
Ein Team für die Ewigkeit
Als Sergio Ramos vor zehn Jahren in der 93. Minute der Nacht von Lissabon zum Ausgleich köpfte und den Weg zu „La Décima“ ebnete, dem fast schon manisch ersehnten zehnten Triumph Reals Madrids in der Champions League, herrschte allenthalben vor allem Erleichterung nach Jahren des Scheiterns in Achtel- und Halbfinals. Nur die kühnsten Optimisten wagten von einer neuen Erfolgsära der Königlichen zu träumen, einer ähnlichen Dominanz wie Ende der 50er-Jahre, als Alfredo Di Stéfano, Ferenc Puskás, Paco Gento und Co. den Europapokal der Landesmeister fünf Mal in Serie gewinnen konnten und so den Grundstein für den Mythos Real Madrid legten. Zehn Jahre später dürfen, ja müssen wir nicht nur von der zweiten großen Epoche des Vereins sprechen, sondern auch die Frage stellen, ob dieses Real Madrid nicht schon größer als jenes von vor knapp 70 Jahren ist. Seit dem Triumph in Wembley, dem 15. Titel insgesamt und dem sechsten seit 2014 habe ich keine Zweifel mehr: Unser Real ist das Größte jemals, größer noch als die Jahrhundertmannschaft um „La Saeta Rubia“.
Nach der Minute 92:48 in Lissabon 2014 erfüllte sich nicht nur der Traum des Madridismo vom zehnten Titel, zwei Jahre später folgte der Nächste, dann kam die erste Titelverteidigung in der Champions-League-Ära, anschließend sogar der Dreifach-Triumph und als alle dachten, dass ein großer Umbruch inklusive einer längeren Durststrecke, vor allem auf internationaler Ebene, folgen würde, machten Dani Carvajal, Toni Kroos, Luka Modrić und Co. einfach weiter. Zehn Jahre nach dem Ramos-Kopfball stehen sechs Champions-League-Titel zu Buche – unzählige historische Rekorde wurden in dieser Dekade regelrecht pulverisiert.
Während die historische Mannschaft der Blancos zwischen 1956 und 1960 fünf Titel gewann, holte den sechsten Triumph 1966 in Brüssel eine komplett neue, andere Mannschaft, in der nur noch Gento aus dem ursprünglichen Team stand. Im Gegensatz dazu ist der Nukleus des aktuellen Kaders bei genauer Betrachtung seit 2014 unverändert: Es ist die Mannschaft von Carvajal, Kroos, Modrić, Nacho Fernández, aber auch von Lucas Vázquez. Die Abgänge von Cristiano Ronaldo, Sergio Ramos oder Karim Benzema waren kein Riss im Kontinuum, sondern nur Begleitumstände einer organischen Entwicklung. Auch der Schwierigkeitsgrad des Wettbewerbs und die Konkurrenzsituation sprechen eine eindeutige Sprache: Di Stéfano und Co. mussten jeweils nur vier K.o.-Runden bis zum Endspiel absolvieren, während es in der modernen CL-Ära allein in der Gruppenphase sechs Begegnungen gibt und bis zum Finale zwölf Partien auf höchstem Niveau zu absolvieren sind. In den Anfangsjahren des Wettbewerbs gab es außerdem keine Vereine, die wie Staatskonzerne geführt und finanziert wurden, die Gegner hießen häufig Reims, Nizza oder Partizan Belgrad. Seit elf Jahen müssen sich Carvajal und andere hingegen mit den Manchester Cities, Paris Saint-Germains und Chelseas dieser Welt herumschlagen – und schlugen sie alle trotz aller objektiver Wettbewerbsnachteile, vor allem finanzieller Natur, reihenweise und regelmäßig. Wenn man die sechs Triumphe des heutigen Teams in diesen historischen Kontext setzt, darf es eigentlich keine zwei Meinungen geben: Es ist nicht nur vom besten Team in Real Madrids Historie die Rede, es ist die größte Fußballmannschaft aller Zeiten.
Der vierfache Gento
Bis zum gestrigen Abend war der legendäre Francisco Gento der einzige Spieler der Fußballgeschichte mit sechs Landesmeisterpokal- respektive Champions-League-Titeln. Mit Carvajal, Kroos, Modrić und Nacho haben gleich vier Akteure diese unfassbare historische Bestmarke geknackt. Diese Spieler haben mehr Trophäen in der Königsklasse als die meisten anderen Vereine – nur Real Madrid selbst und der AC Mailand haben mehr. Oder auch: Der große FC Barcelona gewann in seiner ruhmreichen Historie weniger CL-Titel als vier Spieler des aktuellen Kaders von Real-Madrid. Und genauso viele wie Lucas Vázquez.
Kein Ende in Sicht
Während für Toni Kroos und vermutlich auch für Nacho Fernández der sechste Triumph auch der Letzte ist, haben Dani Carvajal und Luka Modrić in der nächsten Saison die Möglichkeit, alleinige Rekordhalter in puncto Champions-League-Titel zu werden. Auch wenn vor allem das Karriereende des deutschen Mittelfeldstrategen wehtun und Spuren hinterlassen wird, wird der Kader des nationalen und europäischen Rekordmeisters ab dem Sommer tendenziell eher stärker als schwächer werden. Mit Kylian Mbappé kommt ein absoluter offensiver Gamechanger, der Wechsel des brasilianischen Supertalents Endrick steht ohnehin längst fest. Zusammen mit den beiden jungen Superstars Jude Bellingham und Vinícius Júnior, den konstant auf hohem Niveau auftretenden Rodrygo und Brahim Díaz, mit dem hungrigen und hochveranlagten Arda Güler sprechen wir hier über ein Offensivensemble, das auf Dauer von kaum einer Defensive aufzuhalten sein wird. Auch in den anderen Mannschaftsteilen sind die Blancos bestens aufgestellt. Im Mittelfeld der Merengues sind Akteure wie Federico Valverde, Eduardo Camavinga und Aurélien Tchouaméni, die vor nicht allzu langer Zeit noch als Versprechen für die Zukunft galten, längst zu absoluten Leistungsträgern gereift. In der Abwehr sind mit Thibaut Courtois und Éder Militão zwei Weltklasse-Akteure schon zurück auf dem Platz, David Alaba sollte spätestens zu Beginn der Saisonvorbereitung zu Verfügung stehen, dazu könnte Frankreichs Abwehr-Talent Leny Yoro kommen.
Mit dem fertiggestellten Estadio Santiago Bernabéu hat der wirtschaftlich ohnehin glänzend dastehende Hauptstadtverein einen weiteren Gamechanger in der Hinterhand, mit dem nicht nur der finanzielle Vorsprung gegenüber nationalen Konkurrenz auf Sicht kaum erreichbar sein wird, sondern auch die Wettbewerbsnachteile gegenüber den von Staatsfonds geführten europäischen Vereinen wettgemacht werden kann. Die sportliche Entwicklung wird damit einhergehen, sodass nicht nur die erste nationale Titelverteidigung der Königlichen seit 2008 erwartet werden darf, sondern auch eine erneute Titelverteidigung in der Königsklasse kaum noch überraschend wäre. Denn diese einmalige Generation hat uns gelehrt, dass ihr Siegeshunger schier unersättlich ist. Wir sind alle Zeugen der größten Dominanzära eines Vereins in der Geschichte des europäischen Fußballs und das Beste daran ist – es ist längst nicht zu Ende.
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