
Kapitän, Anführer, Legende
Er war der bis dahin sowohl teuerste Verteidiger als auch der teuerste Spanier der Vereinsgeschichte bei Real Madrid, als Sergio Ramos mit damals 19 Jahren am 8. September 2005 für 27 Millionen Euro vom FC Sevilla in die spanische Hauptstadt wechselte. 16 Jahre später zählt er unwiderruflich zu den größten Legenden des größten Fußballklubs der Welt. Im Laufe der Zeit wurde die Nummer 4 zu einem echten Symbol des Vereins und seiner Erfolge. Jedem Madridista, aber auch der gesamten Fußballwelt sind die unzähligen legendären Szenen und spielentscheidenden Tore, mit denen „el Capitán“ beim Gewinn begehrter Trophäen half, für immer ins Gedächtnis eingebrannt.
Der Rekordspieler Spaniens und Europas lief im königlichen Trikot sagenhafte 671 Mal auf, der Verteidiger (!) erzielte dabei 101 Treffer und bereitete weitere 40 vor. In 508 Ligaeinsätzen traf der Andalusier 74 Mal ins gegnerische Tor – keinem Abwehrspieler gelangen mehr Tore in LaLiga! Gemeinsam mit Abwehrkollege Marcelo ist Sergio Ramos mit 22 Trophäen Rekordtitelsieger bei den Blancos, nachdem das Duo durch den Gewinn der vergangenen Meisterschaft den heutigen Ehrenpräsidenten Paco Gento auf den zweiten Platz abhängte.
Eine enttäuschende (letzte?) Saison
Während Ramos noch im Sommer 2020 nach dem LaLiga-Restart mit seinen Toren, vor allem aber in seiner Eigenschaft als Mentalitätsmonster und Anführer den entscheidenden Anteil am Gewinn der 34. spanischen Meisterschaft der Blancos hatte, verläuft für ihn die aktuelle Spielzeit von Beginn an wechselhaft und unbefriedigend. Während sich in der Hinrunde starke und schwache Phasen abwechselten und die Waage hielten, häufen sich seit Jahresbeginn verletzungs- respektive coronabedingte Ausfälle.
Mehr noch – ausgerechnet in seiner womöglich letzten Spielzeit präsentiert sich Reals Defensive ohne Ramos stabiler als mit ihm. Der spanische Nationalspieler bestritt in der laufenden Saison 2020/21 erst 21 Pflichtspiele für die Madrilenen, wobei das Team von Zinédine Zidane 22 Gegentore kassierte. In den 30 Pflichtspielen ohne ihn waren es lediglich 23 Gegentreffer, die das weiße Ballett verbuchen musste.
Vor nicht einmal einem Jahr schien eine Real-Innenverteidigung ohne den 35-Jährigen und seinen langjährigen Partner Raphaël Varane, der im Sommer nach elf Jahren ein neues Abenteuer suchen könnte, noch völlig undenkbar, mittlerweile aber nicht mehr: Éder Militão und dem Ur-Madridista Nacho Fernández lösten ihre Aufgaben als Ersatz mit Bravour. Vor allem der 23-jährige Brasilianer, vor einigen Monaten noch als Fehleinkauf abgestempelt, ist aus der Startelf der Merengues nicht mehr wegzudenken. Da gleichzeitig bei der Verpflichtung von David Alaba nur noch die Verkündung fehlt, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Real Madrid für eine Zukunft ohne Sergio Ramos bereit und gewappnet ist.
Geld und Stolz oder Verbundenheit und Liebe?
Ramos‘ auslaufender Vertrag und eine mögliche Verlängerung sind seit Saisonbeginn eines der vorherrschenden Themen bei und um Real Madrid. Ein Vertragsangebot soll Reals-Kapitän vor geraumer Zeit unterbreitet worden sein – und immer noch stehen. Ob er es unterschreibt und damit Gehaltseinbußen akzeptiert, liegt alleine bei ihm. Der Verein ist offenbar nicht bereit, weitere Zugeständnisse zu machen: „Wie sollte es mir nicht gefallen, mit Ramos zu verlängern, wenn ich ihn so gerne habe wie einen Sohn? Wir haben oft gesprochen, aber es hängt von Real Madrids Situation ab. Dieses Jahr nehmen wir 300 Millionen Euro weniger ein. Es muss der eine oder andere Spieler verkauft werden, es müssen Dinge getan werden“, erklärte jüngst Klub-Oberhaupt Florentino Pérez.
