
Der Schein trügt oder: Ritt auf der Rasierklinge
In LaLiga punktgleich mit Tabellenführer Atlético, in der Champions League Gruppensieger vor Mönchengladbach – mit Blick auf die nackten Zahlen fällt die erste Saisonhälfte gar nicht so schlecht aus. Denn auch wenn Real Madrid immer den Anspruch hat, jeden Titel zu gewinnen, so haben die im Prinzip nicht existente Sommerpause und Saisonvorbereitung sowie die ausbleibenden Transfers (mit Ausnahme der Rückholaktion von Martin Ødegaard) zumindest die Erwartungen objektiver Beobachter deutlich gedämpft. Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussicht, noch in jedem Wettbewerb Titel holen zu können, durchaus positiv.
Nimmt man die Performance der Hauptstädter – vor allem im November und Anfang Dezember – genauer unter die Lupe, so werden einige Baustellen ersichtlich. Denn wäre es den Blancos Anfang Dezember nicht gelungen, die Partien in Sevilla (1:0) sowie gegen Gladbach und Atlético Madrid (jeweils 2:0) siegreich zu gestalten, hätte man sih aus Meisterschaft und Champions League verabschieden und die Ära „Zidane 2.0“ vermutlich zu den Akten legen können.
Doch woran liegt es, dass die Mannschaft von Zinédine Zidane das Ruder herumreißen konnte? REAL TOTAL sieht dafür im Wesentlichen vier Gründe:
- Gesteigerte defensive Stabilität
- Mentalität und Charakter
- mehr offensive Möglichkeiten
- entspanntere personelle Situation
Sattelfeste Defensive – Casemiro und Ramos als Schlüssel
Einer der vielleicht augenscheinlichsten Gründe für den Aufwärtstrend der vergangenen Wochen ist definitiv die Defensivarbeit der Königlichen. Wirkte die Zidane-Elf in der frühen Phase der Saison im Spiel gegen den Ball mitunter vogelwild, hat sich der Champion zuletzt stark gesteigert. Das lässt sich zum einen an den nackten Zahlen festmachen: Kassierten die Madrilenen wettbewerbsübergreifend von der 0:1-Heimpleite gegen den FC Cádiz bis zum alarmierenden 0:2 bei Donetsk schier unglaubliche 19 (!) Gegentreffer in 11 Partien (1,73 Gegentore pro Spiel), setzte es in den vergangenen sechs Spielen lediglich zwei Gegentore (0,33).
Der Hauptgrund hierfür liegt neben der zunehmenden Spritzigkeit der Akteure sowie der mit Zidanes Entscheidung pro Automatismen und Routine und gegen eine stetige Rotation einhergehenden Stabilität im eigenen Ballbesitz vor allem auch an einer Personalie: Casemiro. Dass der Brasilianer sicherlich nicht der filigranste Fußballer ist und vor allem in puncto Passspiel auch Schwächen aufweist, ist kein Geheimnis. Doch versteht es kein Spieler im Kader des Rekordmeisters so gut wie Casemiro, den Raum vor der Viererkette zu besetzten, aktiv und präsent zu verteidigen und somit einerseits den Konter zu sichern und andererseits die Abstände zwischen den Ketten zu minimieren und den Zwischenlinienraum für gegnerische Teams weniger leicht bespielbar zu gestalten. Ganz davon abgesehen ist er auch noch Reals zweitbester Torjäger!
Besonders eklatant war das Fehlen des Abräumers zum Beispiel bei der 1:4-Pleite in Valencia oder dem 0:2 bei Donetsk, als die königliche Viererkette mehrmals in hohem Tempo angedribbelt werden konnte, ohne dass ein defensiver Mittelfeldspieler dieses Andribbeln hätte verzögern oder den Ballbesitzer zu einem Abspiel hätte zwingen können, um die Abwehrkette zu entlassen. Denn weder Toni Kroos, der im Defensivzweikampf in vielen Fällen die nötige Aggressivität vermissen lässt und eher ungern defensive Verantwortung übernimmt sowie der mit einem hohen Offensivdrang ausgestattete Luka Modrić vermochten Casemiros Aufgaben zu übernehmen.

Ähnlich wichtig scheint zudem die Personalie Sergio Ramos: Genau wie Casemiro beeinflusst der Kapitän die Defensivperformance seines Teams enorm. Denn obwohl auch Ramos mal einen schlechten Tag erwischt – so geschehen beim 1:4 in Valencia – repariert der Kapitän oftmals die Fehler seiner Mitspieler und stärkt zudem das Selbstvertrauen seiner Teamkollegen mit seiner bloßen Präsenz, wie die jüngste sechs-Sieges-Serie unterstreicht.
Vázquez und Modrić als Sinnbilder des Erfolges
Mindestens genauso wichtig wie die gewonnene defensive Stabilität waren sicherlich die Mentalität und der Siegeswille der Blancos: Zwei Gesichter des Rucks, der im Dezember durch die Zidane-Elf ging, sind Lucas Vázquez und Luka Modrić. So wurde Vázquez beispielsweise zunächst mangels Alternativen für den angeschlagenen Daniel Carvajal als Rechtsverteidiger eingesetzt und wusste dort mit Laufbereitschaft, vielen Ballaktionen und mitunter starken Hereingaben zu überzeugen. Wenn seine Mitspieler stehenblieben, setzte der Galicier im Vollsprint nach und eroberte seinem Team auf diese Weise viele Bälle. Auch als offensiver Außenspieler initiierte der 29-Jährige, der zuletzt 14 Mal in Folge von Beginn an auflief, immer wieder gefährliche Aktionen über den Flügel und stellte somit einen der Faktoren für die jüngste Erfolgsserie dar.

