
Seit Thomas Tuchel Ende Januar an der Stamford Bridge übernommen hat, befindet sich der Londoner Top-Klub stetig im Aufwärtstrend: Dank acht Siegen und vier Remis aus 13 Premier-League-Partien hat Tuchel die „Blues“ aus dem grauen Liga-Mittelfeld auf die Champions-League-Ränge geführt. Die auffälligsten Transformationen im Vergleich zum CFC unter Frank Lampard stellen dabei die taktische Variabilität und die enorme Steigerung im Defensivverhalten dar. Das bekamen zuletzt sogar Pep Guardiola und Manchester City zu spüren, die sich der Tuchel-Elf im FA-Cup-Halbfinale mit 0:1 geschlagen geben mussten.
Formation und Spielidee
Grundsätzlich agiert Tuchel im Unterschied zu Vorgänger Lampard in einer 3-4-3- oder einer 3-4-1-2- Grundordnung. Seit der Deutsche an der „Bridge“ übernommen hat, ist eine feste Achse entstanden: Besonders viel Vertrauen scheint der Trainer dabei in Thiago Silva, Antonio Rüdiger, César Azpilicueta, N’Golo Kanté, Jorginho, Ex-Blanco Mateo Kovačić und Mason Mount zu haben. Auf den Außenverteidiger- sowie den offensiven Außenpositionen und im Sturmzentrum wechselt Tuchel sein Personal hingegen kräftig durch.
Mit Blick auf die statistischen Werte wird deutlich, dass Chelsea seit Amtsantritt des 47-Jährigen defensiv deutlich stabiler daherkommt: So blieb der CFC wettbewerbsübergreifend bislang in 16 (!) von 21 Spielen (76 Prozent) unter Tuchels Regie ohne Gegentor. Das lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass Chelsea durch die Systemumstellung und optimierte Abläufe defensiv noch kompakter daherkommt (drei Innenverteidiger) und zum anderen dadurch, dass ein erhöhter stabiler Ballbesitz die Möglichkeiten des Gegners, zum Torerfolg zu kommen, minimiert. So weist Chelsea im Vergleich zur Lampard-Ära einen nochmals erhöhte Ballbesitzanteil (in der Premier League 61,4 Prozent im Durchschnitt) auf. Angesichts des defensiven Bollwerks (mit Ausnahme der 2:5-Schlappe gegen West Brom) können die Fans der „Blues“ sicher auch verkraften, dass das Offensivspiel noch ausbaufähig ist (27 Tore in 21 Spielen; 1,29 Tore pro Spiel).
Das Aufbauspiel: Mutig und variantenreich
Im Spielaufbau kommt dabei eine der großen Stärken des Tuchel’schen Systems zum Vorschein: So erlaubt die Dreierkette plus Doppelsechs und mitspielendem Torhüter eine stabile Spielauslösung, da nur wenige Mannschaften so hoch pressen, dass hier nicht zumindest eine Ein-Mann-Überzahl zugunsten des CFC besteht. Sollte ein Gegner Chelsea dann doch einmal derartig zu schieben, dass ein „Mann-auf-Mann-Pressing“ möglich ist – also, dass jeder Aufbauspieler sich einem direkten Gegenspieler gegenübersieht – ergeben sich Anspielmöglichkeiten in der Tiefe, wo der Gegner nun automatisch verwundbarer ist.

Ein gutes Beispiel, wie stark Chelsea in der Spielauslösung ist, stellt das FA-Cup-Halbfinale gegen Manchester City dar: Gegen die vor allem zu Begin der Partie hoch pressenden Guardiola-Schützlinge versuchten die „Blues“ trotz hohen Drucks, den Ball nach Möglichkeit mittels kurzer Eröffnung ins Spiel zu bringen (siehe Screenshot oben). Wenn sich City entschied, mit den Außenstürmern und dem zentralen Stürmer hoch anzulaufen, sah sich De Bruyne im Zentrum Jorginho und Kanté gegenüber und musste daher entweder durch einen weiteren zentralen Mittelfeldspieler unterstützt werden, was Chelsea Räume in der Tiefe bot, oder eine Unterzahlsituation meistern.

