
Vom Buhmann zum Sinnbild des Aufschwungs
MADRID. Wer sich die aktuelle Top-Scorer-Liste von Real Madrid in dieser Saison zu Gemüte führt, dürfte sich ein wenig verwundert die Augen reiben. Klar, auf Platz eins thront Cristiano Ronaldo, der trotz anfänglicher Flaute wettbewerbsübergreifend 33 Treffer und fünf Vorlagen auf seiner Seite weiß. Rang zwei belegen jedoch nicht etwa ein Gareth Bale oder Isco, sondern ein gewisser Lucas Vázquez, der mit sieben Toren und fantastischen 13 Assists auch gleichzeitig den mit Abstand besten Vorlagengeber im königlichen Star-Ensemble stellt, noch deutlich vor beispielsweise Toni Kroos oder Marcelo (jeweils sieben). Jener Vázquez also, der während der vor allem aus kollektiver Sicht schwachen Hinrunde neben Karim Benzema als einer der Buhmänner herhalten und sich insbesondere in den sozialen Medien jede Menge harsche Kritik gefallen lassen musste.
Genau genommen hat sich der gebürtige Galicier sogar zum Sinnbild für den Aufschwung der Königlichen in den letzten Wochen entwickelt. Und die zuletzt starken Leistungen des Canteranos, der sich 2007 der königlichen Nachwuchsschmiede anschloss und über die Zwischenstation Espanyol Barcelona 2015 schließlich den Weg in die erste Mannschaft finden sollte, spülten ihn beim enorm wichtigen Rückspiel gegen Paris Saint-Germain im Achtelfinale der Champions League (2:1) sogar in die Startelf, wo er den Vorzug vor den vermeintlich unantastbaren Stammspielern Bale und Isco erhielt. Vázquez zahlte Zinédine Zidanes Vertrauen mit einer starken Vorstellung zurück und avancierte zu einem der besten Spieler auf dem Feld. Dem neutralen Beobachter drängte sich nach dieser Partie möglicherweise die Frage auf, ob da ein neuer Stern bei den Blancos am Aufgehen sei? Doch wer es mit Real Madrid hält, der weiß: Eigentlich bringt Vázquez „nur“ sein Potential endlich konstant auf den Platz! Ein wichtiger Spieler ist er seit seiner Rückkehr 2015 schon immer, keinen setzte Zidane häufiger ein – wenngleich sich seine Rolle im Laufe der Zeit ein wenig änderte.
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Der Unterschätzte
Dass der 26-Jährige nicht unbedingt immer die Anerkennung erhält, die ihm gebühren sollte, liegt vermutlich auch in der etwas fehlenden öffentlichen Lobby begründet. Vázquez ist kein Galáctico wie Bale, kein nationaler Hoffnungsträger wie Isco und mittlerweile auch kein Nachwuchsjuwel mehr wie Marco Asensio. Der quirlige Rechtsaußen ist auch kein Profi, der den Weg in die Öffentlichkeit sucht. Seine Aktivitäten in den sozialen Netzwerken beschränken sich zumeist auf Posts rund um die Spieltage. Viele Fans betrachten das Eigengewächs aus sportlicher Sicht als „Nice to have“, mehr als die Rolle des Edeljokers, der ab und zu mal in der Startelf mitkicken darf, wird dem 1,73 Meter großen Dribbler aber oftmals nicht zugestanden. Aber warum eigentlich? Der Galicier war auf dem Weg zu „la Undécima“ phasenweise sogar Stammspieler und auch vergangene Saison ein wichtiges Puzzlestück auf dem Weg zum historischen Double aus Liga und Champions League. Und auch wenn der Canterano in der Hinrunde sicherlich seine bis dato schwächste Phase in Madrid seit seiner Rückkehr erlebte, knackte er in dieser Spielzeit bereits zum dritten Mal in Folge die Zweistelligkeit bei den Vorlagen. Etwas, was einem Marcelo, Luka Modrić oder Karim Benzema die letzten Spielzeiten beispielsweise nicht immer gelang. Mit einer Durchschnittsnote von 2,9 gehört er zu den besten Madrilenen 2017/18. Vázquez’ Fähigkeiten werden oft unterschätzt. Dabei ist er ein außergewöhnlicher Spielertyp, den es im Kader der Blancos so kein zweites Mal gibt. Und genau das macht ihn so wertvoll.
