Reportage

Eine Ära am Scheideweg: Real vor richtungsweisenden Wochen

Etwas mehr als zehn Monate ist es her, als die Mannschaft von Carlo Ancelotti die Champions League gewann und ausgelassen mit ihren Fans im Estadio Santiago Bernabéu feierte und sang. Nach der 3:4-Niederlage am Dienstagabend gegen den FC Schalke 04 pfiffen die Zuschauer ihr Team aus dem Stadion und beschimpften es als „Versager“. Eine Ära, die 2014 erst zu beginnen schien, steht bereits am Scheideweg. Auf den italienischen Trainer und seine Spieler kommen richtungsweisende Wochen zu.

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Carlo Ancelotti
Die Lage ist ernster denn je: Carlo Ancelotti und seine Spieler sind unter Zugzwang

Ancelotti muss liefern – oder gehen

MADRID. Real Madrid steht im Viertelfinale der UEFA Champions League und kann noch aus eigener Kraft spanischer Meister werden. Viele Vereine auf diesem Planeten hätte gerne eine solche Krise. Die Philosophie des spanischen Rekordmeisters lautet jedoch, dass der zweite Platz nicht genug ist. Es muss ständig gewonnen werden – und zwar mit schönem Fußball. Davon ist die Mannschaft, die 2014 mit einem vierteiligen Triumphzug (CL, Copa del Rey, UEFA Super Cup, Klub-WM) Geschichte schrieb, momentan meilenweit entfernt. Sie muss dringend wieder liefern – oder in der Sommerpause mit manchen Konsequenzen leben.

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Insbesondere Carlo Ancelotti steht in der Pflicht. Winkte ihm vor einigen Monaten noch eine Vertragsverlängerung, fängt der Stuhl des 55-jährigen Italieners wieder an zu wackeln. Er würde schon vermutlich längst nicht mehr auf ihm sitzen, hätte Sergio Ramos im letzten Champions-League-Finale gegen Atlético Madrid nicht in der 93. Minute zum entscheidenden 1:1-Ausgleich geköpft. Oder hätte der FC Schalke 04 am Dienstag noch einen weiteren Treffer erzielt. Klar ist: Beendet Ancelotti diese Saison ohne Titel, muss er seinen Hut nehmen.

Es zählt nur das Heute und das Morgen

Dass in Madrid vergangene Leistungen egal sind, sieht man an Iker Casillas. Einst der gefeierte Schutzpatron, muss der spanische Schlussmann regelmäßig mit Pfiffen gegen seine Person leben. „Er ist der schlechteste Torwart der Primera División. Er soll endlich gehen“, wütete ein Anhänger beim Verlassen des Stadion in eine Kamera des spanischen TV-Senders NEOX. Es handelte sich um einen älteren Herren, der garantiert schon den Champions-League-Triumph im Jahre 2002 miterlebte, als Casillas beim 2:1 gegen Bayer 04 Leverkusen mit zahlreichen Glanzparaden zum Helden avanciert war. Aber das zählt jetzt nicht mehr. Noch markanter: Andere Fans sangen eine Rückkehr José Mourinhos herbei. Ihr Urteil über Ancelotti: „Er ist eine Schande. Jeder sieht das, was er nicht sieht.“

Nur noch ein Haufen voller Stars

Auf einer Seite ist die Empörung der Madridistas durchaus nachvollziehbar. Ancelotti ist trotz seiner Erfahrung keineswegs fehlerfrei. Seit Wochen bittet er um Entschuldigung und verspricht Verbesserung, lässt seinen Worten aber keine Taten folgen. Abgesehen vom 3:1-Sieg im ersten Clásico und den internationalen Erfolgen gegen den damals formschwachen FC Liverpool versagte seine Truppe in dieser Saison gegen stärkere Gegner. Gegner, die ohne Furcht agieren und darüber hinaus auch spielerische Klasse besitzen. Wäre Schalke schon im Hinspiel so mutig aufgetreten, hätte das Team von Roberto di Matteo den königlichen Super-GAU perfekt gemacht.

