
„Ich konnte nicht atmen, nicht essen, nicht schlafen“
„Ich konnte nicht atmen und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Das war in der Kabine, unmittelbar vor dem Champions-League-Finale 2018 gegen Liverpool. Es fühlte sich an, als hätte ich etwas in meiner Brust stecken. Dieser enorme Druck. Ich rede nicht über Nerven, denn die sind im Fußball normal. Es war etwas anderes. Es fühlte sich an, als würde ich ersticken. Alles begann in der Nacht vor dem Finale. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen. Ich dachte nur an das Spiel.“
Das war für mich der größte Druck, den ich hatte. Wenn du die Chance hast, Geschichte zu schreiben, spürst du diese Last. Nie zuvor hatte ich so große Angst. Ich dachte darüber nach, einen Arzt zu rufen, hatte aber Angst, er würde mich für nicht einsatzbereit erklären.
Salah-Poster: Valdano-Aussage motivierte Marcelo
Ich musste spielen, zu 100 Prozent. Ich musste mir selbst etwas beweisen. Einige Tage vor dem Finale hatte ein ehemaliger Spieler von Real Madrid (Jorge Valdano; d. Red.) etwas im Fernsehen über mich gesagt, das mir im Kopf blieb. Er sagte: ‚Ich glaube, Marcelo sollte sich ein Poster von Mohamed Salah kaufen, es sich aufhängen und jeden Abend zu ihm beten.‘ Nach zwölf Jahren und drei Champions-League-Siegen hat er mir im Live-Fernsehen keinen Respekt gezeigt. Aber diese Aussage gab mir eine Menge Motivation.
Ich saß also in der Kabine, versuchte zu atmen und sagte mir:
Wie viele Kinder auf der Welt träumen davon, ein Champions-League-Finale zu spielen? Millionen, Millionen, Millionen. Beruhige dich. Binde deine Schuhe zu, Bruder.“
„Wenn ich sterben muss, scheiß drauf, dann sterbe ich“
Ich wusste, dass alles in Ordnung sein würde, wenn ich es bis zum Spielfeld schaffe. Meines Erachtens nach kann dort nichts Schlimmes passieren. Wenn du den Ball am Fuß hast, hörst du auf, nachzudenken. Alles ist ruhig und friedlich. Als ich dann den Rasen betrat, hatte ich noch immer Atemprobleme und ich dachte:
Wenn ich hier heute sterben muss, scheiß drauf, dann werde ich sterben.‘Das mag für manche Menschen vielleicht verrückt klingen, aber man muss verstehen, was dieser Moment für mich bedeutet. Als ich aufwuchs… Real Madrid? Die Champions League? Das war Blödsinn! Ein Märchen! Das war nicht echt! (David) Beckham, (Zinédine) Zidane, Roberto Carlos, diese Typen waren so echt wie Batman. Du kannst sie im realen Leben nicht treffen. Du kannst die Hand eines Comic-Helden nicht schütteln. Diese Jungs laufen auf Luft, sie schweben über dem Gras. Und es hat sich nichts verändert. Es ist das gleiche bei den heutigen Kindern.

Das ist eine wahre Geschichte: Ich habe einen Jungen, der in meinem Garten in meinem Haus in Madrid arbeitet. Eines Tages kam Roberto Carlos zu mir und wir hingen rum. Und der Junge kam rein. Er war komplett versteinert, er war eine Statue. Ich sagte:
Das ist Roberto Carlos.‘ Der Junge starrte ihn an und sagte: Nein! Das ist er nicht. Das kann nicht sein.‘ Roberto sagte: ‚Doch, ich bin es.‘ Der Junge musste Robertos Kopf berühren, um sicherzustellen, dass es der echte Roberto Carlos ist. Letztlich sagte er: Roberto, du bist es!‘ Das bedeutet es für uns. Es ist anders.Als ich mein erstes Champions-League-Spiel für Real Madrid gemacht habe und die Hymne hörte, sagte ich mir:
Bruder, das ist ja wie im Videospiel!‘ Im Ernst. Die Kamera kommt zu dir, um eine Nahaufnahme zu machen, also kannst du nicht lachen! Das war meine Realität.„Als wäre der Champions-League-Ball ein Stein vom Mond“
Vor ein paar Jahren war ich in Brasilien, um meine Familie zu sehen. Ich nahm einen der Bälle aus einem Champions-League-Finale mit zu einem Amateurspiel eines Kumpels. Meine Freunde kickten herum, dann sagte ich:
Wisst ihr, dass das der Ball vom Finale ist?‘Alle hörten auf. Sie sahen den Ball an, als wäre das ein Stein vom Mond. Sie sagten:
Schwachsinn!‘ All diese erwachsenen Männer waren wie kleine Kinder. Sie konnten nicht glauben, dass es der echte Ball war. Sie wollten ihn auf einmal nicht mal mehr berühren. Als wäre er heilig.Versteht ihr es jetzt? Wenn der kleine Marcelinho aus Rio die Chance hat, die Champions League dreimal in Folge zu gewinnen? Kommt schon. Es war Druck, Druck, Druck. Ich habe es in meinen Knochen gespürt, Bruder. Ich habe keine Angst, die Wahrheit zu sagen.