Dadurch, dass die Außenverteidiger Chilwell und James hochschoben, boten sich in der Tiefe mehrere Anspielmöglichkeiten – Ziyech und Mount rückten ins Zentrum, sodass dort eine Überzahl entstand, wenn (zumeist) Rodri vorschob. Wenn Chelsea den Ball also aus dem ersten Druck spielte, konnten die „Blues“ situativ Eins-gegen-Eins-Duelle heraufbeschwören und dabei ihr Tempo ausspielen.

Gegen Manchester City spielten sich die „Blues“ nach genau diesem Muster einige gute Chancen heraus, sodass der 1:0-Sieg unter dem Strich absolut verdient war.

Übergangsspiel und letztes Drittel: Ballsicherheit und Tempo sind Trumpf
Die Ballsicherheit ist also nicht nur in der Spielauslösung wichtig, sondern kommt auch im Übergangsspiel zum Tragen: Läuft der Gegner nur mit einem oder zwei Stürmern an, kann einer der drei Innenverteidiger zumeist früher oder später andribbeln und das Spiel dann über die zentralen defensiven und offensiven Mittelfeldspieler oder die hochgeschobenen Außenverteidiger (auf Ballseite) fortsetzen.

Stellt der Gegner Chelsea allerdings vor größere Herausforderungen – wie oben beschrieben – spielt die zentrale „Doppel-Sechs“ (oder „Doppel-Acht“) eine große Rolle: Dank der enormen Ballsicherheit von Jorginho und Kovačić (Kanté fällt hier nur minimal ab) und deren ausgeprägter Fähigkeit, sich geschickt zwischen den Linien zu bewegen, können die „Blues“ den Ball auch gegen aggressiver pressende Gegner oftmals gut ins Angriffsdrittel transportieren. Ist der Druck auf die „Doppel-Sechs“ besonders hoch, unterstützt Mount hier nicht selten, um eine Überzahl herzustellen.

Wirklich gefährlich werden die „Blues“ in einem weiteren Schritt dann, indem sie den gegnerischen Abwehrverbund andribbeln und gezielt die Schnittstellen attackieren oder indem sie eine Angriffsseite überladen (zentraler Mittelfeldspieler, hoher Außenverteidiger, Außenstürmer und zentraler Stürmer). Entscheiden sie sich dafür, die Seite zu überladen, kombinieren sie sich entweder durch – oder spielen das Leder aus einem stabilen Ballbesitz auf die andere Seite (sofern der Gegner ballseitig verschoben hat), wo dann Räume entstehen, die von einem offensiven Mittelfeldspieler, einem überlaufenden Verteidiger und dem offensiven Außen attackiert werden können.

Eine weitere Möglichkeit, die die enorme taktische Variabilität des CFC widerspiegelt, besteht darin, dass sich die offensiven Außenspieler auf die offensiven Halbpositionen fallen lassen (die Flügel sind oftmals durch die hohen Außenverteidiger besetzt), sodass nun eine Überzahl im Zentrum entsteht, die es dem CFC erlaubt, das Leder tief zu spielen.

Hat Chelsea den Ball einmal bis an den Strafraum transportiert, sind die Optionen aufgrund der personellen Möglichkeiten und der Besetzung der Räume fast grenzenlos: So können die „Blues“ den gegnerischen Außenverteidiger zumeist mit zwei Spielern attackieren und zur Grundlinie durchbrechen. Außerdem besteht die Möglichkeit, durch geschickte, entgegengesetzte Bewegungen einen Innenverteidiger aus der Kette zu ziehen und den entstehenden Raum mit Tempo zu attackieren. Nicht zuletzt sind Spieler wie Werner, Mount oder Ziyech allesamt in der Lage, mit Tempo nach innen zu cutten und selbst den Abschluss zu suchen.
Mutige und konsequente Entscheidungen im Spiel gegen den Ball
Das oben skizzierte Spiel gegen Manchester City dient auch in puncto Defensivverhalten als Paradebeispiel dafür, warum Chelsea so schwierig zu bespielen ist. Während andere Trainer mit laufender Spielzeit vermutlich davon abgewichen wären, Citys Spielaufbau mit zwei Angreifern anzulaufen, hat Tuchel an dieser Marschroute festgehalten. Folglich erlaubte dies nicht, dass einer der beiden Innenverteidiger der „Skyblues“ mit andribbeln konnte und somit noch mehr Druck aus die CFC-Defensive ausgeübt werden konnte. Die Guardiola-Elf musste also eine Hürde mehr nehmen, um sich dem Tor der Londoner zu nähern. Mit einer solchen Konsequenz, gepaart mit Mut, müssen die Blancos sicher auch rechnen.

