
„Ich sagte, Mourinho müsse mir schreiben“
MADRID. Die Zeit bei Real Madrid war für Sami Khedira eine besondere. 161 Pflichtspiele (neun Tore, 13 Assists) bestritt der gebürtige Stuttgarter mit den Madrilenen. Dass es überhaupt so viele werden würden, konnte der Ex-Mittelfeldspieler einst nicht erahnen. Sein Wechsel vom VfB Stuttgart zu den Blancos nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2010 kam für ihn durchaus überraschend. „Ich saß im Hotel und dachte mir, vielleicht ist Spanien (warf Deutschland raus; Anm. d. Red.) einfach zu groß für uns. Ich war sehr gefrustet, doch dann habe ich von meinem Bruder eine Nachricht erhalten: ‚Mourinho wird dich anrufen.‘ Ich dachte mir nur: ‚Was?‘ Dann sagte er mir: ‚Doch, doch. Er sucht nach einem Sechser‘“, berichtete der Ex-Real-Star nun im ESPN-Podcast THE GABS AND JULS SHOW.
Der 34-Jährige erinnerte sich zurück: „Das Lustige ist, dass mir mein Bruder Rani, der jetzt für Union Berlin spielt und damals 15, 16 Jahre alt war, sagte, dass ich gut spielen müsse, da Mourinho nach einem Sechser Ausschau halte. Ich sagte nur: ‚Du weißt doch nichts über Fußball. Du kennst Mourinho und Real Madrid, also warum sollte er auf Sami Khedira vom VfB Stuttgart schauen?‘“
Der damalige Bundesliga-Profi „hatte keine Erwartungen, doch er versicherte mir, dass er mich haben will. Aber na gut, ich sagte, er müsse mir schreiben, da mein Englisch damals so schlecht war und ich so nervös war. Also schrieb er mir daraufhin und meinte: ‚Du bist ein fantastischer Spieler und fantastischer Kerl. Ich will, dass du zu Real Madrid kommst.‘“
„Extra nach Madrid gereist und nach einer Minute geht’s zurück?“
Khedira sei im Anschluss mit seinem Berater „nach Madrid geflogen und haben gesprochen. Es hat vielleicht ein, zwei Minuten gedauert. Er fragte mich, welche Erwartungen ich habe. Ich sagte: ‚Ich mag gewinnen.‘ Dann sagte er: ‚Okay, du bist mein Typ.‘ Er gab mir eine Umarmung und ein Küsschen und sagte: ‚Wir sehen uns in zwei Wochen in Los Angeles zur Saisonvorbereitung.‘ Das war’s. Und ich habe zu meinem Berater gesagt: ‚Okay, das ist kein gutes Zeichen. Wir sind extra nach Madrid gereist und nach einer Minute geht’s nun wieder zurück?‘ Mein Berater meinte nur: ‚Nein, nein, alles gut. Das ist perfekt so. Wir sprechen später.‘ Das war der Beginn der Story“.