Teamkollege und Kumpel Luka Modrić hatte seinerseits in einer ähnlichen Vertragslage keine Zweifel: Der kroatische Mittelfeldspieler verlängerte unlängst seinen zum Saisonende auslaufenden Vertrag um ein weiteres Jahr bis 2022 und gibt sich offenbar mit zehn Prozent weniger Gehalt zufrieden. Kurz vor dem letzten Saisonspiel scheint es fraglicher denn je, ob Ramos die gleiche Intention besitzt. Angesichts der starken Leistungen der Vertreter sowie der immer öfter werdenden Ausfälle (sieben unterschiedliche Ausfälle in dieser Saison) und Formschwankungen des 35-Jährigen selbst muss die Frage gestellt werden, ob es wirklich so schlimm wäre, sollte es in seinem Fall anders kommen.

Das Denkmal bleibt – so oder so
All die genannten Entwicklungen lassen einen Ramos-Abgang im kommenden Sommer aus sportlicher Sicht für Real Madrid deutlich erträglicher und natürlicher erscheinen, als es noch vor einem Jahr der Fall gewesen wäre. Spieler wie Militão und Casemiro zeigen außerdem seit Wochen, dass auch die bis dato anangefochtene Führungsfigur Ramos durchaus zu ersetzen ist.
Real Madrid jedenfalls bleibt auch in diesem Fall sich und seinen Prinzipien treu – kein Spieler ist größer als der Verein. Die Liste der Real-Vereinslegenden, die ihre Karriere nicht im Estadio Santiago Bernabéu beendet haben, weil ihre Karriereplanung in entscheidenden Momenten nicht der Klubpolitik entsprachen, ist lang. Mit einem möglichen Abgang nach dem 30. Juni 2021 würde sich Ramos zu Namen wie Raúl González Blanco, Iker Casillas, Cristiano Ronaldo oder auch Alfredo Di Stéfano und Emilio Butragueño gesellen, denen es unter vielen anderen nicht vergönnt war, bis zum Karriereende für die Königlichen aufzulaufen.
Sollte es so kommen, würde dies nichts am Legendenstatut des Kapitäns ändern: Sergio Ramos ist und bleibt eine der größten Legenden des besten und erfolgreichsten Vereins der Welt. Seine Taten, Tore und Verdienste für Real Madrid bleiben in jedem Fall unantastbar und für die Ewigkeit. Und dennoch bliebe ein fader Beigeschmack, sollte Rekordmann Ramos sich ohne Titel oder womöglich auch ohne Einsatz im allerletzten Saisonspiel von seinem Verein verabschieden.
Gratis spielen? Ramos ist am Zug
Luka Modrić erklärte neulich nach seiner Vertragsverlängerung: „Ich habe immer gesagt, dass ich mich bei Real Madrid wohl fühle. Natürlich will ich nächstes Jahr noch hier spielen und auch meine Karriere hier beenden.“ Sollte Sergio Ramos nach dem gleichen Prinzip handeln und doch noch Reals Vertragsangebot annehmen, wäre sein Heldenstatus bei den Blancos kaum noch messbar. Rein emotional betrachtet, wäre es ihm und dem Madridismo nur zu wünschen. Eigentlich ist es höchste Zeit, denn er ist am Zug und sagte immerhin vor zwei Jahren nach einem weiteren Streit selbst: “Ich würde hier auch ohne Bezahlung spielen.”
Wer weiß, vielleicht kommt doch alles anders und Ramos verlängert nicht nur, sondern er feiert am Samstag noch seinen 23. Titel und ist vielleicht sogar noch bei der Einweihung des umgebauten Bernabéus im Herbst 2022 dabei.
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