Getoppt wurde Vázquez – zumindest in den Augen von REAL TOTAL – im Prinzip nur noch von einem Mann: Luka Modrić. Obwohl der „Abuelito“ sich mit 35 Jahren inzwischen im höheren Fußballalter befindet, ist sein Einfluss auf das königliche Spiel vielleicht so groß wie selten zuvor: Immer wieder fordert der Spielgestalter den Ball, ganz gleich wie groß der Gegnerdruck ist. Und immer wieder gelingt es ihm, mit hervorragenden Zuspielen die gegnerische Defensive zu überspielen, Überzahlsituationen zu kreieren oder sogar selbst gefährlich abzuschließen. Der Kroate weiß schlichtweg in jeder Situation, was zu tun ist – seine Aktionen haben stets Hand und Fuß. Und anders als einige seiner offensiv ausgerichteten Teamkollegen ist sich auch der Kroate nicht zu schade, defensive Verantwortung zu übernehmen und wichtige Zweikämpfe zu führen.
Offensiv-Optionen: Kreatives Zentrum, aktive Außenverteidiger und Gegenpressing
Ein weiterer Baustein für die besseren und vor allem erfolgreicheren Leistungen des Hauptstadtklubs stellen zudem die im Vergleich zum Saisonbeginn deutlich variantenreicheren Offensivoptionen dar: Wie bereits erläutert, spielt die Personalie Modrić in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle. So vermag es der Kroate wie kaum ein anderer Blanco, mit einem Zuspiel gleich mehrere Gegenspieler aus dem Spiel zu nehmen und auf diese Weise klare Torchancen zu kreieren.

Allerdings würde dieses Mittel alleine vermutlich nicht ausreichen, um offensiv erfolgreich zu agieren, so hat der Einfluss der Außenverteidiger auf das königliche Spiel zuletzt wieder stark zugenommen. Ob Aushilfsverteidiger Vázquez, der zuletzt stark formverbesserte Ferland Mendy oder Rückkehrer Daniel Carvajal – immer wieder gelang es den königlichen Außenverteidigern zuletzt, das Spiel anzuschieben, Überzahlsituationen am Flügel herzustellen und gruppentaktisch aufzulösen oder sogar selbst zu treffen.

Dass zudem auch das Gegenpressing wieder besser greift – etwa im Derbi Madrileño einige Male zu beobachten – rundet die größere Bandbreite offensiver Möglichkeiten der Zidane-Elf ab.
Entspannte Personalsituation: Wohin mit Ødegaard?
Ein weiterer Faktor für die Erfolgsserie der Blancos ist sicherlich die entspannte Personalsituation: Während „Zizou“ über weite Strecken der Saison auf zahlreiche angeschlagene, verletzte und überspielte Stammspieler verzichten musste (schon 28 Ausfälle), präsentierte sich der Kader zuletzt wieder deutlich breiter aufgestellt. Die besten Leistungen brachten die Königlichen zudem, wenn die Schlüsselspieler frisch waren – dann griff das Gegenpressing, Angriffe wurden schnell ausgelöst und Eins-gegen-Eins-Situationen mit Tempo gesucht und gewonnen.
Darüber hinaus stellte sich Zidanes Entscheidung, auf ein 4-3-3-System mit Casemiro als Abräumer vor der Abwehr zu setzen, als richtig heraus. In diesem System bleibt aber die Frage zu klären, wo der 48-jährige Meistertrainer Top-Talent Martin Ødegaard am besten integrieren kann. Der 22-Jährige erwischte sicherlich keinen optimalen Re-Start an der Concha Espina, war aber, wenn er denn spielte, stets einer der Aktivposten. Insbesondere wenn der Norwerger zwischen den Linien agiert, kreiert er fast immer gefährliche Aktionen. Hier muss der Cheftrainer eine Lösung finden.
Fazit
Lässt man den bisherigen Saisonverlauf Revue passieren, scheinen die Schlüsse, die Zidane gezogen hat logisch. Die Merengues haben – auch gekoppelt an einige Personalien und Trainerentscheidungen – den Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen und nun in allen Wettbewerben noch Titelchancen.
Die größte Herausforderung der kommenden Wochen wird vermutlich in der Belastungssteuerung liegen: Da Zidane zuletzt trotz eines breiten Kaders zumeist auf einen Stamm aus etwa 14 Spielern setzte, muss der Franzose sicherstellen, die richtige Mischung aus dem Rückgriff auf feste Automatismen und Rotation zu finden. Gelingt ihm das, ist auch mit einem sicherlich nicht durchgehend optimal besetzten Kader eine erfolgreiche Saison möglich – wenn aber Säulen wie Ramos, Casemiro, Modrić, Benzema und andere weiter so aufspielen, werden bald nicht nur die Zahlen, sondern auch der optische Eindruck stimmen.
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