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Kommentar zu den „Pérez-Leaks“: Skandal oder Heuchelei?

Der Staub, der durch die Audio-Aufnahmen von Florentino Pérez (wieder) aufgewirbelt wurde, hat sich noch lange nicht gelegt, es kommen sogar neue Windstöße hinzu. Was soll man nun davon halten, was der Spanier vor teilweise 15 Jahren nach seinem Rücktritt bei Real Madrid sagte: Skandal oder Heuchelei, Wirbelsturm oder nur ein Furz? REAL TOTAL-Chefredakteur Nils Kern versucht die Causa in einem (unpopulären) Kommentar einzuordnen.

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Unschöne Worte? Ja. Skandal? Nils Kern sieht die Causa Pérez nicht ganz so wild

Erst Iker Casillas und Raúl González, jetzt Cristiano Ronaldo und José Mourinho. Mehr und mehr Aussagen von Florentino Pérez werden „geleakt“ – für viele ein Skandal. Zumindest für jene, die scheinbar noch mit dem Internet Explorer arbeiten, wo alles etwas später ankommt. Denn wirklich neu sind die Aussagen nicht, schon vor Jahren wurden solche Aussagen veröffentlicht. Nur hat das 2015 erschienene Buch „Asalto al Real Madrid“ (Angriff auf Real Madrid) von José Antonio Abellán und Berichte wie dieser vom 28. Mai 2015 damals noch nicht so viele interessiert wie heute.

Was hat sich geändert? Nachdem in den letzten Wochen wieder UEFA-Präsident Aleksander Čeferin die Rolle als Buhmann des Weltfußballs übernahm, so steht nun wieder Florentino Pérez im Fokus. Nicht ganz zu unrecht, und doch ist der Skandal in meinen Augen etwas aufgeblasen.

Wann gilt Verjährung? Was schon Theodor Fontanes „Effi Briest“ nicht beantworten konnte, wird auch in diesem Fall nicht geklärt. Muss es auch nicht: Denn was eigentlich passiert ist, ist: nichts. Einerseits kannten Casillas und Raúl die Aussagen bereits, andererseits sind diese Worte zwar „unschön“, aber auch nicht mehr. Kein Betrug, kein Fremdgehen, das ein Duell erfordert.

Ich kann die Wortwahl auch nicht sonderlich gut heißen, und doch gilt es einiges zu berücksichtigen: Im Frühjahr 2006 und Herbst 2006 war Pérez nicht mehr Präsident der Königlichen, aber auch die Königlichen waren damals nicht sonderlich königlich und befanden sich mitten in einer Zeit, als sie sechs Mal in Folge im Champions-League-Achtelfinale ausschieden. Die drei Meisterschaften vor Pérez‘ Rücktritt gingen nach Barcelona und Valencia, mit dem „Galáctico“-Projekt hatte es der primär offensiv denkende Pérez übertrieben, nachdem er den Verein sanierte und wichtige Grundsteine legte, wie den Bau des Trainingsgeländes. Man sollte jedoch nicht nur den Kontext, die Situation, in der sich ein schwaches Real und ein frustrierter Pérez mit leichtem Hang zur Abrechnung befanden, berücksichtigen, sondern auch die damaligen Spieler. Mussten sich speziell Führungsspieler wie Iker Casillas und Raúl González Kritik gefallen lassen? Nicht nur aufgrund des sportlichen Misserfolgs: claro que sí! Ob nun „Betrug“ oder „Schwindelei“, über die gewählten Worte lässt sich streiten, aber speziell Casillas wurde zum Ende seiner Real-Karriere nicht umsonst von vielen Madridistas „Topo“ genannt, der Maulwurf. Casillas‘ Trainingseifer war nie der größte. Unvergessen bleibt, als sogar Sergio Ramos sich einst über Casillas‘ (genannt „Melone“) ersten Besuch im Kraftraum wunderte. Alles alte Kamellen, wie das, was EL CONFIDENCIAL nun Abellán doch noch abgenommen hat, der laut Pérez „seit vielen Jahren erfolglos versucht, sie zu verkaufen.

