
Zwischen Wut und Dankbarkeit
MADRID. Es war eine seltsame Stimmung, die am Dienstagabend im Estadio Santiago Bernabéu kurz unmittelbar nach Abpfiff der Partie gegen Ajax Amsterdam herrschte: Natürlich machten einige Teile des Publikums ihrem Unmut ob des bitteren 1:4 und des damit verbundenen ersten Achtelfinal-Aus seit 2010 Luft, doch das Pfeifkonzert – abgesehen von den obligatorischen Rücktrittsforderungen gegen Florentino Pérez – fiel lange nicht so ohrenbetäubend aus, wie man es womöglich erwartet hätte. Denn den Madridistas im Stadion war durchaus bewusst, dass an diesem Abend ein denkwürdiger Zyklus sein Ende gefunden hatte – und ein Jahrhundertteam an diesem Abend womöglich seinen letzten Aufgalopp erlebte.
Moments after the final whistle…
Armageddon for #RealMadrid. #Ajax back in their golden 90s. What a crazy night… #RMAAJA #HalaMadrid pic.twitter.com/bOx2AM4Z6Y
— Nils Kern (@nilskern17) 5. März 2019
So mischte sich phasenweise zaghafter Applaus unter die Pfiffe und den Jubel der Ajax-Anhänger, während die Helden der letzten Jahre, die mit dem Champions-League-Triple etwas Historisches und vermutlich auf Jahre Unerreichbares geleistet hatten, sich Stück für Stück in die Katakomben verabschiedeten. Es war eine Mischung aus Dankbarkeit und Nostalgie, die im altehrwürdigen Bernabéu zu spüren war.
Zu wenig Geduld mit Lopetegui?
Dass die Kaderzusammenstellung in dieser Saison zwangsläufig nicht die beste war, lässt sich unter keinen Umständen wegdiskutieren. Nachdem man nach der Double-Saison 2016/17 mit Pepe, James Rodríguez und Álvaro Morata bereits reichlich spielerische Substanz ersatzlos ziehen ließ, entschied man sich in diesem Transfersommer neben dem wechselwilligen Mateo Kovačić mit Cristiano Ronaldo auch die Gallionsfigur der letzten Jahre ziehen zu lassen – und entschied sich abermals dagegen, direkt für Ersatz zu sorgen. Man wolle die Last – und die 40 bis 50 Tore pro Saison – auf mehrere Schultern verteilen, hieß es, anderen Spielern wie Gareth Bale, Karim Benzema oder Marco Asensio die Chance geben, aus dem Schatten des Portugiesen zu treten.
Dies funktionierte anfangs unter Lopetegui noch ganz gut, doch die Vereinsführung hatte mit dem Ex-Nationaltrainer Spaniens wenig Geduld und setzte diesen nach der ersten – und zugegebenermaßen heftigen – Schwächephase gleich wieder vor die Tür. Dass den baskischen Fußballlehrer dabei nur eine Teilschuld traf, wird im Nachhinein umso deutlicher. Lopetegui hatte erkannt, dass sich durch den Abgang Ronaldos die Struktur im Spiel der Königlichen grundlegend ändern, die Aufgabenverteilung eine komplett andere sein würde. Mit CR7 fehlte der Zielspieler der letzten Dekade, nun galt es die Aufgaben umzuverteilen. Lopetegui setzte dafür auf ein verstärktes Positions- und Ballbesitzspiel. Durch ballsichere und pressingresistente Akteure wie Isco oder Marco Asensio auf den Außen sollten die Gegner mürbe gespielt werden, der neue X-Faktor im Angriff war Gareth Bale, der zu Saisonbeginn enorm aufblühte und durch seine Vertikalität dem neuen Spielstil der Königlichen das gewisse Etwas gab.
Als die Blancos Mitte der Hinrunde – sicherlich auch bedingt durch die mangelnde Rotation – von unheimlichem Verletzungspech heimgesucht wurden, machte sich die mangelnde Tiefe beziehungsweise Unausgewogenheit des Kaders bemerkbar, sodass Lopetegui und Co. in eine fast schon unheimliche Abwärtsspirale gelangten. Es wurde umso deutlicher, dass das Spiel die vergangenen Jahre rund um Ronaldo aufgebaut worden und die Balance im Team abhanden gekommen war. Lopetegui schien dies zunächst durch kollektive Maßnahmen in den Griff zu bekommen, ohne das entsprechende Personal waren aber auch Spaniens Ex-Nationaltrainer ab einem gewissen Punkt die Hände gebunden. Dass einzelne Leistungsträger wie Varane oder Modrić zudem noch mächtig mit den Nachwehen der WM zu kämpfen hatten und teils unterirdische Vorstellungen lieferten, kam erschwerend hinzu.
