
Was ist dran an der „Querpass-Toni“-Behauptung?
„Ich habe lieber 150 Ballkontakte und schieße kein Tor als 50 und treffe.“ Das ist eine Aussage, die man Toni Kroos, wenn man seine Spielweise kennt, zu 100 Prozent zuschreiben kann und die so einige Fans auf die Palme bringt. ‚Querpass-Toni‘ schießt da einigen durch den Kopf. Doch die Frage ist: Mögen die Verfechter einer Startelf ohne Reals Nummer 8 einfach die Art des Spielaufbaus nicht oder verstehen sie sie nicht? Ein Paradebeispiel wäre da Bayern-Ehrenpräsident Uli Hoeneß, der vor einem Jahr gegen ihn wetterte, sogar behauptete, er habe mit seinen Querpässen im heutigen Fußball nichts mehr zu suchen.
Dabei ist doch jeder einzelne Pass, den Kroos an seine Mitspieler gibt, und sei er noch so „quer“, mehr als durchdacht. Das zeigt eindrucksvoll der Ex-Leverkusener und Kroos-Kumpel Stefan Reinartz in „The Mixtape“ bei Amazon Prime Video. Gemeinsam mit dem 32-Jährigen analysiert Reinartz einige entscheidende Momente der K.o.-Phase der letzten Champions-League-Saison. Welchen Anteil der Spielmacher an manchen wichtigen Toren oder Angriffen auf den ersten Blick oft hat(te)? Keinen. Wer genauer hinschaut, wer versucht, Kroos‘ Spielweise wirklich zu verstehen, wird allerdings erkennen: ganz so einfach ist es nicht.
Kroos: „Ich bin besser für meine Mannschaft, da wo ich spiele“
„Ich fühle mich viel wohler, wenn ich oft am Ball bin, ich habe das Gefühl, dass ich so viel mehr Einfluss auf meine Mannschaft nehmen kann. Als halber Zehner zwischen den Ketten hast du natürlich viel weniger Möglichkeiten, den Ball zu bekommen und wenn du weiter hinten spielst, siehst du das auch oft, denn manchmal ist der Pass nicht möglich oder nur schwierig. (…) Jupp (Heynckes) war der Letzte, der mich als reiner Zehner spielen ließ. Zwischen den Linien musst du dich wohlfühlen und ich glaube, das habe ich mit den Jahren so ein bisschen verloren. Ich glaube, es ist nicht nur, dass ich mich weiter hinten wohlfühle, sondern ich bin besser für die Mannschaft, da wo ich spiele.“
Dass sich der Mittelfeldspieler hinten wohler fühlt, sollte kein Geheimnis sein. Dass er von dort aber für sein Team auch tatsächlich extrem effektiv ist und sich seine großen Stärken herauskristallisieren, zeigen drei Szenen: gegen Liverpool (Finale), Manchester City (Halbfinale) und den FC Chelsea (Viertelfinale).
1. Stärke: Positionsspiel und perfekte Abstimmung

Das Stichwort für die Situation auf der Grafik lautet Positionsspiel. Das Ziel: „Die Spieler, in dem Falle (Mohamed) Salah, ins Zweifeln zu bringen. Ich könnte auf meiner Achter-Position bleiben und Mendy bleibt links, aber dann ist es meist relativ statisch und oft ist das Ergebnis: Mendy bekommt den Ball, alle sind zugestellt, der Ball geht wieder zurück.“
Was macht er, um Salah zu verunsichern? „Du siehst das auch an meiner Armbewegung, wo ich eigentlich den Ferland hinschicke, denn wenn er hier an der Linie bleibt, dann hat David (Alaba) nur eine Möglichkeit: nämlich mich anzuspielen, wegen Salah. Also versuche ich, David noch eine weitere Option zu geben, nämlich ihn anzuspielen, denn wie man sieht, geht Salah nicht direkt auf mich drauf. Der bleibt normalerweise in der Mitte, um den gefährlichen Pass auf Mendy zuzumachen, den ich vorher geschickt habe. Ich werde so frei, bekomme den Ball zurück und habe jetzt Zeit und Platz, nach vorn zu schauen.“
Die Verunsicherung Salahs über geschicktes Verschieben war der Schlüsselfaktor und somit der eigentliche Beginn des Angriffs, der sogar zum Tor Karim Benzemas (43.) führte – einzig eine (kuriose) Abseitsposition des Stürmers verhinderte im Finale die Führung, bevor dann später Vinícius Júnior in der 63. Minute das erlösende 1:0-Siegtor schoss.
2. Stärke: Seinen Mitspielern Druck nehmen und Pressing überspielen

Diese Situation beim Hinspiel des Halbfinales im Etihad Stadium ist recht einfach erklärt: Im eigenen Strafraum ist Nacho Fernández am Ball und spielt den Pass auf Reals Nummer 8. Eingekreist von vier Gegenspielern Manchester Citys, bleibt dem Deutschen nur eine Wahl, um den Ball nicht zu verlieren: „City presst nach vorne und wenn ich den Ball annehme, verliere ich ihn hundertprozentig. Ich könnte maximal noch ein Foul rausholen. Bei einem Eins gegen Drei gibt es auch nicht unbedingt so viele um mich herum, die den Ball haben wollen. Das heißt, ich muss ihn direkt spielen und darauf stelle ich mich natürlich schon ein, wenn Nacho den Ball hat. Da kommt eben nicht viel in Frage als der Raum rechts raus.“ Es entstehen durch diesen Pass zwei Vorteile, einer davon ergibt sich für Mendy: „Es ist zumindest mal das Maximum aus der Situation herausgeholt, kein Ballverlust, und auch ein bisschen das Pressing überspielt oder Ferland Mendy ein paar Sekunden gegeben, die bis dahin keiner hatte.“ Aus diesen zwei bis drei Sekunden, die der Franzose durch Kroos‘ Pass zusätzlich bekam, entstand der 2:3-Anschlusstreffer (Endstand 3:4) für Real Madrid.
3. Stärke: Die Fähigkeit, das Spiel zu lesen

