
Umstände der Partie als Anlass zur Selbstreflexion
MADRID/BARCELONA. Wenn sich am Sonntagabend der FC Barcelona und Real Madrid im Rahmen des 36. Spieltags (20:45 Uhr, im REAL TOTAL-Liveticker) gegenüberstehen, könnte die Zuschauer im Camp Nou ein vergleichsweise emotionsloser Clásico erwarten. Weil die Katalanen bereits als Meister feststehen, lebt das Duell der beiden Giganten diesmal lediglich vom Prestige. Anders als in den letzten Jahren beherbergt das Aufeinandertreffen der beiden Erzrivalen kaum Zündstoff. Während Lionel Messi und Co. bereits die anstehende Weltmeisterschaft im Juni im Hinterkopf haben dürften, dreht sich bei den Königlichen alles um das Champions-League-Finale am 26. Mai, welches man am Dienstag zum historisch dritten Mal in Serie erreichte. Selbst in der sonst so hysterischen spanischen Presse scheint das größte Duell im Vereinsfußball diesmal nur ein Spiel wie jedes andere zu sein.
Für den einen oder anderen mag der geringe Hype aufgrund der Clásico-Fluten in den letzten Jahren eine wohltuende Abwechslung sein, im Lager der Madrilenen müssten die Umstände des bevorstehenden Kräftemessen mit der „Blaugrana“ allerdings auch Anlass bieten, gewisse Dinge im sportlichen Bereich kritisch zu hinterfragen. Bei all der (berechtigten) Freude über das erneute Erreichen des Königsklassen-Endspiels sollte man aus Madrider-Sicht nämlich nicht darüber hinweg sehen, dass man – obwohl das direkte Duell mit dem vermeintlich ärgsten Rivalen um die Meisterschaft noch aussteht – vier Spieltage vor Schluss nicht einmal mehr die rechnerische Chance auf den Titel besitzt. Und der Blick auf die LaLiga-Bilanz der vergangenen zehn Jahre verrät, dass es sich um mehr als nur eine Momentaufnahme handelt: Während sich der FC Barcelona im letzten Jahrzehnt ganze siebenmal zum Champion von Spanien krönte, gelang dies den Blancos gerade einmal zweimal. Viel zu wenig für die eigenen Ansprüche. Doch woher rührt diese beeindruckende Dominanz der Katalanen im nationalen Wettbewerb?
Real fehlt die Konstanz gegen kleine Teams
Am Ende mag jede Saison ihre eigene Geschichte haben, diverse Faktoren wie Pech oder Verletzungen ausgewählter Leistungsträger eine Rolle spielen, doch der Trend von acht (!) verpassten Meisterschaften im letzten Jahrzehnt ist zu eklatant, als dass er wegzudiskutieren wäre. Auffällig ist dabei, dass – wie auch in dieser Saison geschehen – zwischen den Darbietungen der Blancos in der Königsklasse und in der Liga oftmals gravierende Unterschiede bestanden. Ein Umstand, der sich zwar in gewisser Weise wie ein roter Faden durch die Geschichte dieses Klubs zieht (2017 gab’s das erste “große Double” seit 1958), allerdings auch ein Hinweis auf eine strukturelle Schwäche ist. In der Spitze scheint man zwar zu außergewöhnlichen und besseren Leistungen als die direkte Konkurrenz fähig, über die gesamte Saison gesehen mangelt es jedoch an der nötigen Konstanz. Und diese ist für die Liga – welche gemeinhin nicht umsonst als der „ehrlichste“ Wettbewerb bezeichnet wird – nun mal essentiell.
Barcelona verfügt – mit kleinen Ausnahmen – seit Jahren über eine beeindruckende Konstanz, wenn es darum geht, im Ligabetrieb beständig und zuverlässig zu punkten, insbesondere gegen die vermeintlich kleinen Teams. Eine Qualität, die Real in den vergangenen Jahren immer wieder vermissen ließ. Dies mag bis zu einem gewissen Grad auch auf mentale Aspekte zurückzuführen sein, das Kernproblem liegt jedoch an anderer Stelle. Und um zu verstehen, warum Barça gerade in dieser Hinsicht so erfolgreich ist, muss man ein paar Jahre zurückblicken.

