Reportage

Ein Arbeiter unter Virtuosen – zum Abschied von Sami Khedira

Er kam als aufstrebender Youngster, der gerade sein erstes großes internationales Turnier hinter sich gebracht hatte, zu Real Madrid. Als Champions-League-Sieger, Weltmeister, spanischer Meister, zweifacher spanischer Pokalsieger, spanischer Supercopa-Sieger, UEFA Super-Cup-Sieger sowie Klub-Weltmeister wird Sami Khedira den Verein nun verlassen. Dreieinhalb Jahre lang war der deutsche Nationalspieler fester Bestandteil der Madrider Stammelf, ehe ihn ein Kreuzbandriss aus der Bahn warf. Er kämpfte sich zurück, für einen Stammplatz reichte es am Ende allerdings nicht mehr. Nun treffen sich die Wege – und die Königlichen verabschieden sich von einem vorbildlichen Kämpfer, aufrichtigen Sportsmann und einem wahren Madridista.

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Sami Khedira
Sami Khedira wechselt voraussichtlich zu Juventus Turin

Nach fünf Jahren ist Schluss

MADRID. Im Länderspiel zwischen Deutschland und Australien (2:2, 25. März) war Sami Khedira für kurze Zeit wieder ganz der Alte: mit seiner für ihn typischen Dynamik spritzte er in der 17. Minute in einen Pass der Australier und trieb den Ball energisch bis tief in die gegnerische Hälfte und vollendete seinen Lauf über den halben Platz mit einer sehenswerten Außenrist-Vorlage auf Marco Reus, der zum 1:0-Führungstreffer einschob. Eine Szene, die verdeutlichte, weshalb der frühere Stuttgarter in den letzten Jahren zu einem der besten defensiven Mittelfeldspieler reifte. Eine ungeheure physische Präsenz gepaart mit einer enormen Dynamik, extremer Robustheit im Zweikampf sowie einer hohen Spielintelligenz unterstützt von einem unheimlichen Willen ließen den Nobody aus der Bundesliga, der 2010 lediglich mit einer Weltmeisterschafts-Teilnahme und einer Deutschen Meisterschaft als Referenz in die spanische Metropole wechselte, zu einem festen Bestandteil im hoch dekorierten Mittelfeld Reals heranwachsen. Nach vier Jahren, in denen er regelmäßig unter den ersten Elf zu finden war, erlitt der Deutsch-Tunesier im November 2013 bei einem Länderspiel gegen Italien einen Riss des Innenbands und vorderen Kreuzbands im rechten Knie – und seine Karriere einen Knick.

Zwar kämpfte er sich in Rekordzeit  zurück auf den Platz und leistete einen entscheidenden Beitrag zum Titelgewinn der Deutschen bei der WM in Brasilien, bei den Merengues kam er jedoch seitdem überhaupt nicht mehr in Tritt. Ständige Verletzungen verhinderten einen geregelten Spielrhythmus. Und wenn Khedira zum Einsatz kam, bewegten sich seine Auftritte meilenweit entfernt von dem, was er eigentlich zu leisten im Stande ist. Viele Stock- und Abspielfehler, sein Spiel wirkte hölzern und er schien körperlich nicht auf der Höhe. Das zog den Unmut und Pfiffe des Publikums nach sich. Es machte nahezu den Eindruck, als seien Teile der Fans froh, dass die Nummer 6 ihre Sachen packt. Aber hat Khedira das wirklich verdient? Geraten alte Verdienste mittlerweile so schnell komplett in Vergessenheit? REAL TOTAL blickt zurück – auf Höhen und Tiefen, Erfolge und Dramen des Sami Khedira bei Real Madrid.

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Sami wer?