Ein Trainer mit klarem taktischem Profil muss her
Nachfolger Santiago Solari setzte im Vergleich zu Lopetegui auf ein eher konservatives System. Defensive Stabilität genoss hohe Priorität, im Angriff verließ man sich mehr auf individuelle Klasse denn auf kollektive Mechanismen. Vermeintlich formschwache Spieler wie Isco oder Marcelo sortierte der Argentinier rigoros aus, stattdessen setzte Solari vermehrt auf die jungen Wilden um Vinícius Júnior und Sergio Reguilón. Ein durchaus ehrbares Vorgehen, das vor allem perspektivisch sicherlich seine Früchte tragen wird. Allerdings verpasste es der 42-Jährige, das Team spielerisch weiterzuentwickeln. Anfangs stimmten zwar noch die Ergebnisse, doch im Vergleich zur Ära unter Lopetegui nahm die Qualität des Offensivspiels rapide ab, was sich auch anhand von Statistiken (beispielsweise den expetcted Goals) zuhauf belegen lässt.
Um vor allem in der Liga endlich wieder langfristig konkurrenzfähig zu sein, bedarf es einer klaren Spielidee. Real Madrid muss wieder in der Lage sein, sowohl gegen tiefstehende als auch hochpressende Teams adäquate Lösungen zu präsentieren. Die Mischung aus kreativen und stabilisierenden Spielertypen muss stimmen. Klar, ein Trainer in Madrid benötigt auch immer ein gewisses Maß an Charisma, um diese hochdekorierte Ansammlung an Stars bändigen und moderieren zu können. Doch die letzten Tage haben eine Sache sehr deutlich gezeigt: Diese Mannschaft benötigt vor allem wieder eine klare Idee. Und dazu bedarf es dem passenden Trainer – und dem entsprechenden Spielermaterial.
Neuverpflichtungen sind unabdingbar – aber mit System
Pérez wird um Neueinkäufe nicht herumkommen. Dafür fehlte in den entscheidenden Momenten in dieser Spielzeit schlichtweg die nötige Substanz. Eden Hazard, Kylian Mbappé, Neymar, Mauro Icardi – die Liste potentieller Neuzugänge ist ebenso prominent besetzt wie kostspielig. Doch ein reines Name-Shopping wird ebenfalls nicht zielführend sein. Man hat nun – in Anbetracht der sportlich überschaubaren Bedeutung der Restsaison – genug Zeit, den Kader einer umfassenden gesamtheitlichen Überprüfung zu unterziehen und die entscheidenden Schwachstellen zu eruieren. Das wünschenswerteste Szenario wäre natürlich, wenn dies in enger Zusammenarbeit mit dem Trainer für die kommende Spielzeit passieren würde.
Fest steht allerdings auch: Eine Einkaufstour im Ausmaß von 2009 wird – und muss – es diesmal nicht geben. Ziel sollte es sein, den Kader auf ausgewählten Schlüsselpositionen mit Transfers in der Spitze zu verstärken. Ein kompletter personeller Umbruch – auch wenn von vielen Fans gefordert – erscheint ebenfalls nur bedingt zielführend, da die Weichen für den bevorstehenden Generationswechsel bereits in dieser Saison (teils erfolgreich) gestellt wurden. Die Qualität im Kader ist ohne Frage noch immer außergewöhnlich hoch. Nun geht es darum diese Qualität in die richtigen Bahnen zu lenken, auf den entscheidenden Positionen zu verstärken und innerhalb der Mannschaft wieder für die richtige Balance aus verschiedenen Spielertypen für verschiedene Anforderungen zu sorgen. Dass diesem Prozess ein großer Name des Kalibers Gareth Bale zum Opfer fallen wird, scheint ein offenes Geheimnis. Nur um des Umbruchs willen sollte jedoch kein Ausverkauf stattfinden. Wie genau diese Optimierung aus personeller Sicht aussehen soll, wird nun die Hauptaufgabe der sportlichen Führung in den kommenden Wochen sein.
Das Ende des Triumvirats Modrić-Casemiro-Kroos?