Reals Krise lässt sich nicht mehr nur mit einer zu großen Verletzungsmisere erklären. Man sieht mehr einen Haufen voller Individualisten als eine Einheit, die zusammensteht und zusammenhält. Das liegt auch an den verschiedenen Hierarchien im Team, für die der Trainer selbst sorgt. Das einst so gefürchtete Sturm-Trio „BBC“ genießt zum Beispiel trotz einer wochenlangen Schwächephase Narrenfreiheit, während der einst als würdiger Raúl-Nachfolger gefeierte Jesé Rodríguez nach seinem längst verheilten Kreuzbandriss keine Chance erhält, sich zu beweisen und Selbstvertrauen zu sammeln. Gareth Bale ist seit acht Spielen ohne Tor und vermag es nicht einmal mehr, sich in einem Eins-zu-eins-Duell durchzusetzen und mit seiner Schnelligkeit für Überraschungsmomente zu sorgen. „Wenn die Drei fit sind, spielen sie. Basta“, verdeutlicht Ancelotti immer wieder. Er darf sich nicht wundern, dass seiner Ersatzbank Motivation und Ehrgeiz verloren gehen. Wofür hart trainieren, wenn andere aufgrund ihrer Ablösesumme sowieso immer von Beginn an spielen? Diese Frage stellen sich Reservisten wie Jesé, „Chicharito“ oder Asier Illarramendi.

Die Beine werden immer schwerer

„Ich glaube nicht, dass meine Spieler müde sind“, sagte Ancelotti noch vor dem Schalke-Rückspiel. Nach der Pleite gestand er sich jedoch selbst, dass sein Team „auch in Sachen Fitness einen Schritt zurückgemacht“ habe. Er konnte nichts anderes sagen, da die Zahlen eine deutliche Sprache sprachen: Seine Akteure liefen 9,4 Kilometer weniger als die Deutschen. Diese Statistik bewies einmal mehr, dass einigen Madrilenen die Beine immer schwerer werden. Toni Kroos ist seit September nahezu ununterbrochen im Einsatz und hat mittlerweile 3431 Spielminuten auf seinem Buckel, während sein positionsgetreuer Pendant Illarramendi nicht einmal bei der Hälfte steht (1239 Minuten). Die fehlende Frische ist maßgeblich für den Leistungsabfall verantwortlich, der inzwischen auch bei der deutschen Schaltzentrale im Mittelfeld erkennbar ist. Die Räume zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen waren gegen Schalke so groß, dass sogar die „Knappen“ ein für ihre Verhältnisse untypisches und bemerkenswertes Kurzpassspiel aufzuziehen wussten. Wie soll das gegen die „Tiki-Taka-Maschine“ Barça am 22. März im Camp Nou enden?

Ein Sieg im Camp Nou? Im Fußball ändern sich die Dinge sehr schnell Carlo Ancelotti

Die einzige positive Erkenntnis nach dem Duell mit „Königsblau“: Luka Modric ist zurück! Mit dem „kroatischen Mozart“ erhalten die Blancos wieder mehr Struktur und mehr Ballsicherheit im Mittelfeld. Zudem wird Sergio Ramos rechtzeitig zum Clásico fit sein. Dass der Erfolg von elf Spielern aber nicht von ein oder zwei Leistungsträgern abhängt, unterstrich Modric nach seinem Comeback: „Wir müssen wieder als gesamtes Team gut spielen!“ Ancelotti gibt sich indes ebenfalls kämpferisch: „Ein Sieg im Camp Nou? Im Fußball ändern sich die Dinge sehr schnell.“ Er weiß es selbst am besten. Ende Dezember galt er mit einer Rekord-Serie von 22 Siegen am Stück noch als der beste Trainer der Vereinsgeschichte, heute ist er ein Niemand.

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