Analyse

Manchester City im Taktik-Check: Taktische Variabilität trifft auf enorme individuelle Klasse

Fast genau ein Jahr ist es her, dass Real Madrid Manchester City in der Champions League in einem epischen Halbfinale ausgeschaltet hat. Im Mai 2022 ermöglichte ein später Doppelpack von Rodrygo Goes (90., 90.+1) zunächst die Verlängerung, in der Karim Benzema (95.) schließlich zum Helden wurde. Am Dienstag stehen sich die beiden Giganten des europäischen Fußballs erneut gegenüber. Nun scheint das Team von Pep Guardiola – nicht zuletzt aufgrund des starken Erling Haaland – noch stärker zu sein. REAL TOTAL analysiert, worauf sich die Blancos einstellen müssen und wie die „Skyblues“ dennoch zu schlagen sind.

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Ancelotti, Guardiola
Am Dienstag stehen sich Carlo Ancelotti und Pep Guardiola erneut im Halbfinale der Champions League gegenüber – Foto: Catherine Ivill/Getty Images

Immense taktische Variabilität

Dass Manchester City in taktischer Hinsicht nicht nur ein Muster zu spielen in der Lage ist, haben nicht zuletzt die Duelle mit dem FC Bayern im Viertelfinale der Königsklasse (3:0, 1:1) oder die 4:1-Machtdemonstration gegen den FC Arsenal in der Premier League unter Beweis gestellt. Ob mit einem Dreier-Aufbau, eingerückten Außenverteidigern oder anderen taktischen Überlegungen – immer wieder zielt Pep Guardiola auf eine Dominanz im zentralen Mittelfeld ab.

City baut gern variabel auf: gegen Leeds haben die Spieler etwa mit einer Dreierkette (rote Kreise) agiert, um im Mittelfeld sowohl im Zentrum als auch auf den Flügeln ein situatives Überladen zu ermöglichen  – Screenshot: Sky Sport

Gegen Leeds United agierte der englische Meister beispielsweise mit einer Dreierkette. Auf diese Weise konnte die Guardiola-Elf sowohl im Zentrum als auch am Flügel „Overload“-Situationen kreieren. Dasselbe Muster findet jedoch immer wieder auch aus einer Viererkette Anwendung, indem entweder die Außenverteidiger einrücken oder ein Innenverteidiger ins Mittelfeldzentrum vorschiebt (Stones ist hier immer wieder ein Kandidat). Kurzum: Die taktische Variabilität des englischen Top-Klubs könnte höher kaum sein.

Haaland eröffnet mehr Optionen

Durch die Verpflichtung von Erling Haaland im Sommer haben sich für Guardiola jedoch völlig neue Möglichkeiten eröffnet. So operiert City nicht mehr mit einer oder gar zwei „falschen Neunen“, sondern mit einem klassischen Mittelstürmer, der über herausragende individuelle Fähigkeiten verfügt. Diese Tatsache hat sich der Spanier beispielsweise gegen Arsenal zunutze gemacht. Im Spitzenspiel der Premier League war eine der Grundideen, (vor allem) Martin Ødegaard dazu zu bewegen, einen der Innenverteidiger anzulaufen. Stones hat dies beispielsweise vor dem 1:0 provoziert, in dem er den Ball verhältnismäßig lange gehalten hat.

Gegen Arsenal lockt City Ødegaard durch (bewusstes) Ballhalten auf der Innenverteidigerposition immer wieder aus der Ordnung – Screenshot: Manchester City

Da auf diese Weise Thomas Partey höher schieben musste, als ihm das im Normalfall lieb ist, ermöglichte der kurze Zeit später gespielte lange Ball auf den physisch extrem präsenten Haaland der Guardiola-Elf verschiedene Möglichkeiten. So legte der Zielspieler das Leder (nicht nur vor dem 1:0) immer wieder auf nachrückende Spieler ab. Dadurch, dass Partey aus seiner Position gezogen wurde und sich nach dem gespielten langen Ball in Richtung Haaland orientierte, öffneten sich für Kevin de Bruyne nun etliche Möglichkeiten.

Haaland macht den langen Ball fest und legt ihn auf de Bruyne ab, der das gesamte Feld vor sich hat – Partey orientiert sich für einen Moment an Haaland und verliert dabei den Belgier aus den Augen – Screenshot: Manchester City

Der Mittelfeldmotor konnte zwischen verschiedenen Laufwegen in die Tiefe wählen und hatte den klaren Vorteil, die Aktion selbst zu gestalten. Als Haaland das Leder per Winkelpass auf den Belgier ablegte, nahm er den Ball auf und schloss in Weltklassemanier ab.

De Bruyne kann so den Raum vor sich überblicken, spielt sein Tempo aus und trifft eiskalt zur Führung – Screenshot: Manchester City

Dieses Muster, den Gegner zunächst aus der Position zu ziehen, um dann mit dem Steil-Klatsch-Prinzip in die Tiefe zu kommen, fand in jenem Spiel immer wieder Anwendung. Dabei variierte der Zielspieler. Sowohl Haaland (75 Prozent gewonnene Kopfballduelle) als auch de Bruyne (100 Prozent gewonnene Kopfballduelle) agierten dabei mit der nötigen physischen Präsenz.

