
Die Torflaute wird zum strukturellen Problem
Am Ende stand wieder einmal eine Analyse, die man so oder so ähnlich schon öfters in dieser Spielzeit gehört hat. „Vorne hat uns die Effizienz gefehlt, das fehlt uns im Moment. (…) Heute hätten wir treffen können, weil wir drei, vier sehr klare Chancen hatten. Hinten haben wir es gut gemacht, dort sind wir im Moment viel besser. Es fehlt die Balance“, resümierte Carlo Ancelotti im Anschluss an das 0:0 bei Real Betis, das den nächsten Punktverlust sowie den nächsten Rückschlag im Meisterrennen bedeutete. Wieder einmal war man das vermeintlich bessere und spielbestimmende Team, ohne letzten Endes die nötige Durchschlagskraft vor dem gegnerischen Gehäuse zu entwickeln. Ein Problem, das sich bereits durch einen Großteil der Saison zieht, oftmals jedoch durch die vorhandene individuelle Klasse kompensiert werden konnte. In den letzten Wochen war dies allerdings immer seltener der Fall, langsam aber sicher entwickelt sich die mangelnde Torgefahr zu einem strukturellen Problem der Blancos – und somit auch für Ancelotti.
Während man sich gegen die „Béticos“ doch zumindest drei bis vier gute Einschussmöglichkeiten erarbeitete, verzeichnete man gegen den FC Barcelona im Pokal bekanntlich keinen einzigen Schuss aufs Tor und traf gegen Atlético (1:1) erst nach einer Standardsituation. Und auch in den Partien davor blieb man mit Ausnahme des Sieges gegen Schlusslicht Elche entweder torlos (0:0 gegen Real Sociedad und 0:1 gegen Mallorca) oder traf erst sehr spät in der Begegnung (2:0 gegen Osasuna). Für Ancelotti gilt es jene Problematik nun schnell in den Griff zu bekommen, denn sonst droht die nächste Saison ohne großen Titel.
Defizite in der Kaderplanung machen sich bemerkbar
Allein Ancelotti den schwarzen Peter in dieser Hinsicht zuzuschieben, würde natürlich viel zu kurz greifen. Auch die Kaderplanung – und das ist ebenfalls nichts Neues – als Ganzes gilt es zu hinterfragen. Hierbei ist einerseits die große Baustelle auf den Außenverteidiger-Positionen zu nennen, wo sich die Königlichen in den letzten Wochen immer wieder mit Notlösungen herumschlagen mussten. Andererseits natürlich die mangelnden Alternativen im Sturm beziehungsweise das Fehlen eines echten rechten Flügels, der ein entsprechendes Pendant zu Vinícius Júnior bilden und den Brasilianer somit entlasten könnte.
Ebenjene strukturellen Probleme machten sich die Gegner der Königlichen in den letzten Wochen immer wieder zu Nutze. Weil Vinícius meist nur unzureichende Unterstützung von seinem Partner auf der linken Seite erhielt, konnte Reals Linksaußen immer wieder gedoppelt und somit effektiv aus dem Spiel genommen werden. Da auf der Gegenseite selten ein Spieler die nötige Breite hielt und die Blancos sich immer wieder Richtung Zentrum orientierten oder die linke Seite zu überladen versuchten, machte man es dem Gegner relativ einfach, im tiefen Block und aus einer guten Kompaktheit heraus, das eigene Tor zu verteidigen. In Sevilla versuchte Ancelotti dieser Problematik mit dem etwas dynamischeren Camavinga entgegenzuwirken, wodurch Vinícius deutlich mehr Aktionen hatte als zuletzt gegen Barcelona, die anderen Unzulänglichkeiten im Madrider Spiel aber nicht vollends kompensiert werden konnten.
Warum lässt Ancelotti Ceballos nicht von der Leine?