Nicht wenige dürften sich bei Real Madrid im Sommer 2010 verwundert die Augen gerieben haben, als neben Deutschlands WM-Shootingstar Mesut Özil auch der Name eines gewissen Sami Khedira auf der königlichen Transferliste auftauchte. Sami wer? Aufgrund der schweren Verletzung Michael Ballacks im Vorfeld des Interkontinental-Turniers war der 22-Jährige plötzlich in Joachim Löws Anfangself gespült worden und spielte an der Seite von Bastian Schweinsteiger ein bärenstarkes Turnier. Aber reicht das auch, um bei Real Madrid eine gewichtige Rolle zu spielen? José Mourinho befand: ganz klar, ja. Der U21-Europameister von 2009 war einer der Wunschspieler von „the Special One“ und brachte die Skeptiker bereits nach wenigen Wochen zum Verstummen. Im Gegensatz zu seinem Landsmann Özil, der zunächst mit ein paar Anpassungsproblemen zu kämpfen hatte, war der Mittelfeldmotor praktisch von Beginn weg eine feste Größe. Nach zehn Spieltagen standen sieben Einsätze über die vollen 90 Minuten, zum Zug kam er in jeder Partie. Am Ende der Saison waren es 1.832 Einsatzminuten verteilt auf 25 Spiele in La Liga. Auch acht von zwölf möglichen Einsätzen in der Königsklasse können sich für ein Premieren-Jahr durchaus sehen lassen, auch wenn der Lieblingsschüler von Mourinho bei den Halbfinals gegen Barcelona (0:2 und 1:1) nicht mitwirken konnte. Mit von der Partie war der Dauerläufer dafür im Copa-del-Rey-Finale gegen den Erzrivalen (1:0) und bearbeitete Xavi, Andrés Iniesta und Co. über 100 Minuten mit Erfolg, ehe er am Ende zusammen mit seinen Kollegen den Pokal in die Höhe stemmen durfte.

Die gleiche Wertschätzung wie Özil, der sich im Laufe der Saison stabilisierte und von den Medien gar den Spitznamen „Zauberer von Öz“ verpasst bekam, schlug Khedira zwar nicht entgegen, aber er war definitiv angekommen in der internationalen Spitzenklasse. Und er hatte sich Respekt erarbeitet. Durch seinen unermüdlichen Einsatz. Durch seine Kompromisslosigkeit im Zweikampf. Durch seine Läufe im Halbsprint über das ganze Feld. Durch sein Verhalten als vorbildlicher Sportsmann. An der Seite von Stratege Xabi Alonso fungierte er im 4-2-3-1 als perfektes Bindeglied zwischen Offensive und Defensive und hielt seinem Nebenmann den Rücken frei. Obwohl das in diesem Zusammenhang eigentlich die falsche Bezeichnung ist. Vielmehr agierte Alonso im Rücken Khediras und dirigierte das Spiel der Madrilenen aus der Tiefe heraus, während der deutsche Nationalspieler in seiner Funktion als „Box-to-Box“-Player entweder durch energische Vorstöße in die Spitze Alonso den nötigen Platz verschaffte oder in der Defensiv-Bewegung die Löcher stopfte und den direkten Zweikampf suchte, um seinen Kollegen den Zugriff auf die zweiten Bälle zu ermöglichen. Im auf Konterspiel ausgelegten System unter Mourinho konnte der Neuzugang all seine Stärken hervorragend zum Vorschein bringen. Und es sollte noch besser werden.

Das Ende der Barça-Dominanz – und Khedira mittendrin

In seinem zweiten Jahr an der Concha Espina gab es einen weiteren Titel zu bejubeln. Diesmal die Meisterschaft – und was für eine. Gerade einmal zwei Partien gingen verloren, am Ende stand eine Rekordsaison mit 100 Punkten und einem Torverhältnis von 121:32. Noch viel wichtiger war allerdings, dass die vier Jahre andauernde Hegemonie des FC Barcelona unter Pep Guardiola durchbrochen werden konnte. Im Hinspiel war man zwar im heimischen Bernabéu noch mit 1:3 unterlegen, im Rückspiel tütete man dafür durch ein 2:1 im Camp Nou quasi die Meisterschaft ein. Khedira glänzte sogar als Torschütze zum 1:0, doch weitaus beeindruckender war das, was der Ex-Stuttgarter über 90 Minuten auf dem Platz zeigte. Die Edeltechniker um Lionel Messi, Iniesta und Xavi schienen gegen eine Wand anzulaufen, speziell die beiden Mittelfeld-Strategen zermürbte Khedira durch seine unheimliche Zweikampfpräsenz und seinen läuferischen Einsatz. Wegzudenken war die Nummer 6 nicht wirklich, 28 Liga-Einsätze und acht Champions-League-Partien untermauern die Wichtigkeit des Arbeiters zu diesem Zeitpunkt.