Mit Blick auf die neue Saison wird es jedoch auch darum gehen, bestehende Strukturen und Systematiken innerhalb des Teams aufzubrechen und zu überdenken. Stammplatz-Garantien für die Helden der letzten Jahre? Die wird es nicht mehr geben. Vor allem das Mittelfeld-Trio Modrić-Casemiro-Kroos dürfte seine Unantastbarkeit eingebüßt haben. Der Deutsche merkte nach dem Ajax-Spiel zwar (richtigerweise) an, dass viele Einzelakteure in dieser Spielzeit nicht die Leistung abriefen, die man die vergangenen Jahre zu zeigen vermochte, doch Reals Probleme in dieser Saison rein an individuellen Schwächephasen festzumachen, wäre nur die halbe Wahrheit. Insbesondere gegen Ajax zeigte sich, dass dem dominierenden Mittelfeld-Triumvirat ohne die richtigen Nebenmänner entscheidende Faktoren abgehen: Torgefahr und Kreativität.
Diese Faktoren fielen in den vergangenen Spielzeiten deshalb nicht so gravierend ins Gewicht, weil Spielertypen wie Marcelo, Isco oder Ronaldo durch ihre außergewöhnlichen Qualitäten diese Unausgewogenheit auffingen. Nun gilt es sich jedoch als Team insgesamt neu auszurichten und die richtige Balance zu finden. Dabei geht es keineswegs darum, verdiente Spieler komplett abzusägen oder ihre Daseinsberechtigung abzusprechen (selbiges natürlich auch für Kandidaten wie Benzema oder Bale), sondern darum kollektive Antworten auf die Probleme der aktuellen Saison zu finden. Marcos Llorente, Daniel Ceballos und Federico Valverde deuteten in diesem Jahr durchaus an, dass sie ihre Daseinsberechtigung in diesem Team besitzen und diesem auch jede Menge geben können. Jetzt gilt es diese Möglichkeiten in ein neues funktionierendes System zu packen und durch entsprechende Transfers oder Rückholaktionen – Mateo Kovačić oder Martin Ødegaard seien hier als attraktive Alternativen zu nennen – den nötigen Qualitätsschub herbeizuführen.
Die Krux mit dem Sportdirektor
Auch wenn man sich zuletzt vorrangig über die individuelle Klasse der einzelnen Akteure definierte und damit große Erfolg feierte, sollte der kollektive Gedanke bei den Königlichen wieder in den Mittelpunkt rücken. Die (spanische und englische) Konkurrenz schläft nicht und verfügt längst ebenso über enorme wirtschaftliche Möglichkeiten, was zwangsläufig dazu führt, dass auch diese Vereine mit hoher individueller Qualität glänzen können. Eine einheitliche Philosophie und klare sportliche Gesamtausrichtung innerhalb des Klubs könnte in Zukunft noch entscheidender werden.
Und an dieser Stelle darf auch Pérez keineswegs von der Kritik ausgenommen werden. Zwar wählte der Präsident mit der Konzentration auf junge (spanische) Talente zuletzt einen interessanten Ansatz, der Verlauf der Saison zeigte aber mehr als deutlich, dass eine dogmatische Versteifung auf diesen Weg ebenfalls wenig zielführend ist. Vielleicht wäre es auch einfach an der Zeit, dass sich Pérez einen starken Mann an seine Seite holt, der sich ausschließlich um den sportlichen Bereich kümmert. Bislang sind zwar jegliche Versuche der Installierung eines Sportdirektors unter Pérez krachend gescheitert, um den Verein für die Zukunft auch in diesem Bereich strukturell entsprechend aufzustellen, scheint ein solcher Schritt mittlerweile allerdings mehr als überfällig. Dass sich Pérez allerdings tatsächlich zu diesem Schritt durchringen kann, scheint für den mehr als unwahrscheinlich.
Umbruch? Ja, aber mit dem nötigen Augenmaß
Was bleibt also als Fazit aus dieser Saison und der Entwicklung der letzten Wochen: Ja, es braucht Veränderungen, vielleicht sogar einen kleinen bis mittelgroßen Umbruch, aber keineswegs eine Radikalkur. Es braucht Veränderungen auf der Trainerposition und neue Transfers, doch all das muss mit dem nötigen Augenmaß und einem klaren (sportlichen) Plan geschehen. Die Zeiten, in denen einzelne Namen das Spiel der Königlichen prägten und zu Erfolgen führten, scheinen vorbei. In Zukunft muss das madrilenische Kollektiv wieder in den Vordergrund gerückt und gestärkt werden. Wird an den richtigen Stellschrauben gedreht, blickt man in Zukunft vielleicht sogar mit etwas Wohlwollen auf dieses Jahr zurück: Weil es der Auftakt zu einem neuen erfolgreichen Zyklus war…
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