
Carabo-Cup-Sieg, FA-Cup-Triumph – und dazu fast noch die Last-Minute-Meisterschaft: Die Saison 2021/22 hätte für den FC Liverpool kaum besser verlaufen können. Am Samstag könnte das Team von Jürgen Klopp der Ausnahmesaison mit einem Triumph im Champions-League-Finale gegen Real Madrid die Krone aufsetzten. REAL TOTAL erklärt, worauf sich die Königlichen gefasst machen müssen – zeigt aber auch auf, wo der LFC verwundbar ist.
Die Stärken des LFC
Taktische Variabilität, die ihresgleichen sucht
In einer 4-3-3-Grundordnung agierend, gibt es dieser Tage wohl kaum eine Mannschaft, die in taktischer Hinsicht so variabel daherkommt wie der FC Liverpool. Je nach eigenem Personal, Gegner und (Spiel-)Situation hat sich das Team von Jürgen Klopp in den vergangenen Jahren ein schier unerschöpfliches taktisches Repertoire erarbeitet.
Eine Säule des Erfolgs stellt dabei das Überladen des Mittelfelds dar: Ob mit einem Mané oder Firmino als „falsche Neun“ (Diamond Shape) oder eingerückten Außenverteidigern – der LFC versteht es immer wieder, situativ und dennoch systematisch Überzahlsituationen im Mittelfeld zu kreieren. Die Ballsicherheit der einzelnen Spieler sowie die gezielt kreierten Überzahlsituationen erlaubt Liverpool einen enorm stabilen Ballbesitz. So lag der durchschnittliche Ballbesitz in der gerade beendeten Premier-League-Spielzeit bei 63,3 Prozent. Nur Manchester City (68,4 Prozent) hatte das Leder noch länger in den eigenen Reihen.

Durch viele gute Laufwege (sowohl in die Tiefe als auch aus der Tiefe) in der vordersten Reihe sowie ein optimales Einlaufverhalten in die Box kann Liverpool inzwischen weitaus besser aus stabilen Ballbesitzphasen Torgefahr kreieren als noch vor einigen Jahren. Zwar sind Umschaltmomente aufgrund der immensen Pace der Offensivreihe sowie der Außenverteidiger Trent Alexander-Arnold und Andrew Robertson noch immer von großer Bedeutung im Liverpooler Spiel, die Werkzeuge im Spiel mit Ball sind inzwischen jedoch so vielseitig, dass die Klopp-Elf im Prinzip gegen jeden Gegner Lösungen findet – das kann auch (gerne) einmal der lange Diagonalball auf den ins Zentrum kreuzenden Außenspieler sein.
TAA und Robertson als „versteckte Spielmacher“
Hinzu kommt, dass die „Reds“ mit dem Duo Alexander-Arnold/Robertson derzeit wohl über das beste Außenverteidiger-Gespann der Welt verfügen. Unfassbare 34 Torvorlagen haben TAA (19 Assists) und Robertson (15) wettbewerbsübergreifend bislang geliefert. Egal, ob sie den Ball aus eingerückter Position in die Tiefe spielen, eine punktgenaue Halbfeldflanke mit Zug hinter die Abwehrkette schlagen oder durch gezieltes Überlaufen Räume in der Tiefe attackieren, um das Leder dann von der Grundlinie zurückzulegen – es vergeht selten ein Spiel, in dem nicht zumindest einer der beiden Außenverteidiger direkt oder als Kombinationsspieler an einem Tor beteiligt ist.

Darüber hinaus spielen sowohl Linksfuß Robertson als auch Rechtsfuß Alexander-Arnold hervorragende Standards. Real-Coach Carlo Ancelotti muss sich also überlegen, wie er dem Duo seine Gefahr nehmen will.
Comeback der Pressingmaschine – Van Dijk sei Dank
Im Spiel gegen den Ball ist das (situative) Offensivpressing der Grund dafür, dass der 19-fache englische Meister oftmals hohe Ballgewinne generiert und daher tendenziell wenig Gegentore schluckt. Ein entscheidender Faktor ist an dieser Stelle auch Virgil van Dijk. So gibt der unumstrittene Abwehrchef seinen Mitspielern derartig viel Sicherheit, dass diese sich trauen, ohne zu zweifeln ein hohes Pressing zu spielen. Das Vertrauen darin, dass van Dijk und dessen Nebenmann (oftmals Matip oder Konaté) im Verbund mit Fabinho eine derartig gute Restverteidigung spielen, dass ein Überspielen des Liverpooler Pressings nicht gleichbedeutend für eine Top-Chance des Gegners ist.

So ist der 30-jährige Niederländer aufgrund seiner Physis und seines Tempos dazu in der Lage, Eins-gegen-Eins-Duelle gegen nahezu jeden Angreifer der Welt konstant für sich zu entscheiden. Mit diesem Bewusstsein spielt der LFC sein Pressing in der aktuellen Saison wieder wesentlich konsequenter als noch in der Vorsaison. Das äußert sich auch in den Statistiken der vergangenen Premier-League-Spielzeit: So kassierten die „Reds“ in 38 Spielen gerade einmal 26 Gegentore (0,68 Gegentore pro Spiel) bei 94 (!) geschossenen Toren. Das sind deutlich bessere Zahlen als in der Vorsaison (68:42), in der Klopp viele Monate auf seinen Abwehrchef verzichten musste.