Zu sehen sind Kroos und Benzema eingekreist kurz vor dem 1:0-Führungstor des Franzosen (21.) im Viertelfinal-Hinspiel beim FC Chelsea. Warum hat der Greifswalder an diesem Tor einen Anteil? Von seiner gewohnten Sechserposition aus spielt er einen Pass über ungefähr acht Meter zu dem Franzosen, von dem er selbst sagt: „Ich weiß, dass Karim mit diesem Pass nichts Weltbewegendes anfangen kann. Was ich aber weiß, ist, dass sein Innenverteidiger (Thiago Silva) mitkommt, weil Karim einfach auch in dem Raum, wenn du ihn frei lässt, fußballerisch zu gut ist. Dass Silva Druck auf Karim macht, heißt ja in dem Fall nichts anderes, als dass dahinter Platz entsteht, bei dem wir noch gar nicht wissen, wie wir ihn nutzen werden. Aber Karim macht, was ich erwartet hatte: lässt ihn wieder klatschen.“ Mit diesem einfachen Doppelpass und Benzema, der einen Abwehrspieler bindet, macht Kroos den Weg frei für Vinícius auf Linksaußen.
„Vinícius kommt ein bisschen nach innen. Der hat zwar auch Gegnerdruck, aber ist zumindest mit dem Körper in Richtung gegnerisches Tor, kann also ins Eins-gegen-Eins gehen oder eben in eine Doppelpass-Situation mit Karim.“ Eben zu dieser Situation kam es und sie führte gegen Chelsea anschließend zum Tor der Nummer 9 – zusätzlich erleichtert dadurch, dass die „Blues“ in dieser Situation recht hoch standen. Das Spiel richtig gelesen und durch einen einfachen Pass den nötigen Platz geschaffen hat: Toni Kroos.
4. Stärke: Es funktioniert auch in dieser Saison wieder
„Das sind für mich die Szenen, aus denen zu 95 Prozent immer Chancen entstehen.“ Dazu steht Kroos weiter, denn erst beim Champions-League-Auftakt gegen Celtic (3:0) bewies er seine Analysefähigkeiten mal wieder vom feinsten. Und auf den ersten Blick sah es nach 75 Minuten so aus, als wäre es ein sinnloser Pass nach hinten und dann auch noch nach einem Freistoß. Anstatt den Ball weiter in den Strafraum zu bringen, spielte der Mittelfeld-Dirigent ihn weit nach hinten und augenscheinlich war die Gefahr eigentlich vorbei. Aber nicht die Kontrolle: Aus diesem Standard entstand dennoch 30 Pässe (darunter einige Kontakte von Kroos inklusive genialem Pre-Assist auf Carvajal) später Eden Hazards 3:0-Endstand (77.).
Dennoch: Bei 33 Pässen und insgesamt zwei Minuten bis zum Treffer kann von direkter Einleitung eines Angriffs nicht mehr die Rede sein. Worum ging es dann? Um den einfachen Fakt, dass Kroos sah, wie niedrig die Chance war, den Ball bei neun auf der Linie positionierten Celtic-Spielern auf den Kopf oder Fuß des eigenen Mitspielers zu bekommen. Er löste es also spielerisch, lockte den Gegner raus, ließ ihn laufen. Und was lange währte, wurde gut. Die Auszeichnung zum „Most Valuable Player“ gab ihm am Ende recht, nicht nur für diese, sondern auch viele weitere Aktionen.
„Tore machen macht trotzdem Spaß“
Dass der Ex-Nationalspieler und Weltmeister von 2014 Tore trotzdem kann, sieht man an seinen hin und wieder überragenden Distanzschüssen, die im Netz landen. „Es macht ja trotzdem Spaß, Tore zu machen“, sagt er selbst und dennoch bleibt sein Fokus auch weiter, vorn nach möglichen Ballverlusten schnellstmöglich wieder hinten zu sein.
An den Titel in der Champions League hatte er übrigens vorher nicht geglaubt: „Wenn ich vor einer Saison gesagt hätte, dass es nichts wird, war es vor dieser“, und gibt zu, wie wichtig am Ende der Einfluss der jungen Talente wie Eduardo Camavinga oder Federico Valverde auf den Titel war: „Ohne die jungen Spieler wären wir nicht ins Finale gekommen. Es hat uns gutgetan, diese Spieler zu bringen, die entweder schon verstanden haben, was Real Madrid bedeutet oder die sich einfach gar keinen Kopf drum machen und sagen: ‚Egal, wer, Rodri, de Bruyne… ich fresse die auf!‘“ Doch ebenso wäre die Siegchance ohne den Taktgeber selbst gesunken, denn Querpässe hin oder her: Die Tore fangen (oft) bei Kroos an.
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