Die Copa del Rey war zumindest in den vergangenen Jahrzehnten nicht das ausgemachte Lieblingsturnier Real Madrids. Und doch hielt der prestigeträchtigste spanische Pokalwettbewerb einige denkwürdige Momente für den Rekordmeister bereit: Von der Einwechsel-Posse um Denis Cheryshev 2015 oder dem „Alcorconazo“ 2009 bis hin zu Cristiano Ronaldos Kopfball 2011 oder Gareth Bales Sprint 2014 – jeweils beim Titelgewinn gegen den FC Barcelona.
Fußball ist, wenn 22 Männer…
Um ein Auge auf die größte Besonderheit der königlichen Pokalgeschichte zu werfen, muss man jedoch ein wenig auf der Zeitleiste zurückwandern. Gemeint ist die Ausgabe in der Spielzeit 1979/80, als im Endspiel um den spanischen Pokal 22 Herren aufliefen, die allesamt ein ziemlich ähnliches Wappen auf der Brust trugen: Real Madrid empfing die eigene Reserve, die Castilla, zum vereinsinternen Duell im Estadio Santiago Bernabéu. Königliche Betriebsfestspiele – kaum zu glauben, aber wahr!
Ermöglicht wurde die exotische Final-Paarung, die in dieser Form keine Mannschaft vor und keine Mannschaft nach Real Madrid bewerkstelligen konnte, durch die damals unabhängige Behandlung zweiter Mannschaften im spanischen Vereinsfußball – bis 1991 eine Art Schlupfloch. Die Reserven durften zwar auch früher nicht in der gleichen Liga, sehr wohl aber im gleichen Pokalwettbewerb antreten. Ein direktes Aufeinandertreffen war – vor dem Finale – trotzdem ausgeschlossen, in der Regel scheiterten die Reserven ohnehin bereits in der ersten Runde. 1980 kam es allerdings zur großen Ausnahme. Wer spielte in dieser legendären Castilla-Mannschaft und was zeichnete sie aus?
Nach Francos Tod: Die „Movida Madrileña“
Als eines von insgesamt 18 Cantera-Teams startete die Castilla 1979/80 in die Copa del Rey. Ihr Durchschnittsalter betrug dabei lediglich 20 Jahre, kein Spieler war zu Saisonbeginn älter als 23. Selbst Teamchef Juan José „Juanjo“ García zählte mit seinen 34 Lenzen zu den Frischlingen der Trainergilde. García ließ die zweite Garde der Königlichen fast schon klischeehaft mit einer zeitgemäßen, jugendlichen Unbekümmertheit auftreten, die in den Jahren nach dem Tod von Diktator Francisco Franco (1975) bei spanischen Heranwachsenden allgegenwärtig war. Ein gesellschaftlich überschwappender Optimismus, der sich in Form einer regelrechten Bewegung besonders in der spanischen Hauptstadt breitmachte und „Movida Madrileña“ genannt wurde.
Der ambitionierte junge Haufen traute sich selbst gegen nationale Schwergewichte einiges zu und derartig zelebrierte die Castilla auch ihren Fußball – was ihre Kontrahenten überraschte. „Wir waren ein junges Team, das einfach Fußball spielen wollte. Wir kombinierten flüssig, spielten temporeich und traten mit einer erfrischenden Attitüde auf – die Gegner waren darauf nicht vorbereitet“, erklärte der damalige Castilla-Star Ricardo Gallego. Die Leistungsträger um Stratege Gallego, Stürmer Francisco Pineda und Torhüter Agustín Rodríguez sollten später auch Karriere in der ersten Mannschaft machen – Kapitän Javier Castañeda entwickelte sich immerhin in Osasuna zur Legende.

Antimadridismo setzt aus, Bernabéu füllt sich
Als großer Underdog startete die Castilla einen sensationellen Pokal-Lauf, der im ganzen Land für Furore sorgte. Inspirierte „Remontadas“ gegen Alicante und Gijón, ein beeindruckender Auswärtssieg gegen den damaligen Rekordpokalsieger aus Bilbao im San Memés oder der Triumph über den damaligen LaLiga-Tabellenführer Real Sociedad. Kein Zufall, kein Busparken, dafür schneller, attraktiver Offensiv-Fußball. Das „kleine Madrid“ wurde aus allen Himmelsrichtungen mit Lob überhäuft und begeisterte auch das madrilenische Fußballvolk so sehr, dass die Reserve in dieser Spielzeit teilweise mehr Zuschauer ins Bernabéu lockte als ihre berühmte erste Mannschaft. Selbst der landesweit verbreitete „Antimadridismo“ machte für die erfrischenden Jungspunde eine Ausnahme und schloss sie nicht zwingend in ihre Abneigung gegen Real Madrid mit ein.
Als am Ende einer aberwitzigen Copa-Saison das Finale Real Madrid gegen die Castilla feststand, war das Vereinsziel eigentlich schon erreicht. Die Stimmung im Rahmen des Endspiels blieb in ihrer Euphorie sogar überschaubar, denn bereits als Reals Erste das spätere der beiden Halbfinals gegen Atlético im Elfmeterschießen gewonnen hatte, wurde der sozusagen feststehende Pokalsieg ausgelassen gefeiert. Vor „lediglich“ 65.000 Schaulustigen konnte die Castilla das Finale am 4. Juni 1980 weder lange offen gestalten noch an ihre begeisternden Leistungen aus vorherigen Runden anknüpfen – nach rund einer Stunde führten die Profis bereits mit 4:0. Endstand: 6:1.
Dem ersten Anzug um Vicente del Bosque und Doppeltorschütze Juanito genügte ein nur selten munterer Aufgalopp, um das Ergebnis deutlich zu gestalten. „Alleine, weil wir das Finale erreicht hatten, musste uns Real Madrid ernst nehmen. Die Wahrheit ist aber auch, dass das 6:1 den Unterschied zwischen ihnen und uns widergespiegelt hat“, resümierte Gallego im Nachgang an eine ungewöhnliche Partie, nach der beide Finalisten den Titelgewinn gemeinsam feierten.
Europapokal: Erstes Spiel, erster Sieg, dann das Aus
Weil sich der große Bruder als Meister bereits für den Europapokal der Landesmeister qualifiziert hatte, durfte der Final-Unterlegene, die Castilla, dessen Platz im bis 1999 ausgetragenen Europapokal der Pokalsieger einnehmen. Der erste und letzte internationale Ausflug der königlichen Reserve begann beinahe galaktisch – doch so unverhofft wie er startete, so jäh endete er kurz darauf wieder. Erstrunden-Gegner West Ham United konnte in Madrid tatsächlich mit 3:1 bezwungen werden, das Rückspiel auf der Insel ging aber mit 1:5 verloren – und der unwirkliche Traum war nach der ersten Runde ausgeträumt.
Auch wenn bis heute keine Castilla-Mannschaft gleichwertig in die Fußstapfen jener von 1980 treten konnte, löste diese bei den Merengues umgehend ein Vertrauen in die Jugend aus, was den Jung-Stars der „Quinta del Buitre“ wenig später ermöglichte, sehr zeitnah mehr als faire Chancen in der ersten Mannschaft zu erhalten – und diese sogar für die folgende Dekade zu prägen. Das Erbe eines außergewöhnlichen Jahrgangs, der wohl für immer die einzige zweite Mannschaft bleiben wird, die jemals an einem offiziellen UEFA-Wettbewerb teilgenommen hat. Die wohl bis heute besonderste Geschichte des spanischen Königspokals.
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