
„Benítez versteht es, seinem Team eine Identität zu geben“
MADRID. Fast zehn Jahre ist der Abschied Arrigo Sacchis von Real Madrid nun schon her. Von Dezember 2004 bis zum Ende des Jahres 2005 fungierte der Italiener als Sportdirektor bei den Königlichen und zog sich im Anschluss aus dem aktiven Geschäft der Fußballbranche zurück. Der Einfluss des charismatischen Glatzkopfes, der Ende der 80-er Jahre mit dem AC Mailand eine wahrliche Taktikrevolution in Form eines für italienische Verhältnisse eher ungewöhnlichen Offensivfußballs startete, auf den Sport ist bis heute spürbar – auch beim spanischen Rekordmeister.
Ein gewisser Rafael Benítez hospitierte nämlich damals, zusammen mit einer Vielzahl anderer heutiger Top-Coaches, bei der Trainer-Ikone, auf der Suche nach neuen Impulsen. Sacchi selbst kann sich daran jedoch nicht mehr bewusst erinnern: „Ich kann ihnen sagen, dass wir uns vor Kurzem getroffen haben, er mir dieses Detail verriet und ich zugeben musste, dass ich mich nicht erinnere. Ich habe nur im Gedächtnis, dass in dieser Epoche – sowohl bei Milan als auch in der italienischen Nationalmannschaft – viele Trainer kamen, um meine Arbeit zu sehen. (Jürgen) Klopp, (Arsène) Wenger, Luis Fernández…“
Der Respekt und die Anerkennung, welche er dem Übungsleiter entgegenbringt, ist jedoch insgesamt enorm. Auch wenn der gebürtige Madrilene bei seinen vorangegangenen Station bei Inter Mailand und Neapel nicht die großen Erfolge vorweisen konnte, gehöre er zweifelsohne zu den Besten seiner Zunft. Besonders dessen Wandlungsfähigkeit und Akribie sei bemerkenswert: „Wir alle verändern uns mit der Zeit. Der Fußball ist nicht statisch. Stillstand bedeutet Rückschritt. Mich fasziniert sein Arbeitsvermögen, das er besitzt. Er versteht es, seinen Teams eine klare Identität zu geben. Bei Inter war es sehr kompliziert. Das Team hatte mit (José) Mourinho alles gewonnen. Er kam in einem sehr speziellen Moment. Später, bei Neapel, hatte er es auch nicht leicht, weil das keine Stadt ist, die eine Siegermentalität besitzt. Dieses Team hat niemals etwas wirklich Bedeutendes gewonnen. Man bedenke nur einmal, dass (Diego Armando) Maradonna, der beste Spieler, den ich je auf dem Feld gesehen habe, nicht einen Europapokal hier in die Höhe recken konnte. In solch einem Umfeld zu arbeiten, ist schwierig. Aber meiner Ansicht nach spielten Rafas Teams immer einen positiven Fußball.“
[advert]
Aber was genau ist denn unter „positivem Fußball“ zu verstehen? „Schöner Fußball, von Erfolg gekrönt. Er hatte sogar bei Vereinen Erfolg, die – so sagen wir mal – nicht sehr groß waren. Das verdient Anerkennung“, so der 69-Jährige bestimmt. Die Bezeichnung, dass sowohl er damals als auch Benítez heite geradezu wie „verrückt“ arbeiten, wollte er so nicht stehen lassen. Das Wort sei in diesem Zusammenhang schlichtweg unangebracht: „Das ist nicht verrückt. Es geht darum, methodisch zu sein. Ein Arbeitsverrückter oder jemand, der hart arbeitet, ist derjenige, der morgens um vier aufsteht, um die Bäckerei aufzuschließen, oder bis um zehn Uhr abends auf dem Feld beziehungsweise in der Fabrik arbeitet. Ich denke nicht, dass unsere Arbeit derart hart ist.“
„Als Trainer bei Real musst du ein Chamäleon sein“
Nach der letztjährigen Saison ohne großen Titelgewinn ist der Druck auf die Blancos und Benítez im Besonderen enorm. Dass die vergangenen Jahre, gemessen an den Ansprüchen, ingesamt eher weniger erfolgreich waren, liegt für Sacchi in der Kaderstruktur begründet: „Schauen sie mal, Real hat eine Menge guter Spieler. Das Schwierige ist, sie dazu zu bringen, zusammen zu spielen, dass das Kollektiv funktioniert. Das ist das Problem. Letztens habe ich in der Gazzetta dello Sport einen Artikel gelesen, der besagte, dass von 2009 bis heute Barcelona, Atlético und Sevilla mehr Titel gewonnen haben als Real Madrid.“
Eine wirkliche Ursache vermochte der Italiener zwar nicht auszumachen, einen (plausiblen) Erklärungsansatz hatte er dennoch parat. Dabei war in gewisser Weise auch latente Kritik an Florentino Pérez heruaszuhören: „Ich weiß es nicht. Weil die Spieler, die Real besitzt, sind mit Sicherheit gut. Ich denke, dass Florentino immer die besten und berühmtesten Spieler holt. Dennoch gewinnt er nicht allzu viel. Eine Mannschaft wie Barcelona hat eine andere Biographie als Real. Unter (Pep) Guardiola waren acht der elf Spieler seiner Startelf Spieler aus der Jugend, die nichts als das Spiel kannten… Ich sage, dass das Spiel eine abstrakte Realität ist, aber sie haben das Konzept seit ihrer Kindheit aufgesogen. Sie haben eine Nachwuchschule, die mit einem System arbeitet, das sie später in der ersten Mannschaft finden werden. Sie haben das Spiel an die Spitze des Projekts gesetzt. Nun gut, ich will nicht sagen, dass Florentino sich anpasst, aber in Wirklichkeit verpflichtet er die besten Spieler der Welt, weil es die Anhängerschaft verlangt.“
