
An der Stamford Bridge herrschen wieder einmal turbulente Zeiten: Am 8. September erst als Nachfolger des damals frisch entlassenen Neu-Bayern-Trainer Thomas Tuchel vorgestellt, musste Graham Potter sein Amt vor wenigen Tagen nach etwas mehr als einem halben Jahr schon wieder abgeben. Trotz mehrerer Hundert Millionen Euro Transferausgaben – darunter die Verpflichtungen von Weltmeister Enzo Fernández (121 Millionen Euro) oder Mykhaylo Mudryk (70 Millionen Euro) im Wintertransferfenster – war es Potter nicht gelungen, die Londoner zurück in die Erfolgsspur zu führen. Zwölf Siegen standen acht Remis und elf Pleiten gegenüber. Als Konsequenz wurde Potter Anfang April trotz des Erreichens des Viertelfinals in der Königsklasse entlassen. Nachfolger ist Frank Lampard, der die „Blues“ bereits von Juli 2019 bis Januar 2021 trainierte.
Der Gegner
Angesichts von drei Trainern innerhalb einer Saison fällt eine dezidierte Analyse des Spielstils der Londoner immens schwer. Fakt ist, dass Chelsea mit einem Kaderwert von 1,02 Milliarden Euro nach Manchester City (1,05 Milliarden Euro) über den wertvollsten Spielerkader im Weltfußball verfügt. Der Profikader der Blancos kommt derzeit auf einen Gesamtmarktwert von 860,5 Millionen Euro. Ein Blick auf die nackten Zahlen impliziert, dass die Madrilenen am Mittwoch auf einen schwächelnden Gegner treffen: Mit lediglich 39 Zählern aus 30 Partien (1,3 Punkte pro Spiel) rangiert der Londoner Top-Klub aktuell auf einem enttäuschenden elften Platz in der Premier League – quasi ohne Chance, sich über die Liga noch für die Königsklasse zu qualifizieren. Und dennoch dürften die Schützlinge von Carlo Ancelotti nicht den Fehler machen, die „Blues“ zu unterschätzen.
Die Spielidee
Eine Spielidee ist nach einem Spiel unter Interimscoach Frank Lampard nicht in Gänze ableitbar. Klar ist, dass der frühere Fan-Liebling an der Stamford Bridge gerne auf ein 4-3-3-System setzt. Bei der 0:1-Pleite bei den „Wolves“ am Samstag entschied sich Lampard vor Torhüter Kepa Arrizabalaga für die Viererkette James, Fofana, Koulibaly und Cucurella. Im Mittelfeld agierten Gallagher, Fernández und Ex-Real-Star Mateo Kovačić. In der Offensivreihe begannen Sterling und João Félix neben dem deutschen Nationalspieler Kai Havertz. Eine ähnliche Formation scheint auch im Bernabéu denkbar – vermutlich jedoch mit N’Golo Kanté als Mittelfeldstabilisator. Der Franzose dürfte die Statik des Chelsea-Spiels entscheidend beeinflussen, wie das Duell mit dem FC Liverpool vor gut einer Woche gezeigt hat.

Abgesehen von der Grundformation (gegen Real ist auch ein situatives 4-5-1-System denkbar) gab das Wolverhampton-Spiel nur bedingt Aufschluss über Lampards Herangehensweise. So hatte sein Team zwar mit 62 Prozent verhältnismäßig viel Ballbesitz und lieferte auch eine ordentliche Passquote (84 Prozent). Große Probleme wiesen die „Blues“ jedoch beim Kreieren von Torchancen auf. So befanden sich in Phasen des geordneten Offensivspiels (die raren Umschaltmomente sind hier ausgenommen) oftmals drei oder mehr potenzielle Zielspieler auf einer Ebene. Steil-Klatsch-Muster oder gegenläufige Bewegungen waren ebenso wenig wie Überladungen einer Seite zu beobachten.

Die größte Gefahr ging neben der individuellen Klasse von Spielern wie Havertz oder João Félix oder von Rechtsverteidiger Reece James aus. Der Engländer, der von verschiedenen Medien immer wieder mit Real Madrid in Verbindung gebracht wird, spielte einige gefährliche Bälle aus dem Halbfeld.