Dass die Sätze „aus dem Gesamtzusammenhang gerissen wurden“, erklärte Pérez ebenso, skandalöser finde ich da eher: Private Gespräche heimlich aufzunehmen, ist schon fragwürdig, dürfte für das Schreiben eines Buchs wohl trauriger Usus sein. Aber die Audio-Aufnahmen dann noch zu veröffentlichen? 15 Jahre später? Moralisch fraglich, das heißt es sogar aus der größten Populismus-Sendung EL CHIRINGUITO: Reals Torhüterlegende Paco Buyo sagte unter anderem, dass das Veröffentlichen „unmoralisch“ sei: „Es handelt sich um ein privates Gespräch von vor einigen Jahren und es ist nicht angebracht, es zu veröffentlichen.“ In der berühmten TV-Show sei das laut ihm undenkbar: „Nein, bei ‚El Chiringuito‘ respektieren wir die Privatsphäre, das würde nie passieren. Ich würde so etwas nie ans Licht bringen oder Teil von etwas sein, das so etwas ans Licht bringen würde.“

Mal ehrlich, welche Person mit Reichweite äußert sich öffentlich 1:1 so wie privat? Dass ich als kleines Licht privat mal mehr über Spieler oder auch Kollegen schimpfe, als vor einem Mikrofon, ist eigentlich irrelevant. Aber muss man als Präsident von Real Madrid da 24 Stunden vorsichtiger sein? Möglicherweise, aber 2006 war nicht nur eine Zeit ohne Smartphone-Invasion, Pérez war damals nunmal nicht im Amt, und konnte zum damaligen Zeitpunkt nicht wissen, dass er 2009 nach Ramón Calderóns Verschuldung wieder übernehmen würde. Und diese im Vertrauen geäußerten Aussagen weitere sechs Jahre später in einem Buch stehen würden, was die Menschheit wiederum erst weitere sechs Jahre später so richtig interessiert.

Der Skandal wird in meinen Augen größer gemacht, als er ist. Kritik war damals angebracht, Beleidigungen nie – CR7 beispielsweise ist alles andere als normal, aber gewiss kein „imbecil“ (Idiot) oder „enfermo“ (Kranker). Auch Mourinho kann nicht als schuldfreier Charakter hinsichtlich getätigter Interviews oder Steuererklärungen bezeichnet werden, hat aber wie Ronaldo eine derartige Beleidigung nicht verdient. Diese Aussagen aus Oktober 2012 standen nochmal in einem anderen Kontext (Pérez wieder Präsident, Meister Real nur auf Platz fünf), und trotzdem sind all diese unschönen Worte keine Staatsaffäre, kein Verbrechen, kein Rassismus oder sonstiges Diskriminierendes. Trumps „Grab ’em by the pussy“ hat in meinen Augen eine viel größere Bedeutung, „musste“ veröffentlicht werden. Aber Pérez hat weder illegale Vertragsdetails ausgeplaudert, noch wurde eine Verschwörung oder sonstiger Watergate-Skandal aufgedeckt. Eine Privatperson hat lediglich im Vertrauen über Personen hergezogen, die in der breiten Öffentlichkeit in einem sehr guten Licht standen und noch immer stehen.

Was wird jetzt passieren? Nichts. Es handelt sich um längst verjährte (und teilweise bereits bekannte), aus dem Kontext gerissene und privat getätigte Aussagen, keine Staats- oder Rassismus-Affäre wie zuletzt bei Griezmann und Dembélé. Im Endeffekt handelte es sich bei dieser Pérez-Causa nur um einen maximal ehrlichen Blick in die maximal heuchlerische Parallelwelt Profifußball: Wer glaubt, dass Funktionäre, Spieler und andere mächtige Personen sich im wahren Leben so verhalten, wie sie vor Kameras miteinander kuscheln, der scheint wirklich zu denken, der Internet Explorer sei der beste Browser.

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von
REAL TOTAL

Hier schreibt die Redaktion von REAL TOTAL, dem führenden Magazin über Real Madrid im deutschsprachigen Raum.

Kommentare
Perfekter Kommentar . Ich kann die Worte des Präsi teiweise gut nachvollziehen
 
Perez ist nicht länger tragbar
 

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