Eine dieser Unzulänglichkeiten war die enorme Statik im sowie die fehlende Kreativität aus dem Mittelfeld. Rodrygo, der diesmal im Zentrum auflief, kam zwar immer wieder in aussichtsreiche Positionen zwischen den Linien, weil Valverde jedoch die rechte Seite nicht konsequent hielt, fehlte es wieder mal an der nötigen Breite, um Kapital aus diesen Situationen zu schlagen. Da mit Toni Kroos und Aurélien Tchouaméni zudem zwei Mittelfeldspieler auf dem Feld standen, die eher für ihre strategischen Fähigkeiten denn ihre Torgefahr bekannt sind, mangelte es zudem bei vielen Durchbrüchen über Außen an der nötigen Torgefahr, weil sowohl der Strafraum als auch der Rückraum nur unzureichend besetzt waren.
Bezeichnend, dass die mehr oder weniger größte Torchance der Königlichen in der Partie der eingewechselte Daniel Ceballos hatte, der nach Vorlage von Carvajal mit einem Abschluss aus dem Rückraum das Tor nur knapp verpasste. Apropos Ceballos: Es war wie allzu oft in den letzten Wochen. Sobald Ceballos auf dem Feld stand, gewann das Spiel der Blancos merklich an Vertikalität und Kreativität. Und es stellt sich die unweigerlich die Frage: Warum lässt Ancelotti den besten und formstärksten Mittelfeldspieler der letzten Monate in den wichtigen Spielen immer wieder draußen, obwohl er der Mannschaft mit seiner Energie und teils unkonventionellen Spielart so derart gut tut?
Der Italiener sollte aufpassen, dass ihm seine Nibelungentreue zu den älteren Spielern letztendlich nicht auf die Füße fällt. Auch wenn Ancelotti bekannt dafür ist, seinen altgedienten Akteuren bis zum bitteren Ende zu vertrauen, muss er sich in den anstehenden großen Partien im Sinne der Mannschaft vermutlich zwischen Kroos und Luka Modrić entscheiden. Denn einen Ceballos in dieser Form darf man eigentlich nicht draußen lassen. Zumal er genau das mitbringt, was dem Spiel seiner Mannschaft zuletzt oftmals abging: Kreativität, Vertikalität und Torgefahr.
Späte Wechsel sorgen für Kritik
Neben den Personalentscheidungen ist da zudem noch ein weiterer Grund, der Ancelottis Rückhalt innerhalb des Vereins bröckeln lässt: Die späten Wechsel in der Partie, die zumeist erst erfolgen, wenn es kaum noch möglich ist, entscheidend in das Spiel einzugreifen. So wurde Sturmjuwel Álvaro Rodríguez, der mit seiner Kopfballstärke und Fähigkeit, Bälle festzumachen, durchaus ein belebendes Element sein kann, gegen Barcelona erst in der 84. und gegen Betis in der 87. Minute eingewechselt – großartige Impulse sind hier selbstredend nur schwer möglich.
Ancelottis Festhalten am immergleichen Personal und seine Sturheit in manchen taktischen respektive personellen Fragen ist wahrlich keine Neuigkeit. Wie er in den kommenden, entscheidenden Wochen damit umgeht, könnte aber entscheidenden Einfluss auf seine Zukunft haben. Denn fest steht: Holen die Blancos in dieser Saison keinen großen Titel, dürfte die zweite Etappe des Italieners an der Concha Espina beendet sein. Der Meisterkampf ist wohl vorbei, doch sowohl in der Copa als auch in der Champions League ist der Titel noch im Bereich des Möglichen – wenngleich man in ersterem Wettbewerb mit dem Rücken zur Wand steht und zweiterer nicht planbar ist. Um am Ende der Saison Silberware in der Hand zu halten, muss Ancelotti an ein paar Stellschrauben drehen und möglicherweise auch die eine oder andere unpopuläre Entscheidung treffen. Denn aktuell spielt er mit dem Feuer. Und um seine Zukunft.
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