Barcelona baut auf seine Automatismen
Barcelonas Team der letzten Jahre um Lionel Messi, Xavi Hernández, Andés Iniesta und Co. scheint auf den ersten Blick wie eine zufällige Ansammlung von Jahrhunderttalenten, ist es aber nur bedingt. Genau genommen ist das Barcelona von heute das Produkt der Anfang der 2000er unter Federführung von Joan Laportas angestoßenen Reformen: Aufbauend auf den den sportlichen Ideen von Vereinsikone Johan Cruyff wurde die eigenen Nachwuchsausbildung forciert und die vereinstypische Spielphilosophie manifestiert. Spätestens seit Pep Guardiolas Übernahme 2008 konnten sich die Katalanen also fortwährend auf ein stabiles Gerüst aus im eigenen Nachwuchs ausgebildeter Spieler verlassen, die die Philosophie des Vereins vollkommen verinnerlicht haben und auf eine Vielzahl von Automatismen zurückgreifen können.
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Und ebendiese Mechanismen können im Verlauf einer langen Saison goldwert sein. Denn selbst wenn Messi oder Iniesta in den letzten Jahren mal einen schlechten Tag erlebten, konnte sich Barcelona auf seine jahrelang gewachsenen Automatismen verlassen. Am Ende gelang dann doch dieser eine Spielzug oder der Gegner war in der letzten Minute durch Barças Passfolgen kräftemäßig so am Ende, dass der Lucky Punch eben doch noch saß. Selbst wenn die Katalanen einen grauenhaften Auftritt hinlegten, strahlten sie ein unvergleichliches Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aus. Der eine entscheidende Spielzug, er würde schon irgendwann kommen – vor allem gegen die kleinen Teams. Das garantiert dir Punkte. Viele Punkte. Entscheidende Punkte, wenn du die Meisterschaft holen willst.
Das letzte Quäntchen fehlt
Real ging diese Qualität gegen die Kleinen zu oft ab. Die Meisterjahre unter Mourinho (2011/12) und Zidane (2016/17) waren ohne Zweifel außergewöhnliche Spielzeiten, doch sie stellten die Ausnahmen der Regel dar. Gegen die Kleinen verlor man zu oft zu schnell den Kopf und stand am Ende mit leeren Händen da. Beispiele? 0:1 gegen Betis, 1:2 gegen Liga-Neuling Girona, 0:1 gegen Villarreal, 0:1 gegen Espanyol – alles aus dieser Spielzeit. Zwar verfügt man mittlerweile auch über ein über Jahre hinweg gewachsenes Gerüst aus absoluten Top-Spielern, doch über die gesamte Saison hinweg fehlt oftmals das letzte Quäntchen. Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Königlichen also ziehen? Muss man den FC Barcelona „kopieren“ und ein ähnliches, den ganzen Verein umfassendes (Spiel)System bestimmen, das sich durch jegliche Ebenen zieht?

Zumindest scheint es überlegenswert, sich aus Madrider Sicht noch konsequenter zu bestimmten Spielstilen, zu einer bestimmten Art, Fußball zu spielen, zu bekennen, um noch gezielter die passenden Spieler dafür auswählen zu können beziehungsweise gewisse Automatismen und Abläufe zu entwickeln. In den vergangenen Jahre setzte man bereits auf eine gezieltere und nachhaltigere Transferpolitik, auch die Nachwuchsarbeit in „la Fábrica“ befindet sich auf absolutem Top-Niveau. Es gilt jedoch, genannte Faktoren in ein noch umfassenderes systematisches Gesamtkonstrukt zu packen, eine noch klarere und vollumfänglich definierte Gesamtstrategie für den Verein zu etablieren, um in den entscheidenden Momenten auf vertraute Abläufe zurückgreifen zu können. Und diese können – das hat der FC Barcelona in den vergangenen Jahren zuhauf bewiesen – auf lange Sicht den Unterschied markieren.
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