Als wir gegen Liverpool zum Warmmachen auf den Platz gegangen sind, konnte ich noch immer nicht ruhig atmen. Aber als wir uns zum Anstoß positionierten, unter all den Lichtern, und als ich den Ball in der Mitte sah, hat sich alles geändert. Ich sah den heiligen Ball. Ich sah den Stein vom Mond. Das Gewicht löste sich von meiner Brust. Ich hatte meinen Frieden. Da war nichts außer der Ball.
Über das Spiel kann ich nicht viel sagen. Ich erinnere mich nur an zwei Dinge sehr genau. Etwa 20 Minuten vor Schluss, als wir 2:1 führten, ging der Ball zu einer Ecke ins Aus. Und ich sagte mir:
Ein Salah-Poster an meiner Wand also, ja? Danke, mein Bruder. Danke für die Motivation.‘Marcelo weinte während Champions-League-Finale 2018
Dann, bei noch zehn Minuten Spielzeit, als wir 3:1 führten und der Gedanke in meinen Kopf schoss, dass wir wieder Champions-League-Sieger werden. Der Ball ging zu einem Einwurf ins Aus, ich hatte einen Moment zum Nachdenken und… Bruder, das ist wahr: Ich fing an zu weinen. Ich schluchzte auf dem Feld. Das war mir nie zuvor passiert. Nach einem Spiel? Ja. Mit einer Trophäe in der Hand? Ja. Aber nicht während eines Spiels. Es dauerte nur zehn Sekunden und als der Ball wieder im Spiel war, dachte ich:
Scheiße, ich muss meinen Mann stehen!‘ Ich kehrte in die Realität zurück und spielte weiter.Als Sportler liegt es in unserer Verantwortung, Vorbilder zu sein. Aber wir sind keine Superhelden. Deshalb erzähle ich euch, was mir passierte. Das ist das echte Leben, wir sind Menschen. Wir bluten und machen uns Sorgen, wie jeder andere auch.
Vier Champions-League-Titel innerhalb von fünf Spielzeiten, jeder einzelne war es brutal. Ihr seht uns mit dem Pokal, wie wir lachen, aber ihr seht nicht alles, was in diese Geschichte eingeflossen ist. Wenn ich an all die Endspiele denke, dann ist das ein wunderschöner Film in meinem Kopf. Aber die Bilder werden in umgekehrter Reihenfolge abgespielt: vom Ende zum Anfang der Geschichte.
„Selbst Cristiano machte sich in die Hosen“
Bei dem Finale 2017 gegen Juventus taucht in dem Film auf: Die Jungs sitzen beim Mittagessen am Tisch – ich, Casemiro, Danilo und Cristiano (Ronaldo). Totale Stille. Niemand sagte etwas. Jeder starrte auf sein Essen. Man hörte, wie die Mägen komische Geräusche machten. Aber keiner sagte etwas. Es war wirklich angespannt.
Dann sagte Cristiano:
Eine Frage, Leute.‘ Wir sagten: Ja, Bruder?‘ Cristiano: püre nur ich diesen Druck im Magen?‘ Und alle antworteten gleichzeitig: Ich auch, Bruder! Ich auch!‘ Niemand wollte es zugeben! Aber wenn dieser Kerl es spürt, dann ist es für uns alle in Ordnung, das zuzugeben. Cristiano ist eiskalt. Eine Maschine. Und selbst er machte sich in die Hosen!Das löste die ganze Anspannung. Dafür konnte nur er sorgen. Wir riefen den Kellner herbei:
Bruder, bringe uns bitte Sprudelwasser! Wir brauchen etwas Hilfe, um das Essen herunterzubekommen!‘ Danach lachten wir nur noch. Als wir uns auf den Weg zum Stadion machten, sagte Cristiano uns genau, wie das Spiel verlaufen würde. Er sagte: Am Anfang wird es schwer, aber in der zweiten Halbzeit werden wir entspannt gewinnen.‘ Das werde ich nie vergessen. Er sagte es voraus.Es ist so schön. Das sind die Geschichten, von denen ich meinen Enkeln erzählen werde. Und ehrlich gesagt, in 30 Jahren, wenn ich ihnen erzähle, dass ich auf einem Platz mit Cristiano, mit (Lionel) Messi gespielt habe, werden sie sagen:
Opa, du erzählst uns, dass sie in einer Saison 50 Tore geschossen haben? Du lügst. Du bist senil. Wir müssen Opa zum Arzt bringen!‘
„Dieser Bengel! Wenn der nicht trifft, verprügeln wir ihn“
Bei dem Finale 2016 gegen Atlético taucht in dem Film auf: (Antoine) Griezmann läuft den Flügel runter und ich stelle ihn. Der Ball geht ins Aus und für einen Moment höre ich diese schreiende Stimme auf der Tribüne. Normalerweise bekommt man nichts während eines Spiels mit. Man sieht die Fans nicht, sondern denkt nur an seinen Job. Aus diesem Grund verspürt man keine Angst. Du bist frei. Aber bei diesem Spiel in Mailand saßen die Familien der Spieler an unserer Bank, ganz in der Nähe des Spielfelds. Plötzlich hörte ich diese winzige Stimme aus der Ferne so klar.