Was das Pressing selbst betrifft, so spielt der englische Traditionsklub in vorderster Reihe gerne ein Mann-gegen-Mann-Pressing – in erster Linie mit der Intention, einen (unkontrollierten) langen Ball zu provozieren. Die enorme physische Präsenz im Mittelfeld (Fabinho, Henderson) und in der Abwehr (Van Dijk, Konaté, Matip) ist der Schlüssel dafür, dass der Ball zumeist kurze Zeit später gewonnen wird. Aber auch ein gezieltes Lenken sowie das perfektionierte Gegenpressing gehören zum Repertoire der „Reds“.
Mehr als die „Fab Three“
Dass der Verein aus der englischen Hafenstadt deutlich schwieriger auszurechnen ist – speziell im Vergleich zum Finale 2018 –, liegt auch daran, dass die „Reds“ inzwischen mehr als die „Fab Three“ Salah, Mané und Firminio sind. Zwar lesen sich vor allem Salahs (31 Tore, 16 Vorlagen in 50 Spielen) und Manés Zahlen (23-5 aus 50) außerordentlich gut (Firminio schwächelte mit 11-5 ein wenig). Mit Diogo Jota (21-8 aus 58) und Luis Díaz (6-5 aus 25) sowie Takumi Minamino (10-1) und Divock Origi (6-4) scheint das Offensivpotenzial des LFC in dieser Spielzeit fast unerschöpflich.

Dass die Balance im Mittelfeld mit Feingeist Thiago, der endlich in Liverpool angekommen scheint, Zweikämpfer Fabinho und Kapitän Jordan Henderson besser kaum sein könnte, dürfte Ancelotti und Co. Kopfzerbrechen bereiten.
So ist Liverpool zu knacken
Nichtsdestotrotz haben verschiedene Mannschaften in dieser Spielzeit bereits aufgezeigt, mit welchen Mitteln die Klopp-Elf schlagbar ist. Eines der aktuellsten Beispiele ist das 1:1-Remis der Tottenham Hotspur – und das an der Anfield Road. Spurs-Coach Antonio Conte entschied sich, mit einer Dreierkette zu eröffnen und nach Möglichkeit einen Außenverteidiger freizuspielen. Da Liverpool in vielen Situationen im Mann-gegen-Mann-Pressing anlief und die Spurs-Außenverteidiger ihre Pendants banden, ergaben sich Räume in der Tiefe.

Die Situationen führten zu partieller Gleich- oder sogar Überzahl, wenn Tottenham die erste Reihe erfolgreich überspielte und dann schnell in Tiefe vorstieß. Für ähnliche Aktionen könnten Carvajal, Valverde oder Vinícius sorgen – je nachdem, wie Ancelotti aufstellt und welche Spielaufbau- und Übergangsspielmuster er wählt.

Gut denkbar aber auch, dass Ancelotti sich eher ein Vorbild an Pep Guardiolas Manchester City nimmt. Im Ligaduell wählten die „Skyblues“ einen eher traditionellen Zweieraufbau mit hochgeschobenen Außenverteidigern. Indem (zumeist) Foden einrückte (analog könnte diese Rolle Valverde zukommen), generierte City eine Überladung des Zentrums und verhinderte zudem ein Mann-gegen-Mann-Pressing, da Liverpools Außenspieler nun Passwege in die Tiefe schließen sowie die Gefahr der gegnerischen Außenverteidiger eindämmen mussten. Da Mané und Salah jedoch selten über 90 Minuten ihre Defensivaufgaben ausfüllen, eröffnen solche Statiken Chancen.
Fazit
Ein nüchterner Blick auf die taktische Variabilität mag den Rückschluss zulassen, dass der FC Liverpool in taktischer Hinsicht klar im Vorteil ist. Real Madrid hat in der laufenden Saison allerdings nicht nur ein Mal bewiesen, dass der Mythos und die Magie dieses nicht in Worte zu fassenden Vereins sowie das schiere Überstreifen des weißen Trikots Kräfte freisetzt, die ebenfalls nicht begreifbar sind. Herz, Leidenschaft, Hingabe und die Leidens-Fähigkeit auch schwierige Druckphasen des Gegners auszuhalten können (und werden) kleinere taktische Defizite ausgleichen.
Außerdem verfügt Real Madrid mit Vinícius, Rodrygo und Benzema über immens scharfe Waffen – und hat mit Fede Valverde und Eduardo Camavinga zudem zwei Spieler in seinen Reihen, die die Statik eines Spiels (vor allem in der Schlussphase) entscheidend verändern können. Respekt vor Liverpool? Klar. Wird Real Madrid sich am Ende dennoch die Krone aufsetzen? Davon bin ich überzeugt!
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