Mourinho „zu treffen und mit ihm zu arbeiten, war eine der besten Erfahrungen in meinem Leben. Er öffnete mir die Tür zum höchsten Level im Fußball“, berichtete Khedira, stellte aber klar: „Er hat eine andere Art zu kommunizieren. Ich kann mich noch an meine erste Trainingseinheit in Los Angeles in der UCLA zurückerinnern. Er sagte mir: ‚Hör zu, meine Trainingseinheiten dauern 90 Minuten, nicht länger, aber auch nicht weniger. 90 Minuten. Und wir benutzen immer den Ball.‘ Und ich dachte mir nur: ‚Easy.‘ Denn in Deutschland läuft man normal nur und das ohne den Ball – das ist langweilig. Nach den ersten 90 Minuten war ich tot. Ich war tot, weil wir Spiele wie Zehn gegen Zehn oder Sechs gegen Sechs gespielt haben. Es gab keine Pause. Er hat immer den Ball reingespielt, egal ob von links, rechts. Du musstest also zurücksprinten und wieder verteidigen. Ich war so erschöpft, aber glücklich, weil man immer den Ball hatte und nicht nur lief, ohne sein Hirn einzuschalten. Du musstest laufen und überlegen, wie du verteidigst und wie du dich bewegst. Ich war beeindruckt.“
„Mourinho zu ändern, ist nicht einfach“
Als die Profis im Anschluss „zurück im Bus waren auf dem Weg ins Hotel, schrieb er mir, obwohl er nur zwei Reihen vor mir saß: ‚Du bist ein fantastischer Spieler, schau dir mal meine Startelf für das erste Spiel an.‘ Und ich war unter den ersten Elf. Ich habe ihn angeschaut und er drehte sich nur um und zwinkerte. Er gab mir so viel Selbstvertrauen, denn ich war neu in der Mannschaft, hatte noch keine Freunde und konnte kaum Englisch und Spanisch. Mourinho sagte mir: ‚Es ist wie ein Puzzle. Real hat ein Jahr zuvor Kaká verpflichtet, Cristiano geholt und auch Benzema. Und nun braucht es Spieler, die hart arbeiten.‘ Er brauchte vielleicht Spieler wie Özil, das Genie, und mich als Läufer und Stabilitätsfaktor und auch Di María. Unglaublich. Wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich Gänsehaut“, so Khedira.
Dass sich Mourinho 2013 bei Real verabschiedete und zum FC Chelsea ging, sei laut dem 77-fachen deutschen Nationalspieler aber die richtige Entscheidung gewesen. Khedira begründete: „Es gab am Ende, ich würde sagen, zu viele Egos in der Kabine. Wenn das Ego über den Spirit des Teams gestellt wird, bist du verloren. Vielleicht war es nach der intensiven Zeit aber auch normal. Ich glaube, dass die Spieler müde waren. In meiner dritten Saison sind wir gegen Borussia Dortmund aus der Champions League ausgeschieden und waren Zweiter oder Dritter in LaLiga. Die Leute hatten genug von all den Arten der Führungsspieler. Dann ist es manchmal besser, sich zu trennen. Ansonsten muss man sich umstellen, seinen Charakter oder seine Führungsmethoden ändern. Und Mourinho zu ändern, ist nicht einfach. Deshalb ist er gegangen und wir haben Ancelotti bekommen.“

„Die meisten Spieler waren froh, dass Mourinho gegangen ist“
Laut Khedira gebe es ein Gesetz im Fußball: „Du hast zwei, drei, maximal vier Jahre, wo du auf sehr hohem Niveau performen kannst, dann wechselst du den Coach oder den Manager. Oder du wechselst das Team. Du hörst nämlich jeden Tag dieselbe Stimme, dieselben Ansprachen, machst dasselbe Training – das wird langweilig. Du musst den Trainer oder die Spieler austauschen. Da geht es nicht um Persönliches, es ist die Wahrheit. Beispiele wie Sir Alex Ferguson oder Arsène Wenger sind etwas Außergewöhnliches.“
Und so kam es, dass Mourinho-Nachfolger Carlo Ancelotti Real Madrid 2014 den ersten Champions-League-Titel nach 2002 bescherte. Der Italiener, seit 2021 wieder Chefcoach der Königlichen, „ist einer dieser Trainer, bei dem du dir denkst, er ist immer sauer und zornig“, meinte Khedira, versicherte jedoch: „Wenn du aber mit ihm sprichst, wenn er in die Kabine kommt, ist er einer der nettesten Menschen überhaupt, die ich im Fußball kennengelernt habe. Die meisten Spieler waren froh, dass Mourinho gegangen ist, weil sie mehr Freiräume hatten und dadurch auch kreativer sein konnten. Ancelotti hat es perfekt gemacht. Er hat versucht, seine Idee dem Team zu vermitteln.“