Los, Papa, los! Los, Papa!‘ Es war mein Sohn Enzo. Seine Stimme zu hören, gab mir so viel Kraft.Als das Spiel ins Elfmeterschießen ging, habe ich das Bild noch klar vor Augen: Lucas Vázquez nimmt den Ball und dreht ihn auf seinem Finger, als würde er nur im Park Fußball spielen. Ich dachte:
Dieser kleine Bengel! Wenn der nicht trifft, werden wir ihn verprügeln.‘ Dann sehe ich, wie Lucas trifft. Und das super cool. Wir umarmten uns so fest und warteten, dass Atlético den nächsten Schuss macht. Casemiro betete auf den Knien, Pepe weinte wie ein Kind. Dann sagte ich Cristiano: Juanfran macht ihn nicht rein und du wirst das Ding für uns gewinnen, Bruder.‘Ich sah, wie Juanfran verschoss und Cristiano uns zum Sieg schoss. Ich sprintete mit 20 km/h in die Richtung, wo meine Familie saß, um meine Frau und meine Söhne zu umarmen. Ich sah verrückt vor Freude aus.
Ersatzbank bei „la Décima“: Marcelo „war richtig sauer“
Bei dem Finale 2014 gegen Atlético taucht in dem Film auf: Ich sitze auf der Bank und bin richtig sauer, dass ich nicht in der Startelf stehe. In der zweiten Halbzeit machte ich mich warm, noch bevor der Trainer mich dazu aufforderte. Ich wiederholte den Satz:
Wenn ich reinkomme, werde ich alles geben.‘ Dann sagte der Trainer mir, ich solle mich warmmachen. Aber ich war schon warm. Der Dampf kam aus meinen Ohren! Ich rauchte, Bruder!Ich kann bis heute nicht sagen, ob ich gut oder schlecht spielte, als ich dann endlich auf den Platz kam. Ich weiß nur, dass ich alles auf dem Platz abgelassen habe: meinen Ärger, meinen Willen, sogar den Kaffee, den ich vor dem Spiel trank.
„Atléticos Zeugwarte holten schon die Siegershirts“
Ich weiß, dass bei diesem Spiel jedem die Minute 92:48 in Erscheinung tritt. Der Kopfball. Sergio Ramos, unser Anführer. Wir waren tot, verkrampft und besiegt. Und Sergio erweckte uns wieder zum Leben. Aber dieser Film spielt sich nicht in meinem Kopf ab. Vielmehr geht es um die Momente, nachdem wir gewonnen haben. In der Kabine. Ich sprach mit einem unserer Zeugwarte. Er sagte mir:
Marcelo, wir waren in der 90. Minute schon im Tunnel und sahen, wie die Zeugwarte von Atlético schon die Champions-League-Siegershirts aus der Kabine holten! Sie brachten auch schon den Champagner!‘Er weinte vor Freude. Ich sagte ihm:
Jetzt kann ich beruhigt sterben.‘ Das ist das Bild, das ich nie vergessen werde. Die Trophäen wandern in den Schrank, aber diese Erinnerungen gehen in unsere Herzen.‘ Jeder Titel war brutal. Man sieht nicht den Druck, nur die Ergebnisse. Bei Real Madrid gibt es kein: Ach, okay, dann eben morgen.‘ Nein, Bruder. Heute.Die letzte Saison war ein Misserfolg. Wir wissen das. Wir haben nichts gewonnen. Null. Es war eine fürchterliche Erfahrung. Aber mein Haupt bleibt aufrecht, weil uns das wieder den Hunger gegeben hat. Ich spüre die Leidenschaft wie im Kindesalter.
