Ich würde sagen Leverkusens Leistungsabfall in diese Saison ist das Ergebnis einer komplexen Mischung aus mentaler Müdigkeit, physischer Überlastung und strukturellen Problemen im Kader. Aber gehen wir gerne genauer drauf ein:
1. Mentale Aspekte: Vom Jäger zum Gejagten und schwächelnde Offensive
Nach der überragende letzte Saison agierte Leverkusen nun als Titelverteidiger, was eine veränderte Rolle mit sich bringt. Gegner sind besonders motiviert, den Meister zu schlagen, was zusätzlichen Druck erzeugt. Xabi, Xhaka und Hradecky haben mehrfach auf mentale Müdigkeit und fehlende Gier hingewiesen.
Die Offensive ist weniger effizient als in der Vorsaison. Die Torausbeute sank von durchschnittlich 2,9 Treffern pro Spiel in der Hinrunde auf 1,9 in der Rückrunde.
2. Überladung auf den Flügeln funktioniert nicht mehr
Letzte Saison war Leverkusens asymmetrisches Aufbauspiel über Grimaldo und Frimpong extrem erfolgreich. Die typische Struktur:
3-2-5 im Ballbesitz (mit Xhaka und Palacios als Doppelsechs)
- Frimpong als invertierter Wingback oder hoher Außenläufer
- Grimaldo als Hybrid zwischen Achter und Außenverteidiger
Problem diese Saison: Gegner antizipieren das. Viele Teams stellen jetzt bewusst eine Fünferkette dagegen, schieben den ballfernen Wingback hoch und doppeln auf dem Flügel. Dadurch werden Grimaldo und Frimpong neutralisiert — Raum für Überladungen fehlt. Xabi versuchte, dem entgegenzuwirken, indem er auf einen zentrierten Spielaufbau oder einen inversen Aufbau aus dem Zentrum setzte – etwa in einem 2-3-5-System mit Innenverteidigern im Halbraum.
3. Erste Linie zu inaktiv
Letztes Jahr startete Leverkusen Pressingwellen sofort nach Ballverlust, meist im 3-4-2-1. Boniface, Wirtz und Hofmann bzw. Adli bildeten eine extrem disziplinierte erste Linie. Dieses Jahr agiert diese Linie oft zu passiv. Leverkusens Pressing ist nicht mehr so konsequent wie in der letzte Saison. Die Mannschaft verliert häufiger entscheidende Defensiv Zweikämpfe und agiert insgesamt unkonzentrierter.
4. Kettenabstimmung bricht
Wenn die erste Linie überspielt wird, sind Xhaka und Palacios oft zu zweit gegen eine Überzahl. In mehreren Spielen sieht man genau das Muster:
Xhaka rückt raus, um den Ballführenden zu stellen.
Palacios zögert im Rückraum.
- Der Zehner des Gegners (z.B. Brandt bei Dortmund) erhält den Ball in der „Pocket“ hinter Xhaka – Leverkusen ist sofort in Rücklage.
5. Jonathan Tah & defensive Führung
Tah hatte letzte Saison eine überragende Performance, auch als organisierender Abwehrchef. Dieses Jahr wirkt er inkonsequent im Herausrücken, zögerlich in 1-gegen-1-Situationen. Seine progressive Passrate (Progressive Passes per 90) ist laut FBRef von 5.6 auf 3.8 gesunken. Das hemmt den Aufbau erheblich.
6. Granit Xhaka: Kontrollverlust
Xhaka war Herzstück der Ballzirkulation – aktuell überdreht er. Letzte Saison war er die Anlaufstelle für den ruhigen, sicheren Ballbesitz und konnte mit seinen präzisen Pässen das Spiel aufbauen. Jetzt aber sind seine Pässe oft zu risikoreich, er spielt zu häufig auf enge Räume, die von den Gegnern antizipiert werden. Seine Passquote im letzten Drittel ist um fast 10 % gefallen (2023/24: 87 %, jetzt: 77,5 %). Das führt zu unnötigen Ballverlusten. Auch ist er nicht mehr so agil in der Rückwärtsbewegung. Wenn er nach einem Ballverlust nicht schnell genug reagiert, wird das Zentrum anfällig, was bei der aggressiven Spielweise von Leverkusen natürlich problematisch ist.
7. Florian Wirtz: Überfordert mit multipler Rolle
Florian Wirtz hat im Zentrum Probleme, weil er nicht mehr so die gleiche Freiheit hat wie in der letzten Saison. Er ist jetzt oft gezwungen, mehr auf den Flügel oder zwischen die Linien auszuweichen, statt zentral zu agieren. Das bedeutet, er kann nicht mehr wie früher im „Zwischenraum“ den Ball bekommen und sofort kreativ werden. Die Gegner decken ihn jetzt viel gezielter und stellen mehr Spieler auf ihn, was ihm den Raum nimmt. Zudem ist er oft gezwungen, sich mit zu vielen Aufgaben gleichzeitig auseinanderzusetzen: als Kreativer, als Vorbereiter und als Torschütze. Er muss zwischen verschiedenen Rollen wechseln, was ihn in seiner Dynamik bremst.
8. Tieferes, zentrumsorientiertes Mittelfeldpressing
Viele Teams ziehen sich in ein kompaktes 5-3-2 oder 4-4-2-Mittelfeldpressing zurück. Sie überlassen Leverkusen den Ballbesitz in ungefährlichen Räumen und attackieren dann im Umschaltmoment, wenn die Wingbacks hoch stehen.
9. Fokus auf diagonales Umschaltspiel
Ein beliebtes Muster: Ballgewinn im Halbraum, schneller diagonaler Ball auf den ballfernen Flügel, der Raum nutzt, da Grimaldo/Frimpong oft weit vorgeschoben sind. Das hat z.B Union Berlin erfolgreich gezeigt… einfache Vertikalität, cleveres Timing.
10. Mentale & energetische Abnutzung
Triple Belastung mit Bundesliga, Pokal und Champions League erhöht Regenerationsbedarf. Die Spieler sind müder und können nicht immer die gleiche Intensität aufrechterhalten. Allein die Teilnahme an der Champions League brachte eine höhere Belastung mit sich. Leverkusen musste mehr Spiele gegen stärkere Gegner bestreiten, was sowohl physisch als auch mental nicht einfach war.
Psychologischer Effekt: Die “Underdog-Mentalität” der Vorsaison ist weg. Jetzt spielte Leverkusen mit Erwartungsdruck, das verändert Risikobereitschaft und Spieltempo.
Zusammenfassend:
Viele der Probleme, die diese Saison bei Bayer auftreten, stellen sich in Madrid gar nicht, einfach weil die individuelle Qualität hier überragend ist. Bei Leverkusen sieht das anders aus: Der Kader hat sein Potenzial weitgehend ausgeschöpft, viele Spieler sind an ihrer Leistungsgrenze angekommen. Xabi Alonso hat in dieser Saison kaum etwas falsch gemacht, aber eine Kombination aus begrenzter individueller Klasse, hoher Belastung und kleineren Problemen hat ihren Tribut gefordert. Trotzdem ist Leverkusen souverän Vizemeister geworden, das spricht für die starke Arbeit von Xabi!