Auch in der Folgesaison gehörte er mit 25 Liga-Spielen und elf Einsätzen in der Königsklasse zu den Gesetzten, aber mit der zunehmenden Kritik an Mourinhos Spielstil wuchsen auch die kritischen Stimmen an Khedira. Dem extrovertierten Portugiesen wurde vorgeworfen, dass er die Identität der Madrilenen zugunsten des Erfolgs aufgeben würde, vom Madridismo wurde das Spiel als hässlich und unattraktiv empfunden. Dementsprechend hatte ein Kämpfer vom Kaliber eines Khedira inmitten all der Cristiano Ronaldos, Ángel Di Marías und Karim Benzemas einen schweren Stand. Nach Ende der titellosen Saison zog es „the Special One“ zurück zu seiner alten Liebe Chelsea und der frühere Bundesliga-Profi hatte einen prominenten Fürsprecher verloren. Unter Neu-Trainer Carlo Ancelotti wurden die Karten neu gemischt und Khedira blieb – und war zunächst auch unter „Carletto“ eine feste Größe.

Kreuzbandriss, Comeback, „la Décima“,  Weltmeister, Ersatzbank

Bis zu jenem schicksalshaften 15. November 2013, als er sich beim Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Italien (1:1) in einem Zweikampf mit Andrea Pirlo das vordere Kreuzband und Innenband im rechten Knie riss. Eine Welt brach den Deutsch-Tunesier zusammen, vor allem, da im Sommer die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien auf dem Plan stand. Doch aufstecken kam für den Dauerkämpfer nicht in Frage. Und tatsächlich: bereits nach 170 Tagen stand er wieder im Kader von Real Madrid, eine Woche später trat er gegen Celta Vigo wieder gegen den Ball. Es kam aber noch besser: im Finale der Champions League gegen Atlético (4:1 n. V.) stand er in der Startelf, da Xabi Alonso mit einer Gelbsperre zum Zuschauen verdammt war. Dass eine so schwere Verletzung jedoch nicht ganz so einfach wegzustecken ist, musste auch der Spieler selbst erkennen. Khedira wirkte noch lange nicht so spritzig und stabil wie vor der Verletzung, verlor zudem das entscheidende Kopfball-Duell gegen Diego Godín vor dem 0:1. Nach einer Stunde und einer durchwachsenen Partie musste er runter, doch am Ende stand der emotionale Gewinn von „la Décima“ und der Rekordzeit-Rückkehrer reiste voller Selbstbewusstsein zum Titelkampf nach Brasilien.

Ich bin sehr dankbar, auf einer so majestätischen Bühne wie dem Bernabéu gespielt und sehr stolz, dieses Wappen fünf Jahre lang auf meiner Brust getragen zu haben. Mein größter Wunsch für die nächsten Jahre ist, dass Real Madrid Barcelona hinter sich lässt

Auch an der Copacabana glichen Khediras Leistungen einem Auf und Ab, die Rekonvaleszenz hatte ihre Spuren hinterlassen. Doch beim legendären 7:1-Erfolg gegen Brasilien im Halbfinale bewies er Bundestrainer Joachim Löw, dass dieser mit seiner Nominierung alles richtig gemacht hatte. In einer geschichtsträchtigen halben Stunde erteilte die DFB-Elf den Südamerikanern eine Lehrstunde vom Feinsten im Gegenpressing – angeführt von einem überragenden Khedira. Dynamisch, kraftvoll und mit unbändigem Willen riss er Lücken in die Abwehr, eroberte Bälle und erzielte sogar selbst einen Treffer. Das Finale war da und der Traum vom WM-Titel greifbar. Doch das größte Spiel seiner Karriere fand ohne ihn statt. Kurz vor der Partie machte die Wade dicht, der Champions-League-Sieger musste passen. Der Rest ist aus deutscher Sicht Geschichte – am Ende stand der vierte Titelgewinn. Und Khedira hatte Größe bewiesen, indem er zum Wohle des Teams auf einen Einsatz verzichtete. Doch es hatte sich gelohnt und er durfte als Weltmeister nach Spanien zurückkehren.