Hinzu kamen wenige Kombinationen in Richtung Grundlinie. Wenn das gelang, waren die „Blues“ mit einer guten Strafraumbesetzung stets gefährlich.
Individuelle Klasse und hohe Aggressivität
Gefährlicher als die Spielidee der Londoner dürfte hingegen die bereits erwähnte individuelle Klasse der Engländer sein. So zählt der Spielerkader, wie bereits erläutert, zu den teuersten und talentiertesten im Weltfußball. Viel Torgefahr dürfte vor allem in Umschaltmomenten oder bei Spielverlagerungen drohen. So verfügen die Londoner über etliche Spieler mit hohem Tempo und exzellenten Eins-gegen-Eins-Fähigkeiten, wie etwa João Félix, Hakim Ziyech, Christian Pulisic oder Raheem Sterling. Im Achtelfinalrückspiel gegen Borussia Dortmund wurde es oftmals dann gefährlich, wenn die Flügelspieler in offensive Eins-gegen-Eins-Duelle gehen konnten und diese individuell auflösten oder mit gruppentaktischen Mitteln eine alternative Lösung fanden (Überlaufen, Spiel über den Dritten, Doppelpass).
Gegen das Team aus der englischen Hauptstadt muss sich der CL-Rekordsieger außerdem auf eine harte Gangart einstellen. Mit 111 begangenen Fouls und 20 gelben Karten sind die Londoner bis dato das unfairste Team der Königsklasse. Mit Torwart Kepa Arrizabalaga, Thiago Silva, Reece James, Conor Gallagher, Mykhailo Mudryk und Enzo Fernández sind gleich sieben (!) Spieler von einer Gelb-Sperre bedroht. Im Vergleich dazu zählen die Blancos mit 56 Fouls und sechs gelben Karten zu den fairsten Teams im Wettbewerb.
So muss Real auftreten
Um den „Blues“ seine wesentlichen Stärken zu nehmen, dürfte das Clásico-Rückspiel als eine Art Blaupause dienen. Gegen den FC Barcelona war Rodrygo Goes einer der in taktischer Hinsicht am variabelsten agierenden Spieler. Der Brasilianer nahm situativ im Zentrum einen den zentralen Aufbauspieler der Katalanen in deren Mittelfeld auf, sodass im Mittelfeldzentrum eine Art Vier-gegen-Vier-Zuordnung entstand. Diese sorgte dafür, dass Barcelona keine Überzahlsituationen im Zentrum kreieren durfte. Eine solche Variabilität dürfte auch am Mittwoch erforderlich sein.

Zwar war vor allem Balde auf der ballentfernten Seite bei Verlagerungen anspielbar. Dessen Hereingaben ließen die Königlichen aber bewusst zu, da sie auf ihre Box-Verteidigung vertrauten. Diese funktionierte vor allem in Person von Éder Militão und David Alaba hervorragend. Auf der anderen Seite verteidigte Camavinga Barcelonas Raphinha im Eins-gegen-Eins zumeist hervorragend, sodass nur wenig Torgefahr von den Katalanen ausging.
Entscheidenden Personalien
Der Schlüssel zum Erfolg im Camp Nou war eine Mischung aus taktischen Aspekten und personellen Entscheidungen. Neben hervorragenden Umschaltmomenten, wie beim 1:0 für die Merengues, war die Personalie Eduardo Camavinga ein wesentlicher Faktor. So agierte der Franzose nominell als Linksverteidiger. Situativ rückte er in einer Dreier-Rochade mit Alaba und Kroos jedoch auf seine bevorzugte zentrale Mittelfeldposition ein und war dabei entscheidend beim Überspielen der Gegenspieler.

Hinzu kommt, dass das Duo Militão/Alaba auf der Innenverteidigerposition zum einen im Spielaufbau enorm viel Ruhe ausstrahlte und zum anderen taktisch diszipliniert in der Box-Verteidigung agierte. Weniger souverän trat zuletzt hingegen Antonio Rüdiger auf. Gegen den FC Villarreal ließ sich der Abwehrchef der deutschen Nationalmannschaft immer wieder aus seiner Position ziehen, fand zu spät eine Eins-zu-Eins-Zuordnung und offenbarte zudem Schwächen im Spielaufbau unter Gegnerdruck. So lenkte das „gelbe U-Boot“ den Spielaufbau oft über die Seite des Deutschen, um entweder direkt den ersten Ball zu erobern oder einen unkontrollierten langen Ball zu erzwingen.

Fazit
Auf dem Papier geht Real Madrid sicherlich als klarer Favorit in das Viertelfinal-Duell mit dem FC Chelsea. Die größte Gefahr dürfte darin bestehen, dass die „Blues“ über eine immense individuelle Qualität im Kader verfügen, die durch den Tabellenstand keineswegs abgebildet wird. Klar ist aber auch, dass eine Spielidee angesichts des dritten Trainers innerhalb einer Saison nicht gereift sein kann. Daher scheint die Kombination aus der enormen Motivation für den Wettbewerb Champions League und die individuelle Klasse in Verbindung mit der Unberechenbarkeit des Gegners die größte Gefahr darzustellen.
Wichtig scheinen neben eigener taktischer Variabilität (Switch von 4-3-3 sowohl abwehr- als auch angriffstaktisch in unterschiedliche Systeme) vor allem personelle Entscheidungen. So sollte Camavinga die Linksverteidigerposition bekleiden und die Innenverteidigung vom Duo Militão/Alaba gebildet werden – auch wenn Rüdiger gegen seinen Ex-Klub sicherlich top-motiviert sein dürfte. Über allem steht jedoch die Gier der Königlichen, „ihren Wettbewerb“ im Idealfall ein weiteres Mal zu gewinnen. Legen sie ihre unvergleichliche Champions-League-Mentalität an den Tag und treten wie im Clásico erneut mit drei klaren Angreifern an, sind die Ancelotti-Schützlinge gegen Chelsea klar im Vorteil.
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