Nach der gestrigen Niederlage gegen Lille möchte ich die Gelegenheit nutzen, um Ancelottis Ballbesitzspiel zu diskutieren. Hierbei werde ich allerdings jegliche Umschaltmomente oder andere Spielsituationen ausklammern. Im Fokus soll nur die Frage stehen: Wie möchte Real Madrid angreifen, wenn sowohl sie selbst als auch der Gegner geordnet stehen?
Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich auch nichts Neues, denn Ancelotti spielt im Grunde genommen seit jeher mit dieser Idee. Er kreiert im Ballbesitz eine Badewannen-Struktur, die die gegnerische Formation umschließt.
Was ist die Idee hinter dieser Badewanne?
Der grundsätzliche Plan hierbei ist, die kompakte Formation des Gegners zu vermeiden. Stattdessen soll sie entweder über die Außen umspielt oder durch lange Bälle übersprungen werden. Man sucht also stets den Weg des geringsten Widerstandes.
Daher sieht der Matchplan meistens wie folgt aus:
1. In der Aufbaulinie wird der Ball seitlich hin- und hergeschoben.
2. Irgendwann kommt der Pass auf die Flügel oder hoch hinter das gegnerische Mittelfeld.
3. Der isolierte oder in Unterzahl stehende Spieler setzt sich irgendwie individuell durch oder der Gegner begeht einen "unforced Error".
Ich wünschte, es gäbe mehr Aspekte und Varianten über die man reden könnte, aber das war es im Grunde. Real Madrid hat bis zur Schlussphase nichts anderes gemacht.
Was soll so toll sein an dieser Badewanne?
1. Sie ist deutlich simpler in der Umsetzung. Die schwierigste Art des Ballbesitzes ist die Ballzirkulation innerhalb der gegnerischen Formation. Eine Mannschaft, die das tun möchte, muss ein komplexes Positionsspiel einstudieren und zusätzlich über qualitativ hochwertige Spieler verfügen, die diesen Fußball überhaupt umsetzen können. Das alles kann man sich sparen, wenn man die gegnerische Formation einfach meidet.
2. Bei der Badewanne befinden sich regelmäßig fünf oder mehr Spieler hinter dem Ball. Dadurch ist so gut wie immer gewährleistet, dass Räume für gegnerische Konter halbwegs abgesichert sind. Die Mannschaft ist also weniger darauf angewiesen, bei Ballverlusten ein gutes Umschaltverhalten spielen zu können.
Aus diesen beiden Gründen ist die Badewanne besonders attraktiv für kleinere Mannschaften. Man greift mit wenigen Spielern an, es stehen immer genügend Spieler hinter dem Ball, man braucht keine guten Spieler für die Umsetzung, und der Trainer muss nichts Besonderes können.
Und welche Probleme hat die Badewanne?
1. Sie hat im Aufbau sehr flache bzw. horizontale Strukturen mit wenigen vertikalen Anspielstationen. Das macht es dem Gegner leichter, hoch zu pressen und die Aufbauspieler unter Druck zu setzen, ohne selbst gefährliche Räume hinter sich zu öffnen.
2. Die Angreifer sind meist isoliert und/oder in Unterzahl. Sie sind darauf angewiesen, dass sie sich entweder über ihre individuelle Überlegenheit durchsetzen oder der Gegner einen "unforced Error" begeht.
3. Besonders kleine Mannschaften, die fast nur mit der Badewanne spielen, sind sehr eindimensional und in der Folge leicht berechenbar für den Gegner.
Wie sah das Ganze in der Praxis aus?
Langer Ball auf Bellingham:
Langer Ball auf Carvajal:
Langer Ball auf Bellingham:
Langer Ball auf Vinicius:
Ich könnte das jetzt bis zum bitteren Ende so durchziehen, allerdings wird sich bis zur Schlussphase nichts am Bild ändern. In der ersten Halbzeit gab es, wenn ich richtig hingeschaut habe, genau zwei Aufbaupässe in die gegnerische Formation. Mehr nicht. Ansonsten gab es nur lange Bälle hinter die Abwehr oder Pässe auf die anschließend isolierten Flügel.
Zur Halbzeit wurde dann Fran in die Breite geschickt und Vinicius vom Flügel befreit, sodass er zentraler agieren konnte. Dann kam Modric, der sich sowieso instinktiv in guten Räumen im Zentrum bewegt, und Mbappé, der immer wieder zwischen die Linien droppte. Das waren alles aber nur rein positionelle Änderungen ohne einstudierte Abläufe im Zentrum. An der Spielweise änderte sich somit effektiv wenig. Die Mannschaft versuchte nach wie vor, um die gegnerische Formation herum zu spielen, da sie schlichtweg keinen mannschaftlichen Plan hat, wie sie im Zentrum Fortschritte machen soll.
Bis zur 85. Minute hatte Real Madrid ein xG von 0.8 aus 6 Schüssen. Es ist atemberaubend.
Irgendwann ab der 80. Minute kam dann das endgültige Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit: Rüdiger spielte als Strafraumstürmer. Und es hätte fast sogar geklappt. In dieser Phase wurde die xG in kürzester Zeit auf 2.3 hochgeschraubt. Das Spiel hätte also mit einer weiteren Remontada enden können. Aber seien wir mal ehrlich: Es ist vielleicht auch einfach besser, wenn man sich für so ein Spiel nicht auch noch belohnt.
Wieso macht Ancelotti das? Kann er es einfach nicht besser?
Kein Trainer dieser Welt, der über so einen fantastischen Kader verfügt, würde freiwillig so einen Fußball spielen. Ancelotti macht das seit er hier unterschrieben hat. Wenn er es anders könnte, hätte er es schon längst getan. Er ist nun mal ein altmodischer Trainer, der die Trends der letzten 15 Jahre nur noch ansatzweise in sein Repertoire aufgenommen hat.
Am meisten tut es mir für diese tollen Spieler leid. Sie stehen regelmäßig in der Einzelkritik für Dinge, die sie größtenteils nicht selbst zu verantworten haben. Tchouameni macht beispielsweise das, was ihm vorgegeben wird. Und er macht es gut. Dass das trotzdem schlechter Fußball ist, ist eigentlich nicht seine Schuld. Dasselbe gilt im Prinzip für jeden Einzelnen, der gerade spielt. Sie müssen immer wieder den Kopf dafür hinhalten, weil Ancelotti diesen Underdog-Fußball von kleinen Mannschaften aus der unteren Tabellenhälfte spielen lässt.