So ist Chelsea zu knacken
Trotz aller Stärken der Tuchel-Elf sind die Londoner natürlich auch verwundbar: Eine Möglichkeit, Chelsea einen großen Teil der eigenen Stärke zu nehmen, wäre das Spiegeln des Systems. Agieren die Königlichen selbst im 3-5-2, würde dies einerseits das Aufbauspiel der „Blues“ erschweren und zudem besseren Zugriff im Zentrum erlauben. Außerdem würde eine Dreierkette um schnelle Spieler wie Varane und Militão, unterstützt von den ebenfalls flinken Außenverteidigern Mendy (leider verletzt) und Carvajal, die Verwundbarkeit durch Tiefenlaufwege der Chelsea-Spieler minimieren.

Doch auch defensiv bietet ein 3-5-2- oder 3-4-3-System Schwachstellen: Gelingt es Real, die Bereiche zwischen den drei Innenverteidigern gezielt zu attackieren, könnten hier Zuständigkeitsprobleme entstehen. Zudem haben sowohl Chelseas Auftritt im Viertelfinalrückspiel gegen den FC Porto (0:1) als auch die 2:5-Schlappe gegen West Brom aufgezeigt, dass Flankenbälle von der Grundlinie (vom Tor weg) jeder Hintermannschaft der Welt Probleme bereiten können. Ein Ziel könnte also sein, diese beiden Schwachstellen zu attackieren und dabei das Tempo der eigenen Außenspieler (unterstützt durch ein gezieltes Überlaufen der Außenverteidiger) zu nutzen und aus punktuellen Überzahlsituationen Kapital zu schlagen.

Fazit: Chelsea eine hohe Hürde, die mit einem dominanten Mittelfeld zu nehmen ist
In puncto taktischer Variabilität hätte Real Madrid im Halbfinale der Königsklasse – abgesehen von Manchester City – wohl kaum eine höhere Hürde vor die Nase gesetzt bekommen können. So hat Chelsea-Coach Thomas Tuchel während seiner Amtszeit ein Team entwickelt, in dem ein Rädchen ins andere greift und das auch während eines Spiels dazu in der Lage ist, die eigene Spielidee anzupassen und alternative Lösungen zu finden.
Nichtsdestotrotz verfügt Real Madrid über Spieler von einem solchen Format, dass diese die Herrschaft im Mittelfeld an sich reißen und dem Spiel ihren eigenen Stempel aufdrücken können. Darüber hinaus dürfte aber auch die Systemfrage eine große Rolle spielen: Spiegelt Zidane Tuchel, um Chelsea die Stärken zu nehmen – oder klügelt der Franzose ein anderes taktisches Manöver aus?
Wenn ich Zidane wäre, würde ich wohl auf ein 3-5-2 mit zwei klaren Stürmern setzen – allein schon, um die Dreierkette des CFC zu binden und immer wieder vor Zuordnungsprobleme zu stellen. Der Cheftrainer hat mit seinen Entscheidungen jedoch schon mehrmals in dieser Spielzeit bewiesen, dass er aus gutem Grund an der Seitenlinie steht und es mehrere Gründe geht, warum er das unfassbare Kunststück vollbracht hat, die Königsklasse gleich doppelt zu verteidigen. Wenn es nach mir geht, dürfte in diesem Jahr gerne „Zizous“ vierter Henkelpott folgen – dafür wäre ein Hinspielerfolg über Chelsea ein guter Anfang.
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