutzt.“ Denn Lunin kommt allmählich immer mehr in die Bringschuld und sollte irgendwo zeigen, dass er auch auf internationalem Niveau ein starker Rückhalt sein kann. Eine weitere Leihe ist zwar denkbar, aber aufgrund der Historie Lunins eher unwahrscheinlich. Mehr Einsatzzeiten für die Merengues wären daher die Lösung, doch Ancelotti sieht das momentan scheinbar nicht so.
Denn Fakt ist: Lunin zeigt sich noch geduldig – zumindest liest und hört man nichts über seinen Unmut – und scheint auch daher bis dato noch nicht unzufrieden mit seiner Rolle. Offensichtlich ist es weiterhin das Ziel, sich seinen Platz erarbeiten zu wollen: „Wenn der Trainer wechselt, ändern sich viele Dinge. Du hast mehr Enthusiasmus, du hast eine andere Herausforderung. Ein anderer Mister kommt und du musst ihm zeigen, was du wert bist”, sagte Lunin im Sommer der spanischen Zeitung El Pais. „Ich bereite mich auf ein hartes Jahr vor, um zu kämpfen und auf meine Chance zu warten.” Auch wenn die Lage nicht gerade sehr aussichtsreich erscheint, wirkt zumindest die Mentalität des Schlussmannes so, als hätte er sich noch nicht aufgegeben. Die nötige Geduld und der Ehrgeiz, sich täglich im Training beweisen zu wollen, könnten irgendwann seine Fahrkarte raus aus dieser sportlichen Sackgasse werden: „Klar sehe ich mich als Torwart von Real Madrid. Wenn es nicht so wäre, würde es keinen Sinn machen, nach Madrid zu gehen. Ich tue alles mögliche, um dieses Ziel zu erreichen. Wann das sein wird, weiß ich nicht.”

Dafür braucht der Ukrainer allerdings mindestens zwei Zutaten: Vertrauen seines Trainers und Spielpraxis. Von Ancelotti erhält er bisher noch keines von beidem. Wenn sich das nicht ändert, wäre für den Ukrainer der Aufenthalt in Madrid – und sein Vertrag läuft noch bis 2024 – sicher auch verschenkte Zeit, denn ohne Möglichkeiten, sich auszuzeichnen, wird auch die Entwicklung weiter stagnieren. Und dann wird sich das Warten auf die Erfüllung des einstigen Traums womöglich als vergebene Mühe erweisen: „Wenn der Moment kommt, dann bin ich überzeugt, dass es einer der besten Momente meines Lebens sein wird. Oder der beste“, sagte Lunin einst über den Tag seines Durchbruchs, welcher aktuell jedoch in weiter Ferne erscheint. Doch ein kleiner Lichtblick bleibt und den gab Ancelotti bei einem Interview im September persönlich: „Die Torhüterposition ist einzigartig, wir haben aber mit Andriy Lunin einen sehr starken Youngster und unser Plan ist es, ihm einige Minuten zu geben. Ich weiß nicht genau wann. Aber er verdient es zu spielen und er wird bald spielen.”
Mallorca (6:1) und Sheriff (1:2) hätten diese Möglichkeiten sein können, aber es scheint, dass es wieder der Auftakt in der Copa del Rey im Januar sein muss, damit Lunin ein zweites Mal für Real Madrid auflaufen kann. So bleibt er bis auf weiteres bei nur einem Pflichtspiel stehen, seitdem er im Sommer 2018 verpflichtet wurde. Und in der Sackgasse.
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