
„Angriff auf die Europa League“
MADRID. Tomás Roncero, als Redakteur der spanischen Sportzeitung AS einer der bekanntesten Journalisten im Kosmos von Real Madrid und obendrein eingefleischter Fan des Klubs, malt den Teufel bereits an die Wand. „Angriff auf die Europa League“, kommentierte er die 2:3-Niederlage der Königlichen am Mittwoch gegen Shakhtar Donetsk unmittelbar nach dem Abpfiff. Eine Beleidigung gegenüber der Geschichte des Vereins sei die Darbietung gewesen – was weite Teile der Anhängerschaft ähnlich empfinden dürften.
Nachdem das Ensemble von Trainer Zinédine Zidane am Samstag im ersten Spiel nach der knapp zweiwöchigen Unterbrechung durch die Nationalmannschaft gegen den LaLiga-Aufsteiger FC Cádiz über weite Strecken unwürdig aufgetreten und mit einem 0:1 als Verlierer vom Feld gegangen war, hatte man zum Auftakt der in Madrid doch so geliebten Champions League mit einem anderen Real-Gesicht gerechnet. Pustekuchen.
Ein Halbzeitstand sorgt für Diskussionsstoff
Drei Gegentreffer binnen 13 Minuten bescherten den defensiv in der letzten Saison noch so starken, nun aber zum wiederholten Male desolaten Blancos am Mittwoch gegen die Ukrainer zur Halbzeit einen 0:3-Rückstand. Auch wenn der 13-malige Triumphator nach dem Seitenwechsel bis auf ein 2:3 herankam und am Remis schnupperte, ist es in der Nachbetrachtung vielmehr dieser grauenhafte Pausenstand, über den geredet wird, der als Eindruck von dem ernüchternden Abend bleibt. Zum ersten Mal seit September 2005 haben die Madrilenen in der Champions League in einer ersten Halbzeit drei Tore schlucken müssen. Damals hieß der Kontrahent Olympique Lyon. „Jeden Tag schlechter. Madrid im freien Fall“, titelt die Sportzeitung MARCA nach dem neuerlichen Rückschlag kritisch.
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— MARCA (@marca) October 21, 2020
Champions-League-Start auch letztes Jahr vergeigt
Wie in der vergangenen Spielzeit startet das taumelnde weiße Ballett mit einer Niederlage in die Königsklasse. 2019 hatte es anfangs sogar ziemlich düster ausgesehen, als Real nach einer 0:3-Klatsche gegen Paris Saint-Germain Zuhause gegen Underdog Club Brügge zum Ende des ersten Durchgangs 0:2 zurückgelegen war. Immerhin sprang damals im Estadio Santiago Bernabéu letztlich noch ein 2:2 heraus, was jedoch nichts daran änderte, dass das Team folglich gegen Galatasaray Istanbul gehörigen Druck verspürte. Und auch Zidane, der damals bereits Fragen beantworten musste, ob er sich denn nicht um seinen Job fürchtet.
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Das könnte sich seitens der Reporter jetzt wiederholen. Primär jedoch nicht, da man sich – vielleicht abgesehen von Journalist Roncero – in Madrid bereits ernsthafte Sorgen um ein Ticket für die K.o.-Phase macht. Bei fünf ausstehenden Partien ist bei weitem noch nichts verloren, zudem hat Real das Weiterkommen bei bisher 28 Gruppen-Teilnahmen nie verpasst. Vielmehr ist es die Art und Weise, wie die jüngsten Misserfolge zustande kamen. Im Defensivverbund lückenhaft und fehleranfällig, im Spiel nach vorne über weite Strecken ohne zündende Ideen und Durchschlagskraft. Inakzeptabel. Ob nun mit Sergio Ramos, Toni Kroos und Karim Benzema oder Éder Militão, Federico Valverde und Luka Jović. Zidane veränderte seine Startelf zum Donetsk-Spiel im Vergleich zur Begegnung mit Cádiz freiwillig oder gezwungenermaßen auf sieben Positionen. Effekt? Fehlanzeige.
„Real Madrid lange nicht mehr so schlecht gesehen“
„Ich habe Real Madrid lange nicht mehr so schlecht gesehen“, gestand Predrag Mijatović, einst unter anderem Spieler und Sportdirektor, bei dem Radiosender CADENA SER. Es krankt am Kollektiv. „Mental und körperlich herrscht eine enorme Müdigkeit“, konstatierte bei Realmadrid TV Legende Roberto Carlos, der die Königlichen zum Anpfiff des internationalen Geschäfts wieder von ihrer stärkeren Seite erwartet hatte. Die braucht es jetzt ausgerechnet gegen den Erzrivalen. Am Samstag tritt Real beim FC Barcelona an (16 Uhr, im REAL TOTAL-Liveticker und bei DAZN), der in dieser Saison auch nicht allzu überzeugt, aber immerhin die Clásico-Generalprobe mit einem 5:1 gegen Ferencváros Budapest meisterte.
El Clásico: Brustlöser? Oder wird alles noch schlimmer?
So enttäuschend die Blancos aktuell allerdings auch auftreten mögen, so sehr bietet sich ihnen gegen Barça nun die große Gelegenheit, Wiedergutmachung zu betreiben. Der Clásico als möglicher Brustlöser. „Die Spieler werden ihren Stolz zeigen“, ist sich Mijatović sicher.
Aber was, wenn nicht? Was, wenn die alles andere als vor Selbstvertrauen strotzenden Real-Stars auch dieses Top-Spiel in den Sand setzen? Dass Zidane selbst im Falle eines erneut unwürdigen Auftritts von Florentino Pérez vor die Tür gesetzt wird, gilt aufgrund der Hochachtung des Präsidenten vor dem Trainer als undenkbar. Dass der Franzose bei einer Niederlage der deutlicheren Art im Camp Nou zurücktreten würde, ist nicht ausgeschlossen, aber wenig wahrscheinlich. Dafür ist die Saison noch viel zu jung, und gehen wird er nur dann wollen, wenn in Reals Welt alles in Ordnung ist. Wie 2018 nach dem Champions-League-Triumph. Für Erfolge wie diese braucht es anno 2020 aber einen Quantensprung.
Als der Franzose die Mannschaft im Januar 2016 und im März 2019 übernahm, hieß es jeweils noch: An Zidanes Wesen soll Real genesen. Dass er selbst mit personellen und taktischen Entscheidungen aber ein Teil des Problems geworden ist, kann auch in der aktuellen Schwächephase nicht abgestritten werden.
Zidanes Suche nach Lösungen
Aber darauf muss „Zizou“ niemand hinweisen. „Ich bin der Verantwortliche und muss nach Lösungen suchen, denn so etwas darf nicht passieren. Weil die erste Halbzeit schlecht für meine Mannschaft verlief, habe ich natürlich etwas nicht gut gemacht. Ich halte mich für fähig, diese Situation zu lösen“, betonte er nach dem Dämpfer gegen Shakhtar. Fragt sich nur: Wie? Und: Schon gegen Barça? Erst der Clásico, am Dienstag dann die nächste Königsklassen-Aufgabe gegen Borussia Mönchengladbach: Spätestens jetzt wird‘s ernst…
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