Madrid sei schlichtweg in jeglicher Hinsicht eine Herausforderung für einen Trainer. Es gelte, das richtige Maß zwischen charakterlichen und sportlichen Bewertungskriterien zu finden: „Um Madrid zu trainieren, muss man ein großes Maß an Anpassungsfähigkeit besitzen, man muss ein Chamäleon sein. Weil du Spieler zur Hand hast, die nicht immer wie die anderen sind. Ancelotti ist der Beste unter diesen Bedingungen. Ich denke, dass es sein könnte, dass sich Guardiola nicht gut in Madrid zurechtfindet. Andererseits sage ich, dass er es könnte. Es ist nicht genug, die Spieler Reals anhand von charakterlichen und menschlichen Eigenschaften zusammenzustellen, sondern auch in Bezug auf das Spiel. Als ich hier war, war der psychologische Aspekt der Spieler sehr wichtig.“
„Über allem steht der Klub“
Und wie sieht Sacchi die bisherige Situation unter Benítez? Hat sich der Spielstil im Vergleich zu Vorgänger Ancelotti gravierend verändert? Für eine Prognose sei der Zeitpunkt noch deutlich zu früh, so der ehemalige Trainer der „Squadra Azurra“, zumal es in diesem Zusammenhang vor allem zwischen „System“ und „Spielausrichtung“ zu unterscheiden gelte: „Das kann ich ihnen anhand einer Partie, die ich gesehen habe, nicht sagen. Das Wichtige ist nicht das System, sondern das Spiel. Du kannst ein 4-3-3 oder ein 4-2-3-1 aufstellen, aber der Schlüssel liegt bei den Spielern, in der Harmonie. Oder warum hat Sevilla mehr Titel gewonnen als Real seit Florentino zurückgekehrt ist?“
Liegt es an der mangelnden Harmone? Möglicherweise: „Ich weiß es nicht… Wenn Florentino wirklich die Besten verpflichtet, was fehlt dann? In meinem Buch sage ich, dass über allem der Klub steht. Das gilt besonders für Real, weil es der größte Klub ist. Danach kommt die Strategie, die Notwendigkeit, einen Traum zu erfüllen. Das gibt es bei Real ebenfalls. Und an dritter Stelle stehen die Ziele, die du erreichen willst und die Spieler, die du dafür verpflichten musst für das Spiel, das der Trainer im Kopf hat. Ich sehe den Trainer immer als eine Art Kinodirektor oder Orchester-Dirigent. Das Wichtigste sind nicht die Schauspieler.“
Ob Pérez auf den Trainer hört? „Würde ich nicht sagen“
Überhaupt ist die Personalie Pérez eine, an der sich die Geister scheiden. Oftmals scheint es, als verpflichte der Präsident eher nach Marktwert als nach sportlichen Gesichtspunkten. Ob das Vereinsoberhaupt jedoch immer auf den Trainer hört? „Die Kommunikation ist wichtig, aber ich würde das nicht sagen…“, so Sacchi vielsagend, den die Demission Ancelottis zum Ende der vergangenen Spielzeit keineswegs überraschte: „Nein, weil ich mit Florentino vor dem Ausscheiden gegen Juventus sprach und er war nicht komplett zufrieden.“ Über die genauen Ursachen der Entlassung wusste er jedoch auch keine Auskunft zu geben: „Das müssen sie ihn fragen. Wir waren nur fünf Minuten zusammen… Aber ich denke, dass Benítez ebenso ein optimaler Trainer für Madrid ist, das zuletzt sehr gute Trainer hatte. Jeder auf einer andere Art, aber mit Qualität.“
Und wie sieht es die Trainer-Ikone um die Zukunft der Merengues bestellt? Besteht eine realistische Chance, wieder an die Spitze Europas zu gelangen? Auch hier fällt die Antwort eher zurückhaltend aus: „Das Leidvolle ist, dass es in jedem Moment nur ein Team an der Spitze gibt. Real erreichte unter (Emilio) Butragueño und der Quinta den Gipfel und duellierte sich mit Milan. Und man verlor die Möglichkeit, der Beste zu sein. Nun duelliert man sich mit Barcelona… Aber schauen sie, sowohl jenes Milan als auch dieses Barcelona haben dem Spiel höchste Priorität eingeräumt.“
Der Faktor, mit dem der Erfolg eines Spitzenteams steht und fällt beziehungsweise den Unterschied ausmacht, ist also die Harmonie? „Genau so ist es. Ich denke, als ich Milan übernahm, war niemand der Startelf unter den zehn Besten für den Ballon d’Or. Und mit mir waren da (Marco) Van Basten, (Ruud) Gullit, (Franco) Baresi, (Paolo) Maldini, (Frank) Rijkaard…“
Folge REAL TOTAL auch auf Facebook, Twitter, Google+ und Instagram
Community-Beiträge