Stärken: Arbeiter und „Game Changer“
Wie für einen klassischen Flügelspieler typisch, verfügt der Rechtsfuß über enormes Tempo. Sowohl sein Antritt als auch die Endgeschwindigkeit sind außerordentlich gut. Da Vázquez jedoch zudem über extrem ausgeprägte Fertigkeiten im Dribbling verfügt, ist er im Eins-gegen-Eins extrem schwierig zu verteidigen. Durch seinen niedrigen Körperschwerpunkt ohnehin enorm wendig, macht ihn seine sehr enge Ballführung kaum ausrechenbar. Oft weiß sich der Gegner gegen die Übersteiger und schnellen Richtungswechsel nur durch Fouls zu helfen. Im Verbund mit seinem gut ausgeprägten Gefühl für den letzten Pass und seinen zumeist butterweichen und präzisen Hereingaben, stellt der Galicier im letzten Spielfelddrittel einen permanenten Gefahrenherd dar und repräsentiert auf seine eigene Weise eine Art Unterschiedsspieler. Egal ob gegen tiefstehende, engmaschige Defensivreihen oder individuell starke Verteidiger – Vázquez besitzt die besondere Gabe, Spielen durch eine Einzelaktion eine Wende zu geben.
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Das besonders Wertvolle im Fall des dreifachen spanischen Nationalspielers: Er funktioniert sowohl von Beginn an als auch (ganz besonders) von der Bank. Vázquez als „Game Changer“ – dieses Konzept hat schon oft erfolgreich funktioniert, zuletzt erst im Hinspiel gegen PSG (3:1). Durch seine zuvor beschriebenen Qualitäten sorgt „Luqui“ in der Schlussphase stets für enormen Druck und stellt die zumeist müden Abwehrreihen durch sein Tempo und seine Unberechenbarkeit vor enorme Probleme. Aber Vázquez ist eben mehr als nur der Edeljoker schlechthin.
Für einen offensiven Flügelspieler verfügt der 26-Jährige über eine enorme defensive Disziplin und ist trotz seiner geringen Körpergröße sehr robust im Zweikampf. Zidane schätzt diese Qualitäten, insbesondere gegen Mannschaften mit starken Außenspielern. Vor allem in Spitzenspielen wie dem Clásico oder zuletzt gegen Paris stellt der Canterano auch eine Option von Anfang an dar – eben weil er sich für die unbequeme Arbeit gegen den Ball nicht zu schade ist und die rechte Seite über die gesamten 90 Minuten mit höchster Intensität bearbeitet. Und das ist bisweilen wertvoller als anderweitige offensive Kabinettstückchen. Und dass er seine Rolle, ob nun als Zuarbeiter für die großen Stars oder „nur“ von der Bank, stets ohne großes Murren akzeptiert, vergrößert seinen Wert für das Team nochmals erheblich.
Größter Schwachpunkt: die Entscheidungsfindung
Gründe, weshalb es für einen langfristigen Stammplatz (noch) nicht reicht, finden sich jedoch ebenso. Gemessen an seinen außergewöhnlichen Fertigkeiten im Dribbling, trifft Reals Nummer 17 offensiv zu oft die falschen Entscheidungen oder agiert in den entscheidenden Momenten technisch zu unsauber: Mal wählt Vázquez den falschen Moment für ein Dribbling, mal misslingt eine Ballannahme oder gerät ein Pass zu kurz, weil der Canterano gedanklich schon zwei Schritte weiter scheint. Fehlerbilder, die insbesondere in der Hinrunde extrem ausgeprägt vorkamen und die Entwicklung des Eigengewächses zuletzt ein wenig hemmten. Dass er sich aus dieser schweren Phase herauskämpfte und endlich Konstanz in seine Auftritte zu bringen scheint, spricht für die mentale Stärke des Iberers, welche er bereits im Elfmeterschießen im Champions-League-Finale 2016 unter Beweis stellte, als er den so schwierigen ersten Elfmeter eiskalt verwandelte.