In Madrid hatte sich die Zeit während seiner Verletzung jedoch weiter gedreht. Ancelotti hatte das 4-3-3 als neues Spielsystem etabliert und die Doppelsechs, auf der er so erfolgreiche Spiele gezeigt hatte, existierte nicht mehr. Vor der Abwehr war Toni Kroos gesetzt und auf den Halbpositionen kommen Khediras Eigenschaften nicht zur Geltung. Gefragt sind Typen wie Luka Modric oder James Rodríguez, die durch ihre Mischung aus technischer Raffinesse und Robustheit für die nötige Balance sorgen. Reals Nummer 6 war dann am besten, wenn er einen defensiv agierenden Partner neben sich hatte. Bei Real Madrid war das Xabi Alonso, in der Nationalmannschaft Bastian Schweinsteiger. Seinen Platz konnte er sich aber auch aufgrund anhaltender Verletzungsprobleme nicht erkämpfen. Muskelbündelriss, Gehirnerschütterung und Muskelfaserriss lautete die Krankenakte in der Saison. Es scheint, als habe sich der Körper die Zeit genommen, die er nach der Knieverletzung nicht hatte. Rhythmus? Fehlanzeige. Von Formfindung ganz zu schweigen. Auf ganze 295 Minuten kam Khedira in der Liga, 73 in der Champions League. Auch in der Gunst der Fans war er gesunken, Pfiffe gegen seine Person an der Tagesordnung.

Khedira, der Ehrenmann

Und der Spieler selbst? Kein böses Wort. Khedira ist intelligent genug, um seine Situation richtig einzuschätzen. Als sehr reflektierter Mensch wird er wissen, dass er unter diesen Umständen in Madrid wenig Chancen haben wird, was auch dessen Worte in seinem letzten Interview mit der MARCA verdeutlichen. Es gab bis zum letzten Oktober mehrere Treffen. Nach vielen Konversationen war ich mir nicht mehr sicher, meinen Vertrag um vier weitere Jahre zu verlängern, weil ich mir nicht mehr vollends klar war, ob ich dem Anforderungsprofil entspreche und so auf dem absoluten Top-Niveau weitermachen kann. Ich hatte Zweifel und so traf ich im Dezember letztlich die Entscheidung, dass es das Beste für mich ist, einen anderen Weg einzuschlagen und anderen interessante Herausforderungen entgegenzutreten“, so dessedien realistische Einschätzung.

Auf der anderen Seite wird er wissen, dass er wieder sein altes Niveau erreichen kann. Bei Bekanntgabe seines Wechsels gab der deutsche Nationalspieler zu verstehen, dass er Madrid vermissen werde. Hier ist er zu einem Spieler der internationalen Spitzenklasse gereift, hier hat er alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Aber auch Khedira hat Madrid viel gegeben – und er hat die Werte des Madridismo gelebt. In der Öffentlichkeit präsentierte er sich stets als demütiger und besonnener Sportsmann, auf dem Feld gab er immer alles. Auch wenn er als Arbeiter unter den Virtuosen galt, hat er seinen Beitrag geleistet, dass die Zauberer auch zaubern konnten. Die Pfiffe und Anfeindungen gegen seine Person hat er sicherlich nicht verdient, dafür leistete er zu viel. Franz Beckenbauer merkte an, „dass er in der derzeitigen Verfassung keinem weiterhelfen würde“. Widersprechen mag man dem „Kaiser“ gegenwärtig nicht, aber mit der nötigen Zeit und Geduld kann Khedira sein altes Niveau wieder erreichen. Vor allem da auch die Beispiele eines Radamel Falcao oder Jesé Rodríguez zeigen, dass eine solch schwerwiegende Verletzung auf diesem Niveau nicht einfach so wegzustecken ist. In Madrid wird er diese Zeit nicht mehr haben, aber am Ende gilt es seitens des Madridismo trotzdem, „Danke“ zu sagen.

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von
Yannick Frei

Hauptberuflich im Nachwuchsfußball zuhause. Von den Großmeistern Figo und Zidane verzaubert, bin ich bis heute ein glühender Anhänger des größten Klubs der Welt.

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