„Ancelotti hat den Spielern zugehört“
Laut Khedira seien seine Teamkollegen und er anfangs zwar noch nicht bereit gewesen, doch Ancelotti habe gewartet: „Step by Step hat er uns seine Idee näher gebracht, aber hat den Spielern zugehört. Und wir hatten wirklich starke Spieler wie Cristiano, Sergio Ramos oder Xabi Alonso. Für Real Madrid zu spielen, ist das Größte, was du als Fußballer erreichen kannst. Aber es zählt auch zu den härtesten Sachen. Du hast vielleicht zehn Spiele, in denen du wirklich gut bist, und die Medien und Fans drehen durch. Wenn du dann aber ein oder zwei Spiele nicht abrufst, pfeifen sie und die Medien nehmen dich auseinander. Du musst stark bleiben. In dieser Saison hat sich Step by Step etwas besonderes entwickelt. Wir haben in der Kabine vom Spirit her gespürt, dass wir zusammenstehen müssen.“
Khedira riss sich allerdings im November 2013 das Kreuzband, verpasste somit den Großteil der Saison 2013/14 – und musste gar um die Weltmeisterschaft fürchten. Allerdings verlief die Reha nach Plan: „Ich sagte zu Carlo: ‚Wenn du mir vielleicht zwei Spiele vor der Weltmeisterschaft geben kannst…‘ Und da dachte ich nicht ans Champions-League-Finale. Doch er meinte: ‚Ja, natürlich. Aber du musst auch im Champions-League-Finale spielen, da Xabi Alonso gesperrt ist.‘ Ich sagte: ‚Carlo, komm schon. Ich bin vielleicht bei 60 bis 70 Prozent.‘ Aber er versicherte mir: ‚Ich brauche dich auf dem Platz.‘“
„Bin um 7 oder 8 Uhr heim, es war ein fantastischer Tag“
Dazu lieferte Khedira eine Anekdote: „Eine Woche vor dem Finale war ich nach dem Training in der Dusche. Cristiano kam rein und sagte: ‚Sami, wir brauchen dich.‘ Ich sagte: ‚Cristiano, ich bin vielleicht bei 60 bis 70 Prozent. Ich brauche mehr Zeit.‘ Er erwiderte: ‚Es gibt nicht mehr Zeit. Es geht um ein Champions-League-Finale. Mit 60 oder 70 Prozent bist du immer noch besser als all die anderen. Also wir brauchen dich. Wir brauchen deine Persönlichkeit.‘ Für mich hat es sich besonders angefühlt, von Cristiano, meinen Teamkollegen und Carlo dieses Vertrauen zu erhalten. Vor dem Spiel sagten sie mir: ‚Spiel die einfachen Bälle, lauf nicht zu viel und bleib auf deiner Position.‘ Für mich war es schön, auf dem Platz zu stehen. Es war nicht meine beste Performance, aber das konnte ich akzeptieren, da ich davor nur drei Wochen trainiert habe. Ich habe mein Bestes gegeben.“
Im Endspiel gegen Atlético (4:1 n. V.) hatten Khedira und seine Teamkollegen „immer das Gefühl, dass etwas passiert. Es war nicht vorbei, wenngleich die 92. Minute anbrach. Wir haben eine Ecke erhalten und ich dachte mir nur: ‚Oh, no.‘ Wir hatten Sergio Ramos, den kopfballstärksten Spieler, und das Stadion ging ab. Wir wussten, jetzt gehört der Titel uns. Danach haben wir mit Bale, Marcelo und Cristiano getroffen. Der Rest ist Geschichte. Als wir nach Madrid zurückgekommen sind, in der Nacht um 4 Uhr morgens, ging es an der Cibeles ab. Die Sonne ging bereits auf und wir waren schon so müde, aber dachten uns, egal, wir feiern jetzt mit unseren Fans. Ich bin um 7 oder 8 Uhr in der Früh heim, nach all den Feierlichkeiten – es war einfach ein fantastischer Tag. Ich habe gespielt, wir haben gewonnen und wir haben etwas sehr, sehr Besonderes für die Fans und den Klub erreicht“, schloss der 161-fache Real-Profi zu seinen Erfolgen beim spanischen Rekordmeister ab.
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