Als ich mit 18 Jahren ins Flugzeug nach Spanien gestiegen bin, wusste ich nicht, dass ich dann schon bei Real unterschreibe. Ich dachte, Real Madrid würde sich mich nur anschauen. Ich kam mit meiner späteren Frau, mit meinem Großvater und meinem besten Freund. Wir vier und ein GPS. Das war alles, was wir hatten. Die ansonsten einzige Person in Brasilien, die wusste, wo ich hingehe, war mein Vater.
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Wir wollten nicht jedermanns Hoffnungen wecken. Real Madrid ist ein Märchen, erinnert ihr euch? Man steigt nicht in ein Flugzeug und sagt seiner Familie:
Ah ja, ich werde bei Real Madrid spielen. Wir sehen uns später!‘ Das ist Schwachsinn! Das ist Träumerei!„Marcelo, du musst dir einen Anzug und eine Krawatte kaufen“
Ich erinnere mich, als ich in den Büros von Real Madrid saß und einer der Trainer sagte:
Nun, Marcelo, du musst dir für morgen einen Anzug und eine Krawatte kaufen.‘ Ich fragte, ich schwöre, ernsthaft: Wofür das denn?‘ Der Kerl sagte: Was meinst du damit? Für die Präsentation. Im Bernabéu.‘ Als man mir den Vertrag hinlegte, unterschrieb ich sofort. Bam. Marcelo Vieira da Silva Júnior. Ich hätte den Vertrag mit meinem Blut unterschrieben, Bruder. Es war ein Fünf-Jahres-Vertrag und ich setzte es mir zum Ziel, zehn Jahre hier zu sein. Jetzt sind es 13 und der kleine Marcelinho aus Rio ist immer noch da.
Es tut mir leid für diejenigen, die an mir zweifeln, aber ich gehe nirgendwo anders hin. Für mich ist es mehr als eine Ehre, der dienstälteste ausländische Spieler bei Real Madrid zu sein. Es ist ein Märchen. Es ist Unsinn. Es ist verrückt.
Ich hoffe, nachdem ihr das gelesen habt, dass ihr versteht, was es für mich bedeutet. Ihr müsst verstehen, woher ich komme, Bruder. Die letzten Szenen des Films in meinem Kopf: Ich bin acht Jahre alt. Wir haben kein Geld mehr. Meine Familie kann es sich nicht leisten, den Sprint zu zahlen, um mich jeden Tag zum Fußball zu fahren. Mein Großvater opferte sich auf und veränderte mein Leben. Er verkaufte seinen alten Volkswagen Variant und bezahlte mit dem Geld die Busfahrt. Jeden Tag brachte er mich mit dem Bus zum Training. Jeden Tag, auf der überfüllten 410 (wahrscheinlich eine Autobahn; d. Red.), in der Hitze, Seite an Seite, in ganz Rio. Jeden Tag, egal wie ich spielte, sagte er mir:
Du bist der Beste. Du bist Marcelinho! Eines Tages wirst du für Brasilien spielen. Eines Tages werde ich dich im Maracanã sehen.‘Dieses Bild von vor 25 Jahren spielt sich in 4K-Auflösung in meinem Kopf ab. Ich kann noch immer das Innere des Busses riechen. Mein Großvater gab sein ganzes Leben für meinen Traum. Seine Freunde ärgerten ihn damit, dass er pleite sei. Er antwortete mit einer seiner weltberühmten Zeilen. Er zog seine Hosentaschen heraus und sagte:
Verdammt, sieh mich an. Ich habe keinen einzigen Penny, bin aber enorm glücklich!‘[advert]
Er glaubte an mich. Wir waren Partner. Deshalb brach ich während des Spiels gegen Liverpool in Tränen aus, als der Ball im Aus war. Alles kam innerlich zu mir zurück.
„Real Madrid wird zurückkehren“
Ich weiß nicht, wie viele Jahre mir in Madrid noch bleiben. Aber ich kann euch versprechen, dass ich diese Saison alles geben werde. Wie mein Großvater sagte: Meine Haare, meinen Bart, meinen Schnurrbart.
Es gibt so viele Geschichten hinter den Kulissen, die die Leute nicht kennen. Ich will sie mit euch teilen, damit ihr versteht, womit wir zu kämpfen haben, worüber wir lachen und von wie weit entfernt wir kommen. Ich habe noch viele Geschichten zu erzählen. Dafür müsst ihr aber noch etwas warten. Kommt bald, Bruder. Kommt bald.
Erst einmal habe ich eine letzte Botschaft für alle, die an uns gezweifelt haben: Real Madrid wird zurückkehren. Das kann man auf ein Plakat drucken, es an die Wand hängen, jeden Abend zu ihm beten. Wir werden wiederkommen.“
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