Beeindruckende Statistiken

Doch nicht nur in puncto taktischer Variabilität, sondern auch mit Blick auf die bereits skizzierte individuelle Klasse und die Statistiken könnte der Respekt in Madrid vermutlich größer kaum sein. So erzielten die „Skyblues“ 89 Treffer in 34 Premier-League-Partien (2,62 Tore pro Spiel), auch in der Königsklasse traf der Top-Favorit bereits 26 Mal (2,6 Tore pro Spiel). Doch auch Reals Statistiken können sich sehen lassen: 69 Liga-Tore (2,09 Tore pro Spiel) stehen 25 Königsklassen-Treffer (2,5 Tore pro Spiel) gegenüber.

Der größte Unterschied zwischen den beiden europäischen Giganten ergibt sich mit Blick auf die Verteilung der Tore: So verfügt City mit Haaland sowohl in der Liga (35 Tore in 32 Spielen, 74 Minuten pro Tor) als auch in der Champions League (zwölf Tore in acht Spielen, 48 (!) Minuten pro Tor) über den herausragenden Angreifer. Während Haaland in der Champions League fast 50 Prozent der City-Tore erzielt hat, verteilt sich die Last bei Real auf mehrere Schultern. Vinícius Júnior (sechs Tore), Rodrygo Goes (fünf Tore) und Karim Benzema (vier Tore) sind dabei bislang die treffsichersten Spieler.

de Bruyne, Haaland
Mit Kevin de Bruyne und Erling Haaland verfügt der englische Meister über ein kongeniales Offensiv-Duo – Foto: OLI SCARFF/AFP via Getty Images

Der vielleicht größte Unterschied zur Vorsaison besteht aufseiten des Top-Klubs aus Manchester neben der Personalie Haaland ohne Frage in der Art und Weise der Defensivarbeit: So verteidigt City in der Königsklasse seriös wie vielleicht nie zu vor. Nach lediglich zwei Gegentreffern in der Gruppenphase (0,33 Gegentore pro Spiel) folgten zwei weitere Gegentore in der K.0.-Phase (0,5 Gegentore pro Spiel). Kurios: Ins FA-Cup-Finale ist City eingezogen ohne ein einziges Gegentor zu kassieren. Doch auch die Königlichen verteidigten sowohl in der Gruppenphase (1,0 Gegentore pro Spiel) als auch in der K.o.-Runde (0,5 Gegentore pro Spiel) durchaus konzentriert.

Wie kann Real Haaland und Co. stoppen?

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen stellt sich die Frage, wie die Blancos den Titelfavoriten dennoch stoppen können. Ein Schlüssel zum Erfolg könnte sein, das ideale Match-Up für Erling Haaland zu finden. Hier könnte die große Stunde von Antonio Rüdiger schlagen. Da der zuletzt schwächelnde Éder Militão im Hinspiel im Estadio Santiago Bernabéu ohnehin gesperrt fehlt, dürfte ein Rüdiger-Einsatz sehr wahrscheinlich sein. Der Deutsche, der im Laufe der Saison vor allem in der Box-Verteidigung nicht immer überzeugt hat, könnte in physischer Hinsicht die richtigen Voraussetzungen mitbringen, um den norwegischen Mittelstürmer einzubremsen. Unterstützt von Mentalitätsmonster David Alaba dürfte die Innenverteidigung der Merengues gut aufgestellt sein.

Antonio Rüdiger
Gut möglich, dass Rüdiger gegen ManCity eine Schlüsselaufgabe zukommt – Foto: JAVIER SORIANO/AFP via Getty Images

Dass eine Mannschaft wie Manchester City allerdings über mehr als eine offensive Waffe verfügt, wird mit Blick auf die individuellen Statistiken deutlich: So hat Kevin de Bruyne beispielsweise wettbewerbsübergreifend nicht nur neun Tore erzielt, sondern auch kaum zu greifende 27 Assists (!) geliefert. Auch Riyad Mahrez (15 Tore, zwölf Asssits), Phil Foden (14 Tore, sieben Assists), Jack Grealish (fünf Tore, elf Assists) oder Julián Álvarez (15 Tore, fünf Assists) haben ihre immensen Qualitäten bereits unter Beweis gestellt.

Demzufolge scheint es essenziell, dass die Königlichen den die „Citizens“ als Kollektiv verteidigen – und sich zugleich ihrer eigenen Stärke bewusst sind. Rodrygo Goes äußerte sich diesbezüglich jüngst in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTVE aufgeräumt und klar: „City macht immer Angst. Wir wissen, dass es eine großartige Mannschaft ist, die sehr gut spielt. Wir sind aber zuversichtlich, sie zu schlagen.“

Fazit: Respekt? – Ja, sicher. Angst? – Keinesfalls!

Um den großen Favoriten auf den Champions-League-Titel genauso wie im Vorjahr aus dem Wettbewerb zu kegeln, bedarf es ohne Frage einer außergewöhnlichen Leistung. Wenn Real Madrid die Ballbesitzphasen des Gegners als Kollektiv übersteht und die eigenen Momente nutzt, um die enorme Qualität auf den Platz zu bringen, dürften die Ancelotti-Schützlinge keineswegs chancenlos sein. Denn eines ist sicherlich auch in Manchester angekommen: In Europa gibt es keine andere Mannschaft, die über derartig viel (Titel-)Erfahrung, „Big Game“-Mentalität und Siegeshunger verfügt wie die Blancos.

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