Aber auch die Chancenverwertung zählt nicht unbedingt zur großen Stärke des Iberers, der verhältnismäßig viele Gelegenheiten für einen eigenen Treffer benötigt. Wenngleich er mit aktuell sieben Treffern seine bis dato beste Torausbeute im weißen Trikot vorzuweißen vermag, ist Vázquez beileibe kein Killer vor dem Tor, verpasst es (leider) zu oft, seine Einzelaktionen mit entsprechenden Abschlüssen zu vergolden. Das Vorbereiten oder Einleiten von Treffern sind da schon eher das Spezialgebiet des Außenstürmers.
Ein würdiger Erbe von Álvaro Arbeloa
Insgesamt besitzt der 26-Jährige nicht nur aufgrund seiner sportlichen Qualitäten einen hohen Stellenwert im Klub und innerhalb des Teams. Lucas Vázquez ist aktuell eines von acht Eigengewächsen im Kader der ersten Mannschaft, steht aufgrund seiner offen ausgelebten Passion für den Verein und seiner stetigen Hingabe auf dem Feld zumindest in der Gunst der einheimischen Fans enorm weit oben. Dass er vergangene Spielzeit die Nummer 17 des zurückgetretenen Álvaro Arbeloa übernahm, ist natürlich kein Zufall, viele sehen in dem Galicier den legitimen Nachfolger des „Cap17án“. Neben den absoluten Superstars besitzen nämlich auch die im eigenen Nachwuchs ausgebildeten Akteure besondere Bedeutung für die Anhänger in Madrid, stellen sie doch in gewisser Weise das Bindeglied zwischen Fans und Mannschaft dar. Aufgrund seiner bodenständigen Art und seinem unermüdlichen Einsatz auf dem Feld verköpert Vázquez die ursprünglichen Werte des Vereins wie kaum ein anderer Akteur im Kader und wächst nach und nach in die Rolle des Arbeloa-Erben hinein. Fragt man Personen im Verein, welchen Spieler sie am sympathischsten finden – die meistgewählte Antwort dürfte klar sein. Umso erfreulicher, dass dieser Lucas Vázquez in den letzten Wochen auch seinen sportlichen Wert für das Team deutlich untermauerte. Der Canterano, der vor zweieinhalb Jahren zurückkehrte, um seinen Traum zu leben, ist erwachsen geworden – und mittlerweile ein absolut gestandener Spieler der ersten Mannschaft.
Reicht es für einen WM-Platz?
Und möglicherweise geht die Reise für den Rechtsaußen nach Saisonende noch weiter: Wie schon 2016 bei der EM, könnte Vázquez die Überraschung in Spaniens WM-Kader darstellen. „Echte“ Flügelspieler sind auf der iberischen Halbinsel aktuell ohnehin rar gesät, die Konkurrenz mit Pedro (FC Chelsea), Vitolo (Atlético Madrid), José Callejón (SSC Neapel), Jesús Navas (FC Sevilla) oder Iago Aspas (Celta Vigo) scheint keineswegs übermächtig. Zumal der Canterano für den Moment sowohl in puncto Form als auch statistisch deutlich die Nase vorne hat. Am Ende liegt es in den Händen von Nationaltrainer Julen Lopetegui, ob er dem hochdekorierten Kader Spaniens noch ein neues Überraschungselement hinzufügen will. Einen perfekten Rollenspieler, der immer ein wenig unterschätzt wird, aber am Ende für den Unterschied sorgen kann.
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